
4. März 2019 in Interview
kath.net-Interview mit dem Theologen und Mediziner Johannes Huber, ehem. Sekretär von Kardinal König, über die kirchlichen Missbrauchsfälle, das Pell-Urteil und die Frage, wieviele Missbrauchsfälle es wirklich bei Nonnen gibt - Von Roland Noé
Wien (kath.net)
kath.net:  Vor einigen Tagen   endete in Rom der große Kongress über den Kinderschutz. Nach der Rede von Papst Franziskus am Sonntag gab es einige Kritik, auch innerkirchlch. Wie schätzen Sie das Ergebnis ein?
Johannes Huber:  Man  kann nur  hoffen,  daß  es  ihm nicht so geht wie  dem Weizenkorn, das den Mühlstein um Verzeihung bittet und nicht merkt,  daß es dabei zermalmt wird  um einen Gedanken Peter Sloterdijks zu verwenden.  Dass Aufklärung, Transparenz und Wiedergutmachung selbstverständlich sind,  steht  ausser  Zweifel  und hier  hat  sich der  Papst sicher redlich bemüht. Dass  aber  die  medizinische  Differenzierung zu kurz kam,  wird moniert. Denn  Pädophilie, Ephebophilie (Hinneigung zu männlichen Jugendlichen) und Mißbrauch sind unterschiedliche pathologische Formen,  wobei   auch hier noch der Bogen von in die  Augen blicken und streicheln   über weitere Pathologien bis zur Penetration  und   zur sanquinösen Traumatisierung reicht. Das  zu differenzieren  wäre  für eine  Objektivierung  der Tatbestände dienlich gewesen.
 
kath.net: In Australien wurde jetzt das Urteil über Kardinal Pell bekanntgegeben. Der bekannter australischer Zeitungskolumnist Bolt meinte danach: "Pell ist Sündenbock, kein Kinderschänder. Ein Mann wurde für schuldig befunden: nicht aufgrund von Fakten, sondern von Vorurteilen". Muss hier ein Kardinal für die Sünden von anderen ins Gefängnis gehen?
 
Huber: Wenn ein Angeklagter bei nicht belegter Aussagen eines einzigen Zeugen, ohne forensische Beweise, ohne bestimmte Verhaltensmuster oder ein Geständnis schuldig gesprochen wird, wie die in Melbourne erscheinende Zeitung The Age schreibt, dann öffnet  dies jeder  beweislosen, zu einer Verurteilung führenden Verleumdung Tür und Tor. Der  Verzicht  auf eine Beweisführung  und das Ausserkraftsetzen des alten Leitsatzes in dubio pro reo    der  selbst in Mordfällen wie  jetzt moniert wird  (DIE ZEIT 28. 2. 2019 S2)  -  schafft  nicht nur  eine  Rechtsunsicherheit für alle,  sondern  zeigt eine neue Seite in der Pädophilie Debatte : daß  es  hier nicht  nur um die Durchsetzung von Recht  geht,  sondern wahrscheinlich  nicht von allen, aber doch von manchen Seiten -  um die Infragestellung   christlicher Institutionen. Die  offensichtlich beabsichtigte,  zur Synode zeitlich synchrone Urteilsverkündung nährt diese  Vermutung.
 
kath.net: Medial hat man das Gefühl, dass fast nur die katholische Kirche am Pranger steht und es woanders kaum Missbrauchsfälle gibt und in der katholische Kirche hier die einzige Institution ist, die man deswegen schlägt. Wie ist hier Ihr Eindruck.
Johannes Huber: Tatsächlich betrifft dieses Problem nicht nur die katholische Kirche - obwohl es hier besonders forciert dargestellt wird, sondern auch zahlreiche staatliche Institutionen, Sportvereine und private Organisationen  in verschiedenen Ländern wie z. B auch in Deutschland und Großbritannien. Betroffen sind auch protestantische Gemeinschaften, was gegen die oft emotional gefärbte Vermutung spricht, daß der Zölibat die Ursache des Problems sei. In der Aufarbeitung kommt es vor allem auf die Spätfolgen an, die auch bei der Ephebophilie und der Pädophilie zu beklagen sind.
Allerdings nicht nur: Wissenschaftliche Arbeiten weisen darauf hin, daß Spätfolgen von Mobbing  auch unter Gleichaltrigen - furchtbarer sind als nach Mißhandlungen. (Lancet Psychiatry, 2015, 2, 524) Außerdem sollte nicht übersehen werden, wie sich Kinder und junge Menschen Darstellungen ansehen (müssen), die von Erwachsenen in unaussprechlich frauenfeindlicher, pornographischer und obszön brutalster Weise gefilmt werden und frei zugänglich sind.
Auch das ist eine Form des Mißbrauches, dessen Spätfolgen noch weitgehend unbekannt sind und bei denen es möglicherweise psychopathologische Interferenzen gibt.
kath.net: Kurz vor dem Missbrauchskongress wurde die These in den Raum gestellt, dass es auch zahlreiche Übergriffe an Nonnen gab. Eine Frau, die laut eigene Aussagen missbraucht wurde, verkaufte ihre Story fast täglich in Medien. Wie häufig oder selten gab es wirklich Übergriffe an Nonnen?
Johannes Huber: Nach dem derzeitigen Wissenstand  handelt es  sich nicht um  zahlreiche Übergriffe  -  sondern  um Einzelfälle, die  natürlich ebenfalls objektiv und transparent aufgearbeitet werden müssen,   wofür  aber jahrtausendalte Rechtsgrundsätze  nicht aufgehoben werden dürfen:  das  audiatur et altera pars  muß hier genauso gelten wie in der gesamten europäischen Rechtssprechung.  Wenn  der  beschuldigte Priester aussagt,  daß  der  sexuelle Kontakt einvernehmlich erfolgte, so hat  das  zunächst  den gleichen Wahrheitsanspruch wie  das Gegenteil. Wenn   die ehemalige Nonne  den zweiten sexuellen Kontakt ebenfalls mit einem  allerdings anderen - Priester hatte, der ihr dann  das gab, was ersterer  nicht  konnte -  nämlich Ehe und Geborgenheit -  dann  deutet dies   eher  darauf hin,  daß ihre ursprüngliche Entscheidung, ins Kloster  einzutreten,  eine falsche war.
 
kath.net: Was raten Sie der Kirchenleitung, um wirklich dieses leidige Missbrauchsthema vom (medialen) Tisch zu bekommen?
Johannes Huber: Zweifellos muß der Jetztstand aufgearbeitet, transparent gemacht und Gutmachung angeboten werden. Für die Beurteilung vergangener Jahrzehnte sollte die ordinierte Elite bei jenen Naturwissenschaftlern gedankliche Anleihen aufnehmen, die sowohl für die Biologie wie auch für das kollektive Bewußtsein einen evolutionären Prozess postulieren. Denn gerade in dieser Frage hat sich - Gottseidank  die gesellschaftliche Einstellung inhaltlich und rasch geändert. Es gibt heute eine entschiedene gesellschaftliche Stimmung gegen jeden Versuch der Legitimierung und Verharmlosung von Kindesmissbrauch und Pädophilie.
In den 20 Jahren nach 1968 war das noch anders. Beispiele dafür gibt es zahlreiche: z.B.
1. Der Geschäftsführer der grünen Bundestagsfraktion, Volker Beck forderte in einem Buchbeitrag 1988 die "Entkriminalsierung der Pädosexualität"
2. Jürgen Trettin trat 1981 für Straffreiheit bei gewaltfreien sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen ein .
3. Christel Bookhagen  et  al beschrieben  in  dem Kursbuch 17 (1969) mit  Fotographien die "Liebesspiele  im  Kinderzimmer
(Die Welt , 21. 9. 2013 S. 1; FAZ 25. 4. 2018 S 3)
Die Einschätzung zu Pädophilie und Ephebophilie hat sich also  Gottseidank - in den letzten Jahrzehnten geändert - Vorwürfe, die nicht verniedlicht werden sollen, gehören - um es nochmals zu betonen - lückenlos, aber auch objektiv aufgearbeitet  allerdings soll dabei auch berücksichtigt werden, daß es einen positiv zu bewertenden gesellschaftlichen Bewusstseinswandel in Sachen Kindesmissbrauch und sexuelle Belästigung von Kindern und Jugendlichen gibt. Gottseidank sieht man heute vieles anders  aber dieser Entwicklungsprozess muss in Betracht gezogen werden , wenn man heute über zweifellos zu verurteilende Vorfälle früherer Zeiten zu Gericht sitzt.
Univ. Prof. em.  DDr. Johannes Huber war  von   1992  - 2011 Leiter  der  Abteilung für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin am AKH  in Wien.  Er war korrespondierendes Mitglied des Kuratorium  Alpbach, Mitglied des Obersten Sanitätsrates  und leitete bis 2007 die Bioethikkommission der österreichischen Bundesregierung. Mit  Sir  Karl Popper  konnte  er  einen Briefverkehr über evolutionsbiologische Fragen führen. Außerdem war er ehemaliger Sekretär von Kardinal König.
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