"Frauengesundheit nach Abtreibung? Ist anscheinend egal!"

8. Februar 2019 in Prolife


„Befürworter einer liberalen Abtreibungspraxis wollen lieber wissenschaftliche Daten zu den Spätfolgen der Abtreibung nicht erheben als mit den Konsequenzen dieser Daten umgehen zu müssen.“ Gastkommentar von Prof. Paul Cullen


Münster (kath.net/pl) Am 1. Februar erschien auf der Webseite der Zeitschrift Focus ein Artikel mit folgender Überschrift: „SPD, Grüne und Linke protestieren. Entsetzen über Abtreibungs-Studie: ‚Es ist Wahnsinn, so etwas zu tun‘.“ Was war passiert, um so viel „Entsetzen“ bei den Parteien des linken Spektrums auszulösen? Es geht um die aktuelle Debatte um das Werbeverbot für Abtreibungen. Eine Komponente der „Kompromisslösung“ zur Reform des §219a StGB, die gleich fünf Minister der regierenden Koalition aus CDU/CSU und SPD in wochenlanger Akribie ausgearbeitet haben, ist die Zusage von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, eine wissenschaftliche Studie über physische und psychische Folgen von Abtreibungen in Auftrag zu geben. Genau diese wissenschaftliche Frage hat sich jedoch inzwischen als wichtige Front im Kulturkrieg herausgebildet. Es handelt sich nämlich um das „Post-Abortion-Syndrom“, eine Unterart der post-traumatischen Belastungsstörungen, wie sie beispielsweise bei Soldaten nach Kriegseinsätzen, oder bei Opfern von Vergewaltigungen oder sonstiger physischer oder psychischer Gewalt beobachtet werden. Nach dem kanadischen Psychologen Jordan Peterson ist der eigentliche Auslöser für eine solche Störung die Konfrontation mit nackter Boshaftigkeit und die gezwungene Erkenntnis, dass es solche Boshaftigkeit überhaupt geben kann.

Unter Befürwortern einer liberalen Abtreibungspraxis wird selbst die Existenz des Post-Abortion-Syndroms geleugnet oder zumindest stark in Zweifel gezogen. Zum Beispiel schreibt die Online-Enzyklopädie Wikipedia: „Das „Post-Abortion-Syndrom“ wird weder in der ICD der Weltgesundheitsorganisation noch im DSM der American Psychiatric Association als Störung klassifiziert. In der Wissenschaft ist die Existenz eines Post-Abortion-Syndroms nicht anerkannt.“ Leider ist dieser Eintrag eher als weiterer Beleg für die zunehmende Parteilichkeit von Wikipedia in gesellschaftlichen Fragen denn als verlässliche Beschreibung des derzeitigen Forschungsstands zu werten. Einige „Quellen“ im Wikipedia-Eintrag verweisen beispielsweise auf die Webseiten radikaler Abtreibungsaktivisten wie die „Abortion Rights Aotearoa“ aus Neuseeland. Die unrühmliche Rolle der Weltgesundheitsorganisation bei der weltweiten Propagierung von Abtreibungen ist auch hinlänglich bekannt. Darüber hinaus gelten seit Jahren die Seiten des diagnostischen und statistischen Handbuchs der Geisteskrankheiten des US-Psychiatrieverbands (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM) als Kampffeld progressiver Ideologien.

Diese starke Ideologisierung der Bewertung des Post-Abortion-Syndroms setzt sich in der wissenschaftlichen Literatur fort. So behauptete eine Studie 2016 im British Medical Journal Open, dass posttraumatische Belastungsstörungen bei Frauen nach Abtreibung nicht häufiger vorkommen als bei abtreibungwilligen Frauen, denen eine Abtreibung wegen der fortgeschrittenen Dauer der Schwangerschaft verwehrt wurde. Abgesehen davon, dass hier die sogenannte „Kontrollgruppe“ (also die Gruppe ohne Abtreibung) keinesfalls als repräsentativ für alle Frauen angesehen werden kann, fällt auf, dass die Studie aus einem Programm an der Universität von Kalifornien in San Francisco stammt, das zum Ziel hat, die „negativen Folgen“ von „Begrenzungen der Abtreibung“ in einigen Bundesländern der Vereinigten Staaten zu „mildern“. Also ist die Neutralität dieser Studie mehr als fragwürdig, wird sie doch von einem Zentrum veröffentlicht, das es sich zum politischen Ziel gesetzt hat, den Zugang zur Abtreibung in den bereits liberalen Vereinigten Staaten noch mehr zu erleichtern. Nüchternere Analysen kommen zu einem anderen Schluss. So belegte eine erschöpfende und neutrale Auswertung der wissenschaftlichen Literatur im Jahr 2015, dass eine posttraumatische Belastungsstörung nach Abtreibung nicht nur bei den Müttern auftritt, sondern interessanterweise auch bei den Vätern auftreten kann.

Die Wahrheit ist also, dass eine große Zahl von gut durchgeführten Studien die Existenz von teilweise schweren psychischen Langzeitstörungen bei Frauen (und sogar auch bei Männern) nach Abtreibung dokumentieren. Die offenen Fragen sind, in wieviel Prozent aller Fälle solcher Störungen auftreten, welche Art die Störungen im Einzelfall sein können und wie sie am besten zu behandeln sind.

Die Degeneration der linken Kultur ist heute weit fortgeschritten. Inzwischen hat sie sich auf zwei postmodernistische Kernelemente reduziert. Das erste Element ist das Konzept des „réssentiment“, eine maligne und tiefsitzende Missgunst gegen vermeintlich „Bessergestellte“, wie es beispielsweise in den Arbeiten von Jean-Paul Sartre zum Ausdruck kommt. Das zweite ist die Vorstellung, dass es keine objektiven Wahrheiten, sondern nur verschiedene „Narrative“ gibt. Alle Interaktionen in der Gesellschaft basieren somit nicht auf objektiven Tatsachen, sondern werden auf den Kampf verschiedener Narrative um Dominanz reduziert. Da es primär um ein Machtspiel geht, ist der Wahrheitsgehalt der jeweiligen Narrative sekundär, zumal es nach der reinen Lehre „Wahrheit“ im eigentlichen Sinne gar nicht geben kann.

Die laufende politische Debatte um Abtreibung kann nur in diesem Kontext verstanden werden. Hier werden in erster Linie Frauen, aber auch ihre noch-nicht geborene Kinder und zu einem gewissen Grad auch Männer instrumentalisiert, um eine Machtfrage zu entscheiden. Die „Selbstbestimmung der Frau“ ist kein inhaltsvoller Begriff, sondern eine Kampfparole. Warum, wenn einem das Wohl der schwangeren Frau am wichtigsten ist, wird nicht verlangt, dass Abtreibungen von der relevanten Facharztgruppe, den Frauenärzten, durchzuführen sind und nicht, wie es in der Mehrheit der Fälle geschieht, durch Allgemeinmediziner wie Kristina Hänel in Gießen oder Mediziner ohne jegliche Facharztausbildung wie Friedrich Stapf in München? Warum wird vor dem Hintergrund der erdrückenden Literatur die mögliche Existenz des Post-Abortion-Syndroms in Deutschland so vehement geleugnet? Warum, wenn jedes Forschungs- oder auch Bauvorhaben signifikanten Ausmaßes von einer sogenannten „Folgeabschätzung“ begleitet wird, ist selbst die Untersuchung dieser Störung, die die Gesundheit von mindestens einem Fünftel aller Frauen gefährden kann, auf einmal tabu?

In diesen Fragen wird die gesamte Scheinheiligkeit, Heuchelei und – für mich als Wissenschaftler am schlimmsten – die Unlogik der Abtreibungs-Lobby entlarvt. Neulich versucht diese Lobby etwa in der Form des linksradikalen „Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung“ selbst das Wort „Leben“ zu kapern. Interessant ist, dass der Slogan dieses Bündnisses „Recht auf Leben und Selbstbestimmung“ vor wenigen Tagen wortwörtlich und kommentarlos von der zwangsgebührenfinanzierten Sendung „Anne Will“ im Ersten Deutschen Fernsehprogramm übernommen wurde. Tod ist Leben. Instrumentalisierung ist Selbstbestimmung. George Orwell hätte es nicht besser gekonnt.

Prof. Dr. Paul Cullen ist der Vorsitzende des Vereins „Ärzte für das Leben“.

Pressefoto Prof. Dr. Paul Cullen


Foto (c) Paul Cullen


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