„Die theokratischen Regime müssen enden“

27. Februar 2019 in Interview


Kardinal Sako im Gespräch mit „Kirche in Not“ – Sako: „Während der dreieinhalb Jahre der Vertreibung, als die Christen aus der Ninive-Ebene flüchten mussten, hat ‚Kirche in Not‘ wahre Wunder vollbracht.“ Von Volker Niggewöhner


München (katn.net/KIN) Der Irak bestimmt nicht mehr die täglichen Schlagzeilen. Dennoch bleibt die Lage angespannt – nicht nur wegen des schwelenden Kurdenkonflikts. Der sogenannte „Islamische Staat“ ist militärisch geschlagen, doch die Gefahr ist nicht gebannt. So schwanken viele Iraker zwischen Gehen und Bleiben, auch die christliche Minderheit.
Die Päpstliche Stiftung „Kirche in Not“ trägt zusammen mit den lokalen Kirchen dazu bei, dass die Christen in ihr jahrhundertealtes Siedlungsgebiet zurückkehren können: In den Ortschaften der Ninive-Ebene sind mittlerweile rund die Hälfte der zerstörten Gebäude wiederaufgebaut und die Hälfte der früheren Bewohner zurückgekehrt.
Ein Befund, den das geistliche Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Christen freut – auch wenn ihm die Sorge über die zukünftige Entwicklung umtreibt: Louis Raphael Sako (70) ist seit 2013 Patriarch der über einer halben Million chaldäischen Christen weltweit. Im Juni 2018 wurde Sako von Papst Franziskus in das Kardinalskollegium aufgenommen – ein Zeichen der Wertschätzung für die Christen im Nahen Osten.
Kardinal Sako war im Februar 2019 zu Gast bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Bei dieser Gelegenheit kam es auch zu einer Begegnung mit den Verantwortlichen von „Kirche in Not“ Deutschland. Über die Perspektiven für die Christen im Irak, Erwartungen an die internationale Politik und warum ein Papstbesuch die Lage verbessern könnte, hat Volker Niggewöhner mit Patriarch Sako gesprochen.

Volker Niggewöhner: Wie sehen Sie die aktuelle politische Situation im Irak?

Louis Raphael I. Kardinal Sako: Es ist eine unübersichtliche Lage. Die Menschen im Irak haben keine klare Vision für ihre Zukunft. Es gibt keine Strategie der Regierung. Die Politiker sind nicht ausreichend auf diese große Aufgabe vorbereitet. Die Stammesmentalität ist weit verbreitet, hinzu kommt die politische und religiöse Zersplitterung. Die Menschen sind nicht geeint, um einen Rechtsstaat aufzubauen.

Kirche in Not: Schauen wir auf die Situation der Christen im Irak: Viele von ihnen sind vor den Gräueltaten des sogenannten „Islamischen Staates“ geflohen. Aber auch schon vorher haben viele Christen das Land verlassen. Können Sie das in Zahlen benennen?

Kardinal Sako: Rund eine Million Christen haben den Irak verlassen. Es gab keine Sicherheit für sie, und sie waren als Nicht-Muslime einem gewaltigen Druck ausgesetzt. Es wurden regelrechte Mauern errichtet zwischen den Religionen und Ethnien: kurdischen, arabisch- und türkischstämmigen Irakern und so fort.

„,Kirche in Not῾ hat wahre Wunder vollbracht“

Kirche in Not: Mittlerweile kehren aber auch Christen in ihre Heimat zurück …

Kardinal Sako: Teilweise! Es kommen vor allem die vertriebenen Christen zurück, die sich noch im Irak aufhalten. Nach der Befreiung der Ninive-Ebene sind circa 16 000 Familien in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Aber viele Christen zögern noch. Der Aufbau kommt voran, aber das Leben dort ist sehr schwer.

Kirche in Not: Wie wichtig ist die Hilfe von „Kirche in Not“ bei der Rückkehr der Christen?

Kardinal Sako: „Kirche in Not“ und weitere Partner haben den irakischen Christen maßgeblich dabei geholfen, zu bleiben und zu überleben. Auch ausländische Regierungen haben die irakischen Christen sehr unterstützt, zum Beispiel Ungarn und Österreich. Wir sind sehr dankbar dafür.

Während der dreieinhalb Jahre der Vertreibung, als die Christen aus der Ninive-Ebene flüchten mussten, hat „Kirche in Not“ wahre Wunder vollbracht. Das Hilfswerk hat Schulen gebaut, medizinische Versorgungszentren, Notunterkünfte und vieles mehr. Jetzt verändert sich die Lage: Es steht nicht mehr nur die materielle Nothilfe im Vordergrund. Es geht auch um die wichtige Frage, wie wir die Menschen gut ausbilden und pastoral begleiten können.

Kirche in Not: Wie steht es um die Sicherheit in der Ninive-Ebene?

Kardinal Sako: Momentan ist es relativ sicher. Aber niemand kann sagen, wie sich das entwickelt. Der IS ist militärisch zwar geschlagen, aber die Ideologie lebt noch und sie ist stark!

Kirche in Not: Die Ninive-Ebene liegt ja sehr nahe am kurdischen Teil des Irak. Viele Christen haben dort Zuflucht gefunden. Wie beurteilen Sie die Rolle der Türkei im Kurdenkonflikt?

Kardinal Sako: Nicht nur die Türkei, auch zahlreiche andere Länder machen ihren Einfluss im Irak geltend: die USA, Iran, Saudi-Arabien und andere. Es ist ein Wirtschaftskrieg - in erster Linie geht es um Zugang zu den Erdölquellen. Die Auseinandersetzung hat auch eine religiöse Dimension: Das betritt vor allem die Spannungen zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen. Jede dieser beiden Richtungen möchte ihre eigene Politik durchsetzen – ohne Rücksicht auf Menschenrechte oder die staatliche Souveränität.

„Der Islam muss sich grundlegend erneuern“

Kirche in Not: Wie geht es den Christen in anderen Teilen des Irak?

Kardinal Sako: Sie stehen nach wie vor unter Druck von Seiten der muslimischen Mehrheit. Diese Intoleranz ist tief in der Mentalität verwurzelt. Der Islam müsste sich grundlegend erneuern. Er sollte die religiöse Vielfalt anerkennen und Minderheitenrechte akzeptieren. Bürgerrechte sollten auf der Basis der Staats- und nicht der Religionszugehörigkeit gewährt werden. Religion ist eine Sache zwischen mir und Gott. Für meine Rechte und Pflichten als Staatsbürger spielt das keine Rolle. Die theokratischen Regime müssen enden.

Es kann keinen islamischen Staat mehr geben, wie es zur Zeit der islamischen Expansion im 7. Jahrhundert war. Auch wir Christen haben im Mittelalter sehr machtpolitisch gedacht. Aber wir haben einen Wandel durchgemacht. Ich sage meinen islamischen Gesprächspartner oft: „Ihr solltet von der christlichen Erfahrung lernen.“

Kirche in Not: Sie sind zu Gast bei der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der Politiker und Entscheidungsträger aus aller Welt zusammenkommen. Was sind Ihre Erwartungen?

Kardinal Sako: Hier trifft sich eine kleine Elite. Aber der Dialog über Sicherheit und Frieden sollte in den betroffenen Ländern geführt werden, nicht hier. Die Bevölkerung, die Politiker und die religiösen Autoritäten sollten miteinbezogen werden, um einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Wenn die Staatengemeinschaft dem Nahen Osten helfen will, sollten sie sich lokal engagieren. Die Menschen im Irak, in Syrien, im Jemen oder anderswo brauchen in erste Linie eine gute Ausbildung, um Werte für ein friedliches Zusammenleben vermittelt zu bekommen. So könnte ein Mentalitätswandel einsetzen.

Kirche in Not: Anfang Februar haben Papst Franziskus und der Großimam der Al-Azhar-Universität von Kairo, einer der bedeutendsten Geistlichen des sunnitischen Islam, eine Friedenserklärung unterzeichnet. Anlass war der erste Papstbesuch auf der Arabischen Halbinsel. Könnte das auch Auswirkungen auf das Zusammenleben von Christen und Muslimen im Irak und im ganzen Nahen Osten haben?

Kardinal Sako: Ich glaube ja. Das war eine starke Botschaft. Gewalt und Extremismus müssen enden. Wir müssen uns gemeinsam für mehr Frieden und Freiheit einsetzen. Warum wird noch immer im Namen von Religion getötet? Religion hat eine andere Botschaft: in Würde leben. Es kommt etwas im Islam in Bewegung. Die Gesten von Papst Franziskus haben das möglich gemacht. Das hat schon mit seinem Besuch in Ägypten [im April 2017; Anm. d. Red] begonnen und wurde jetzt beim Aufenthalt in den Vereinigten Arabischen Emiraten verstärkt. Der Papst hat einen Mentalitätswandel bewirkt. Das nehmen wir im Irak sehr aufmerksam wahr. Wir hoffen umso mehr, dass er auch bald zu uns kommt.
„Die Christen im Westen sollten Position beziehen“

Kirche in Not: Ein Papstbesuch im Irak könnte also aus Ihrer Sicht viel bewegen?

Kardinal Sako: Wir brauchen ihn. Der Papst hat eine prophetische Kraft. In Abu Dhabi haben Millionen Muslime die heilige Messe mit Franziskus verfolgt. Und das war das erste Mal, dass Muslime erleben konnten, wie Christen beten. Viele haben auch zum ersten Mal eine Lesung aus der Bibel gehört. Das kann dazu beitragen, dass sie ihre Haltung den Christen gegenüber überdenken.

Kirche in Not: Was können die Christen in Europa von den Christen im Irak lernen?

Kardinal Sako: Eine Zahl kann die Haltung der irakischen Christen deutlich machen: 120 000 von ihnen mussten im August 2014 in einer einzigen Nacht fliehen, als der IS kam. Sie haben alles verloren – nur weil sie Christen waren. Viele von ihnen wurden getötet: Priester, Bischöfe, auch viele junge Leute. Aber nicht mal ein Prozent der Christen hat sich zur Konversion zwingen lassen.

Auch in vielen anderen Ländern im Nahen Osten werden Christen verfolgt und diskriminiert. Dennoch bleiben sie ihrem Glauben treu. Das ist ein Licht, das auch auf die Christen im Westen ausstrahlt. Das sollte viel mehr bekannt gemacht werden. Christsein ist keine passive Haltung. Die Christen im Westen sollten sich engagieren, Position beziehen. Sie sollten ihr Christsein mutig bekennen, anstatt sich zu verstecken. Sie müssen sich ihre Rolle und Sendung bewusst sein, die sie für die Gesellschaft haben.

Helfen Sie den Christen im Irak, wieder Fuß zu fassen und eine sichere Zukunft aufzubauen. Spenden sind möglich:

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