„Politik der frühen Kindheit“?

1. Mai 2019 in Schweiz


Mit Slogans, die Kind in Mittelpunkt zu stellen scheinen, werden primär wirtschaftliche, ideologische Interessen vorangebracht, auf Kosten des Kindswohls und der volkswirtschaftlichen Nachhaltigkeit. Gastbeitrag von Dominik Lusser/Stiftung Zukunft CH


Winterthur (kath.net/Stiftung Zukunft CH) Kinder sind das Humankapital von morgen. In sie zu investieren, ist darum von zentraler Wichtigkeit für jede Volkswirtschaft. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, was Kinder, je nach Alter, wirklich brauchen, um zu gegebener Zeit ihr Potential zu entfalten. Und diesbezüglich scheinen monetäre und ideologische Motive bisweilen den Blick zu trüben, wie eine neue Broschüre der Schweizerischen UNESCO-Kommission zeigt.

Entwicklungsland Schweiz

Die öffentlichen Ausgaben für Kitas, Spielgruppen und Tagesfamilien würden in der Schweiz nur rund 0,1 Prozent des BIP ausmachen, kritisierte 2016 die im Bereich frühkindliche Bildung engagierte Zürcher Jacobs Foundation in einem „Whitepaper zu den Kosten und Nutzen einer Politik der frühen Kindheit“. Im Durchschnitt der OECD-Länder liege der Ausgabenanteil für den Frühbereich (0-3 Jahre) dreimal so hoch. Die NZZ ging 2017 sogar soweit, die Schweiz im Bereich frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) als Entwicklungsland zu bezeichnen. Nun hat die UNESCO-Kommission am 26. Februar 2019 bei einer Veranstaltung im Berner Kursaal die Publikation „Für eine Politik der frühen Kindheit“ lanciert, um das Thema politisch und gesellschaftlich weiter voranzubringen.

Doch worum geht es beim Konzept der FBBE eigentlich? Die Politik der frühen Kindheit helfe „Familie und Beruf besser zu vereinbaren“ und sorge „für gerechte Chancen beim Eintritt in den Kindergarten“, schreibt die UNESCO-Kommission. Durch die Schaffung von Angeboten „hoher Qualität“ würde den Bedürfnissen sowohl von Kindern wie auch von deren Bezugspersonen entsprochen. Dabei geht die Kommission davon aus, dass „Kinder ab Geburt“ nicht nur auf die liebevolle Umgebung angewiesen sind, die ihnen die Familie gewährt. Um gut aufwachsen zu können bräuchten Kinder – und zwar explizit nicht nur solche aus schwierigen Verhältnissen – „die Unterstützung und Förderung durch die Öffentlichkeit“, welche repräsentiert werde „durch private zivilgesellschaftliche Organisationen, aber vor allem auch durch politische Institutionen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene“.

Nach der UNESCO-Broschüre zu schliessen geht es also nicht nur und nicht primär um die Stärkung familiärer Bindungen und Kompetenzen (d.h. um eine Politik, die dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung trägt), sondern um die Auslagerung der Betreuung und Erziehung kleiner Kinder aus der Familie in professionelle Hände.
Bildung statt Bindung?

Dabei wüssten wir es eigentlich längst: Was kleine Kinder vor jeder Bildung vor allem brauchen, um gesund aufzuwachsen und zu belastbaren Persönlichkeiten zu werden, ist eine sichere und vertraute Bindung zu ihren Eltern. Laut dem Erlanger Hirnforscher Manfred Spreng ist die enge und in den ersten drei Lebensjahren möglichst ununterbrochene Bindung zu den leiblichen Eltern – und besonders zur Mutter – zentral für die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Spreng hat immer wieder auf die Wichtigkeit der mütterlichen Präsenz für die Sprachentwicklung des Kindes hingewiesen, das schon vorgeburtlich die Stimme der Mutter wahrnehme und nachgeburtlich auf diese „fixiert“ sei. 2014 erklärte er bei einer Veranstaltung der Stiftung Zukunft CH in Olten: „Ist (…) nach der Geburt der so wichtige Aufbau und Erhalt der kommunikativen Bindung zwischen Mutter und Kind nicht ausreichend und lang genug gegeben, kann die Imitationsfähigkeit des Säuglings und Kleinkindes nicht voll zur Geltung kommen.“ Misserfolge frühkindlicher Lernprozesse könnten zu Apathie (learned helplessness) und in der Folge zu Motivationsverlust, Lernbehinderung, Angst und Depression führen.
Zu frühe und exzessive Fremdbetreuung kann sich also negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Fachleute der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie DGKJF haben deshalb 2018 eine „Kinderkrippen-Ampel“ publiziert, um Eltern für die Risiken der Fremdbetreuung zu sensibilisieren. Im Wissen darum, dass jedes Kind anders ist und andere Bedürfnisse hat, hält das Team um den Psychologen Serge K. D. Sulz als grobe Orientierung fest: Krippenbetreuung vor dem Alter von 30 Monaten ist „nicht ideal“ für das Kind (gelb), vor dem Alter von zwei Jahren sogar „schädlich“ (rot). Auch äussern die wirtschaftsunabhängigen Experten Bedenken bei einer Krippenbetreuungsdauer von mehr als 3-4 Stunden pro Tag und mehr als drei Tagen pro Woche.

Kind im Zentrum?

Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre bestätigen, dass für den Einfluss der Fremdbetreuung auf die Entwicklung des Kindes vor allem das Alter und die Betreuungsdauer massgeblich sind. Je mehr nicht-verwandtschaftliche Betreuung Kinder bis 4,5 Jahre erleben, desto mehr treten zum Zeitpunkt der Betreuung, aber auch in der späteren Kindheit Verhaltensprobleme wie Trotz und Wutanfälle, Zerstörung von Sachen, Lehrer-Schüler-Konflikte, Schwächen im Sozialverhalten und mangelnde Empathie auf. Auch Kontaktschwäche, Rückzug in sich selbst und Depressionen werden als Konsequenz beobachtet. Der Einfluss der Betreuungsqualität ist dabei gering (NICHD-Studie, USA 2007). Je kleiner und daher verletzlicher das Kind, desto dramatischer die Auswirkungen der häufigen Trennung von der primären Bezugsperson. Während bei 70 bis 90 Prozent der Krippenkindern stark erhöhte Werte des Stresshormons Cortisol nachgewiesen werden (Werte wie bei gestressten Managern oder Lehrern mit Burn-Out), sinken diese Werte nach ein paar Monaten in der Kita wieder („Wiener Krippenstudie“ 2012). Sie gleichen sich jenen Werten an, die in den 90er-Jahren bei Kindern in rumänischen Waisenhäusern nachgewiesen wurden. Es handelt sich hier um das sog. Erschöpfungssyndrom: Früher Stress führt zur dauerhaften Herabsetzung der Cortisolwerte und zu bleibenden Funktionsstörungen des Stressverarbeitungssystems (HPA-Achse), was wiederum die Anfälligkeit für seelische Störungen im späteren Leben erhöht.

Die UNESCO-Kommission kann darum lange vorgeben, das Kind ins Zentrum zu stellen. Die Ziele und Umsetzungsstrategien der angestrebten Politik der frühen Kindheit zeigen, dass es ihr mindestens ebenso um die Selbstverwirklichung von Erwachsenen, die Profitgier von Unternehmen sowie das Interesse des Staates an mehr Steuern zu gehen scheint. Ein unmöglicher Spagat, der letztlich zu Lasten der Bedürfnisse der Kinder gehen muss, die noch keine eigene Stimme haben.

Die Politik der frühen Kindheit „ermöglicht es Eltern“, wie es in der Broschüre heisst, „vermehrt erwerbstätig zu sein: Aufgrund der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann insbesondere das weibliche Fachkräftepotential besser ausgeschöpft werden. Wenn Mütter ihren Arbeitsplatz behalten und ihr Pensum dank berufskompatiblen Betreuungsangeboten weniger reduzieren, sparen die Unternehmen zudem Personalwiederbeschaffungskosten ein.“

Einflussreiche Allianzen

Diese Ideen stammen direkt von der bereits zitierten milliardenschweren Jacobs Foundation, die nicht nur die Publikation der UNESCO-Broschüre und deren Verbreitung fördert, sondern die Debatte um FBBE in der Schweiz seit ein paar Jahren finanziell und ideell entscheidend mitbestimmt.

So wurde beispielsweise eine Fachtagung des Familiendachverbandes „Pro Familia“ zur frühen Sozialisierung im Januar 2019 durch die Unterstützung der Stiftung ermöglicht. Und dort ging es – wen wundert’s – allein um die „Vorzüge“ ausserfamiliärer Betreuung und Erziehung: „Bis vor kurzem überliess man es in der Schweiz ausschliesslich der Familie, ein Kleinkind aufzuziehen und auf das soziale Leben vorzubereiten“, heisst es im Tagungsbeschrieb. Seit einiger Zeit aber gebe es Einrichtungen und Institutionen, die die Familie bei dieser schwierigen Aufgabe „unterstützen, wenn nicht sogar ersetzen“. Dies mit dem ausdrücklichen Ziel: „Je eher das Kind von einer pluralistischen Weltoffenheit profitieren kann, desto besser wird es sich sozial integrieren.“ Den Gewinn dieser frühen Sozialisierung sieht „Pro Familia“ darin, dass sie „als demokratisches Instrument“ dazu beiträgt, „Ungleichheiten abzubauen und das Phänomen der sozialen Reproduktion bekämpfen“.

Der Einfluss der Jacobs Foundation reicht weit in die Politik hinein. SP-Nationalrat Matthias Aebischer, der mit seinem hängigen Vorstoss „Chancengerechtigkeit vor dem Kindergartenalter“ die frühkindliche Bildung im Alter von 0-4 Jahren per Gesetz zur Bundessache machen will, ist Botschafter der Jacobs „Ready!“-Kampagne für mehr frühkindliche Förderung. Doch damit nicht genug: Im März 2019 wurde bekannt, dass die selbst kinderlose Bundesrätin Karin Keller-Sutter höchstpersönlich die Schirmherrschaft einer parteiübergreifenden Allianz übernimmt, die sich zum Ziel gesetzt hat, „nachhaltige Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und zur Politik der frühen Kindheit auszuarbeiten“. Interessanterweise geht diese Allianz aus Vertretern von Wirtschaft, Politik und kantonalen Behörden auf ein Symposium zurück, das am 13. November 2018 vom Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) gemeinsam mit der Jacobs Foundation in Bern organisiert wurde.

Übergangene Kinderwünsche

Auch solche Netzwerke, die allem Anschein nach momentan eine orchestrierte Grossoffensive durchführen, sollten einem bekannt sein, wenn man sich ein Bild darüber machen will, was unter dem Slogan „Politik der frühen Kindheit“ heute angepriesen wird. Wir haben es zu tun mit einer unheiligen Allianz aus Wirtschaftsvertretern einerseits, die aus kurzfristigen Überlegungen heraus Mütter von ihren (volkswirtschaftlich) so bedeutsamen Betreuungsaufgaben wegholen wollen, und aus Linksideologen anderseits, die auf dem Weg der Auslagerung der Kindheit aus der Familie ihre Utopie einer egalitären Gesellschaft zu realisieren versuchen.

Mittel- und langfristig kann sich das nicht auszahlen. Wer die Ökologie des Menschseins so sträflich übergeht, wie es die Politik der frühen Kindheit bei den grundlegenden Bedürfnissen von Kleinkindern tut, darf nicht ernsthaft auf eine höhere „Bildungsrendite“ hoffen. Historisches Anschauungsmaterial aus dem ehemaligen Ostblock gäbe es genug, um das Scheitern solcher Experimente vorherzusehen. Denn es geht – auch wenn die Motive heute teilweise anders gelagert sein mögen – im Kern erneut darum, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft auszuschalten. Und so etwas wünscht sich kein Kind in der Schweiz.

Der Autor leitet den Fachbereich Werte und Gesellschaft bei der Stiftung Zukunft CH


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