Menschenrechte? Ein Spiegel des Menschenbildes

17. Dezember 2018 in Kommentar


"Das eigentliche Gut des Menschen, das es zu bewahren gilt, liegt nicht in der Macht, die Natur zu überwinden und den Menschen weiterzuentwickeln, sondern in ihrem Gegenteil: der inkarnierten Liebe." Von Dominik Lusser, Stiftung Zukunft CH


Winterthur (kath.net/Stiftung Zukunft CH) Pünktlich zum 70. Jahrestag der Deklaration der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) hat der französische Jurist Grégor Puppinck ein bemerkenswertes Buch über die Entwicklung der Menschenrechte vorgelegt.

In „Les droits de l’homme dénaturé“ (Die Rechte des denaturierten Menschen) analysiert der Direktor des „Europäischen Zentrums für Recht und Gerechtigkeit“ (ECLJ) anhand von juristischen Texten und Gerichtsurteilen (vor allem des EGMR), wie sich die wandelnde Auslegung der Menschenrechte als Spiegel des jeweils vorherrschenden Menschenbildes verstehen lässt: „Während die Menschenrechte von 1948 die natürlichen Rechte widerspiegelten, hat der Individualismus neue, widernatürliche Rechte hervorgebracht, z.B. das Recht auf Euthanasie oder Abtreibung. Diese haben ihrerseits zum Aufkommen transnatürlicher Rechte geführt, die heute die Macht garantieren, die Natur neu zu definieren, wie dies bei den Rechten auf Eugenik, auf ein Kind oder auf den Geschlechtswechsel der Fall ist.“

Das Menschenbild, das die Autoren der Erklärung von 1948 vor Augen hatten, gerät immer mehr aus dem Blick. Der AEMR, die in der Absicht geschrieben wurde, dass sich die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges nie mehr wiederholen dürfen, lagen viele Einflüsse zugrunde. Entscheidend waren aber vor allem die durch das Christentum vertiefte Auffassung von der Würde jedes Menschen sowie die philosophische Tradition des Naturrechts. Der gegenwärtigen Entstellung der Menschenrechte liegt gemäß Puppincks neuem Buch hingegen eine tiefgreifende Transformation des Begriffs „Würde“ zugrunde. Diese werde „zusehends auf den individuellen Willen reduziert oder auf den Geist im Gegensatz zum Körper, was dazu führt, jede Überwindung natürlicher Schranken als Befreiung und Fortschritt anzustreben.“

Die Menschenrechte in ihrem ursprünglichen Sinn sind, wie Puppinck ausführt, aus der Beobachtung der menschlichen Natur abgeleitet: „Weil der Mensch – wie schon die griechischen Philosophen wussten – weder ein Tier noch ein Engel ist, sondern eine leiblich-geistige Einheit, weil er ein lebendiges, soziales und geistiges Wesen zugleich ist, ist alles, was diesen Eigenschaften entspricht, ein zu schützendes Gut. Alles hingegen, was sie beeinträchtigt – Tod, Krankheit, Einsamkeit, Irrtum – ist ein Übel und muss abgewehrt werden.“ Darum schützen die Menschenrechte laut Puppinck, „die physische Integrität, das Leben und die Möglichkeit, dieses durch die Gründung einer Familie weiterzugeben, die sozialen Freiheiten (Meinungsäußerung, Versammlung) sowie die geistigen Freiheiten (Denken, Gewissen, Religion).“

Die menschliche Existenz besteht folglich darin, von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod die Potentiale zur Entfaltung zu bringen, welche die Natur bzw. der Schöpfer in uns gelegt haben. Dieser Prozess der Humanisierung schließt die Verantwortung ein, dass wir in uns selbst und in all unseren Mitmenschen die menschliche Natur respektieren, die uns alle verbindet.

Menschliche Kultur hat seit jeher die Natur auch überschritten. Auch das gehört, so paradox es klingen mag, zur Entfaltung der Natur des Menschen, der nicht nur Naturwesen ist, sondern in einem erheblichen Maß auch in Freiheit über sich selbst zu verfügen vermag. Doch die Unterscheidung, wo der Mensch beim Überschreiten bzw. Eingreifen in die Natur die Würde seines Menschseins noch respektiert, und wo nicht, bedarf eines klaren Blickes, den der Nebel des Zeitgeistes nur allzu leicht zu trüben vermag. Nichts scheint nämlich, wie Puppinck schreibt, „so sehr einem ‚übernatürlichen‘ Akt ähnlich zu sein wie ein widernatürlicher. Und dennoch ist der eine menschlich, der andere unmenschlich; der eine zielt auf ein höheres Gut, der andere ist getrieben von eigener Macht.“ Was ist menschlicher? Die Palliativpflege oder die „Erlösung“ des Leidenden durch Euthanasie? Der Schein kann trügen. Doch der differenzierte Blick erkennt den entscheidenden Unterschied:

„Die Adoption eines Kindes ist ein die Natur überschreitender Akt und zeugt von großer Menschlichkeit, während Leihmutterschaft und anonyme künstliche Fortpflanzung gezielt Waisenkinder schaffen und darum widernatürlich und unmenschlich sind. Die Richter tauschen sich, wenn sie die Leihmutterschaft zulassen, weil sie der Adoption ähnlich zu sein scheint. Es gibt nämlich – und so ist es in allen Bereichen – jeweils zwei sich entgegengesetzte Weisen, die Natur zu überschreiten, aber nur eine davon ist menschlich.“

Das Gut des wirklich „Übernatürlichen“ und Menschlichen habe, wie Puppinck am Schluss seines Meisterwerkes prägnant formuliert, auch einen Namen, nämlich die Liebe. „Diese zeigt sich nicht in Machtphantasien und in Diskursen, sondern verwirklicht sich in der konkreten Existenz. Angesichts der Exzesse, die neuerdings unsere Menschheit bedrohen, liegt das eigentliche Gut des Menschen, das es zu bewahren und zu pflegen gilt, nicht in der desinkarnierten Macht, sondern in ihrem Gegenteil: der Fleisch gewordenen Liebe.“

Der Autor leitet den Fachbereich Werte und Gesellschaft bei der Stiftung Zukunft CH: www.zukunft-ch.ch

Denkmal für Menschenrechte vor dem Europapalast in Straßburg


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