Keine Abstriche bei der Lehre, aber Verkündigung „in neuer Sprache“

22. August 2019 in Interview


Kirchengeschichtler Jörg Ernesti: Leo XIII. hatte Vision, in der er Satan sagen hörte, er wolle die Kirche Gottes zerstören, daraufhin verfasste er „Gebet zum Erzengel Michael, das er auch ins Messbuch aufnehmen lieߓ. Interview von Martin Bürger


Augsburg-Brixen (kath.net) „Leo XIII. hatte am 13. Oktober 1884 bei der Hl. Messe eine Vision, in der er den Satan sagen hörte, er wolle die Kirche Gottes zerstören. Der Papst zog sich nach der Messe sofort in sein Arbeitszimmer zurück und verfasste ein Gebet zum Erzengel Michael, das er später auch in das Messbuch aufnehmen ließ. Dieses Gebet ist vor dem Hintergrund der damaligen Zeit zu verstehen, als antiklerikale Kräfte in Frankreich, Italien und vielen anderen Ländern der Kirche massiv schaden wollten. Diese Bedrohungen wurden geradezu als apokalyptisch erlebt. Auch Pius XII. hatte übrigens am Altar eine Vision. Paul VI. und Johannes Paul II. hatten ihrerseits ein sehr unmittelbares, direktes Gottesverhältnis, wie persönliche Zeugnisse zeigen. Diese Päpste waren sicherlich ähnlich nüchterne Männer wie Leo XIII.“ Ein Gespräch über Papst Leo XIII. mit dem Kirchengeschichtler Prof. Jörg Ernesti, der an der Universität Augsburg sowie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen lehrt. Ernesti hat jüngst das Buch „Leo XIII. – Papst und Staatsmann“ beim Herder-Verlag veröffentlicht.

Martin Bürger: In Ihrem Buch über Papst Leo XIII. gehen Sie immer wieder auf die sogenannten Jahresmedaillen ein. Worum handelt es sich dabei, und warum sind diese Medaillen interessant, wenn man eine Papstbiografie schreibt?

Jörg Ernesti: Seit 400 Jahren geben die Päpste jedes Jahr eine Medaille aus, nicht als Währung, sondern als Erinnerungsstück. Auf den Rückseiten ist jeweils ein besonderes Ereignis des vergangenen Jahres dargestellt: ein neues Bauwerk, ein Konzil, eine siegreiche Schlacht o. ä. Gerade diese Rückseitenmotive sind sehr aufschlussreich, da sie gewissermaßen die päpstliche Sicht der Dinge darstellen und insofern ein Stück „Propaganda“ im besten Sinne sind.

Martin Bürger: Gerade zu Beginn seiner kirchlichen Laufbahn betont der spätere Papst, dass gewisse Dinge für seine Karriere förderlich seien. Ist es aber angemessen zu sagen, dass Gioacchino Pecci auf seinen eigenen Vorteil bedacht war? Wie passt sein Streben nach einer guten Karriere mit seiner ungeheuchelten und aufrechten Frömmigkeit zusammen?

Jörg Ernesti: Der spätere Papst war zwar adlig, stammte aber aus bescheidenen Verhältnissen. Im alten Kirchenstaat, der einen guten Teil Mittelitaliens umfasste, konnte man quasi nur im Dienst der Kirche Karriere machen. Nach den erhaltenen zeitgenössischen Zeugnissen habe ich aber nicht den geringsten Zweifel, dass er den Weg zum Priestertum bewusst und entschieden gegangen ist. Drei Jahrzehnte lang war er ein umsichtiger und kluger Bischof. Besonders wichtig war ihm die Ausbildung der Seminaristen. Für sie hat er eine kleine spirituelle Schrift über ein „Leben in Demut“ verfasst, die erkennbar den Geist des heiligen Franziskus atmet.

Martin Bürger: Sie sprechen im Buch einige Male davon, dass Leo XIII. im Ton „konzilianter“ war als sein unmittelbarer Vorgänger, Papst Pius IX. Ist es nur ein anderer Ton, oder kann man signifikante inhaltliche Unterschiede zwischen den beiden Päpsten ausmachen?

Jörg Ernesti: Beide Päpste haben ja gemeinsam, dass sie angesichts der Herausforderungen ihrer Zeit ihre Aufgabe als Lehrer der Gesamtkirche sehr ernst nahmen. Pius tat das etwa, indem er das das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis verkündete oder sich für die päpstliche Unfehlbarkeit stark machte. Leo wählte in dieser Hinsicht vor allem das Medium der Enzyklika (er veröffentlichte insgesamt 86 Enzykliken), von denen besonders diejenigen zu gesellschaftspolitischen Fragen wegweisend waren. Ich denke, Leo XIII. hat bei der Lehre der Kirche keine Abstriche machen, diese aber zugleich den Menschen seiner Zeit in neuer Sprache verkünden wollen.

Martin Bürger: Am Ende des Buches urteilen Sie: „Ungewöhnlich für einen so aufgeklärten Mann wie ihn ist der Bericht über eine Vision, bei der ihm der Teufel erschienen sein soll.“ Wovon ist hier die Rede, und ist eine Vision bei Leo XIII. gerade wegen seiner Aufgeklärtheit nicht ernstzunehmender als bei einem „Schwärmer“?

Jörg Ernesti: Ja, Leo XIII. hatte am 13. Oktober 1884 bei der Hl. Messe eine Vision, in der er den Satan sagen hörte, er wolle die Kirche Gottes zerstören. Der Papst zog sich nach der Messe sofort in sein Arbeitszimmer zurück und verfasste ein Gebet zum Erzengel Michael, das er später auch in das Messbuch aufnehmen ließ. Dieses Gebet ist vor dem Hintergrund der damaligen Zeit zu verstehen, als antiklerikale Kräfte in Frankreich, Italien und vielen anderen Ländern der Kirche massiv schaden wollten. Diese Bedrohungen wurden geradezu als apokalyptisch erlebt. Auch Pius XII. hatte übrigens am Altar eine Vision. Paul VI. und Johannes Paul II. hatten ihrerseits ein sehr unmittelbares, direktes Gottesverhältnis, wie persönliche Zeugnisse zeigen. Diese Päpste waren sicherlich ähnlich nüchterne Männer wie Leo XIII.

Martin Bürger: „Leo XIII. schlägt den Zeitgenossen den Thomismus als gemeinsame Gesprächsbasis vor. Dabei ist er durchaus optimistisch, dass der Riss zwischen moderner Gesellschaft und Kirche geheilt werden kann, zum Wohl der Zivilisation als solcher.“ Kann man aus heutiger Sicht sagen, dass die Zielsetzung des Papstes erreicht wurde, oder ist zumindest seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Thomismus nicht sehr in Vergessenheit geraten?

Jörg Ernesti: Die Theologie und Philosophie des heiligen Thomas von Aquin zur Leitdisziplin Kirche zu machen, war damals durchaus als modernes Projekt gedacht. Der Papst war überzeugt, dass der Thomismus eine angemessene Basis für den Dialog mit der zeitgenössischen Kultur darstelle und dass sich so das akademische Niveau in der ganzen Theologie geben lasse. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil war die sogenannte Neuscholastik überall prägend. Seitdem hat sich die Theologie regional und kontextgebunden aufgefächert, und Thomas von Aquin spielt keine zentrale Rolle mehr. Man mag das bedauern, aber es ist nun einmal so.

Martin Bürger: Papst Leo ist für immer mit der modernen katholischen Soziallehre verbunden. Gibt es einen bleibenden Einfluss auf uns heute, der darüber hinausgeht?

Jörg Ernesti: Durch Leo XIII. wurden die zentralen Prinzipien der katholischen Soziallehre formuliert: die allgemeine Verpflichtung auf das Gemeinwohl, die solidarische (statt klassenkämpferische) Lösung sozialer Probleme, die Subsidiarität. Bei den Gründungsvätern und -müttern der Bundesrepublik Deutschland (und ähnlich in Österreich) waren solche Vorstellungen ja sehr präsent. Ohne dass sich die Menschen noch dessen bewusst sind, wirken sie in unserer Gesellschaft bis heute nach.

Martin Bürger: Nun wurden in den letzten Jahren viele Päpste heiliggesprochen. Gibt es auch bei Leo XIII. entsprechende Bestrebungen?

Jörg Ernesti: Nein, leider nicht. Ihn hat sicher eine profunde Spiritualität ausgezeichnet. Zugleich war er überzeugt, dass man den Dialog mit der modernen Zivilisation suchen muss, um die Menschen seiner Zeit zu erreichen. Das beides ist schon sehr überzeugend. Man muss aber nicht alle Päpste heiligsprechen: Ein heiligmäßiges Leben sollte man ohnehin von jedem Papst erwarten.

Martin Bürger: Sie haben sich bislang in drei Biografien (Leo XIII., Paul VI., Benedikt XV.) mit der Papstgeschichte beschäftigt. Was macht die Faszination der Papstgeschichte aus?

Jörg Ernesti: Um die Papstgeschichte war es ja lange still geworden. Nach dem letzten Konzil standen andere Fragen im Vordergrund. Nach meiner Beobachtung hat das Interesse an Päpsten und Papsttum seit den späten Jahren Johannes Pauls II. wieder deutlich zugenommen. Mich faszinieren die verschiedenen Dimensionen, die in diesem Amt zusammenkommen: der Papst ist ja zugleich oberster Lehrer und Hirte der Kirche, er ist Oberhaupt eines kleinen Staates und wird seit gut einem Jahrhundert auch als universale moralische Stimme, gewissermaßen als eine Art „Weltgewissen“ wahrgenommen. Mich interessiert auch die Persönlichkeit der verschiedenen Päpste: wie haben Sie auf ihre Art dem Amt einen Stempel aufgedrückt?

Martin Bürger: Es ist an einer Stelle bei Ihnen zu lesen: „Man sucht vergeblich nach deutschsprachigen, wissenschaftlich fundierten und zugleich ausgewogenen Biographien der drei Pius-Päpste und Johannes’ XXIII.“ Ist das schon die leise Andeutung eines neuen Buches?

Jörg Ernesti: Die Aufgabe ist für einen einzelnen Forscher sicher zu groß … Als nächstes erscheint erst einmal ein Band über die Papstmedaillen, in dem diese aus kirchengeschichtlicher Sicht ausgewertet und als neue Quelle in den Blick genommen werden.

kath.net-Buchtipp
Leo XIII.
Papst und Staatsmann
Von Jörg Ernesti
Hardcover
480 Seiten; 90 Abb.
2019 Herder, Freiburg
ISBN 978-3-451-38460-8
Preis Österreich: 39.10 EUR

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