Das 'Sozialwort' und der Lebensschutz: eine vertane Chance

29. November 2003 in Österreich


Hat man sich in der Abtreibungsfrage auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt und das prophetische Zeugnis der katholischen Kirche für das Leben fast unhörbar gemacht? Ein Kommentar von Dr. Josef Spindelböck.


Wien (www.kath.net) Die christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften Österreichs haben am 27. November in einer Pressekonferenz ihr gemeinsam erarbeitetes "Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich" vorgestellt. Neben Fragen von Arbeit, Wirtschaft und sozialer Sicherheit widmet sich dasgemeinsame Sozialdokument auch den Bereichen Friedenssicherung, Bildung,weltweite Gerechtigkeit, Verantwortung vor der Schöpfung, Ehe und Familie,Lebensschutz sowie der Gestaltung städtischer und ländlicher Lebensräume.

Es darf festgestellt werden, dass das Zustandekommen eines solchengemeinsamen Sozialwortes eine bedeutende ökumenische Leistung ist, dieweltweit Beachtung finden wird. Viel Richtiges und Wichtiges findet sich indieser Stellungnahme, die zugleich eine Selbstverpflichtung der "Kirchen"sein soll. Unbeschadet des positiven Anliegens und der wichtigenGesamtaussage des Sozialwortes soll hier der Blick auf ein Thema gelenktwerden, bei dem der vorliegende Text in seinem faktischenKompromisscharakter vom katholischen Standpunkt aus erhebliche Defizite undMängel erkennen lässt.

Weil es sich um ein Kernthema handelt, muss es erlaubt sein, diese Kritikauch zu einer Zeit zu äußern, wo das Sozialwort mancherorts fast euphorischgefeiert wird. Es geht nämlich nicht um einen Randbereich der sozialenFrage, sondern um dessen Kern: den eindeutigen und effektiven Schutz desmenschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. In Nr. 74wird zu lebensbedrohlichen Entwicklungen wie folgt Stellung genommen:

"In den schwerwiegenden Fragen von Abtreibung und Reproduktionsmedizin drohtdie Würde des menschlichen Lebens ausgeblendet und Gewalt gegen menschlichesLeben, das sich nicht schützen kann, legitimiert zu werden. In diesen Fragenbestehen auch zwischen den Kirchen unterschiedliche Positionen. Einig sindsich die Kirchen im Eintreten für Freiheit in Verantwortung und imEinbeziehen der Rechte des andern, die für ein menschenwürdiges Leben in derGesellschaft unerlässlich sind. Das Prinzip der Autonomie darf nichtverabsolutiert werden, sondern schließt Verantwortung für sich und andereein. In der Frage der Euthanasie treten die Kirchen in Österreich in ihrerErklärung zum menschenwürdigen Sterben einstimmig für eine Kultur derSolidarität mit den Sterbenden ein und lehnen jede Form der Euthanasie ab.Die Machbarkeit in Wissenschaft und Technik findet ihre Grenze in derUnverfügbarkeit des Lebens."

Wenn in diesem Text, der inhaltlich nichts Falsches enthält, festgestelltwird, es gebe in den Fragen der Abtreibung und der Reproduktionsmedizinzwischen den Kirchen unterschiedliche Positionen, so ist eine derartigeOffenheit und Ehrlichkeit zu begrüßen. Was hier jedoch zu kritisieren ist,ist die fehlende Darstellung der katholischen Lehrposition zu dieser"offenen Wunde" der Gesellschaft. Es scheint, dass man sich um desfriedvollen ökumenischen Miteinanders auf den kleinsten gemeinsamen Nennergeeinigt hat, was zur Folge hat, dass das prophetische Zeugnis derkatholischen Kirche für das Leben in einer entscheidenden Frage im"Sozialwort" fast unhörbar geworden ist.

Im Sozialhirtenbrief vom 15. Mai 1990 hatten die österreichischenkatholischen Bischöfe in Nr. 110 noch festgestellt, dass es sich beim"Grundwert Leben" "um ein überaus schwerwiegende soziales und ethischesProblem unseres Landes" handle, das nicht übergangen werden dürfe. Siestellten damals "mit Bedauern" fest, "dass es uns nicht gelungen ist, dieMenschen unseres Landes zu überzeugen, dass sie durch ihre Mehrheit dieVoraussetzung für einen eindeutigen Schutz des ungeborenen Lebens gebotenhätten."

Weil das menschliche Leben "der Willkür des menschlichen Zugriffsbedingungslos entzogen" sei, formulierten die Bischöfe klar und ausdrücklich(Nr. 111): "Die Kirche verteidigt daher das Lebensrecht der Ungeborenen. Wirverurteilen mit aller Entschiedenheit, dass in Österreich fortgesetzt einegroße Zahl ungeborener Menschen durch Abtreibung getötet wird." Weil das"Recht auf Leben zu den unantastbaren Grundwerten unserer zivilisierten Welt" gehört, müsse dieses Lebensrecht auch für die Ungeborenen gelten, das "derGesetzgeber ausreichend zu schützen" habe.

Solche Deutlichkeit vermisst man im Sozialwort in der Abtreibungsfrage.Damit ist - und zwar nicht durch die Verbreitung von etwas Irrigem undFalschem, sondern durch die Unterlassung des Guten - eine wichtige Chancevertan worden, in einer kompromisslosen Weise zum Lebensschutz Stellung zunehmen. Die katholische Kirche hätte auf ihrem Recht bestehen müssen, ihreeigene Position zum Schutz des Lebensanfangs deutlich und unverkennbar indieses Sozialwort einzubringen.

Dass dies nicht geschehen ist, muss man ausdrücklich bedauern. DieseUnterlassung darf nicht dazu führen, dieses Thema um des Friedens und einerscheinbaren Einheit willen aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten.Die Realität ist ja: Es werden immer noch viele Kinder im Mutterschoßgetötet, und das in einem gesetzlich vorgesehenen Rahmen. Dazu kann und darfdie Kirche niemals schweigen.

Dr. theol. Josef Spindelböck ist Dozent für Ethik an derPhilosophisch-Theologischen Hochschule der Diözese St. Pölten undGastprofessor für Moraltheologie und Ethik am International Theological Institute (ITI) in Gaming.


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