Im Netz der Zensur

1. Mai 2017 in Kommentar


Bundesjustizminister Heiko Maas ist wild entschlossen, „fake news“ und „hate speech“ im Internet zu bekämpfen. Lüge und Haß, „Falschnachrichten“ und „Haßrede“ sind leider kaum juristisch erfaßbar. Gastbeitrag von Prof. Wolfgang Ockenfels


Köln (kath.net/Die neue Ordnung) Seit Erfindung der Buchdruckerkunst gehört die Klage über die Unmoral der Presse zu den Pflichtübungen jeder Kulturkritik. Bekannt sind vor allem die Wehklagen der Päpste im 19. Jahrhundert über den von der Presse besorgten Verfall von Religion und Sitte. Gerne kritisiert werden die Äußerungen von Papst Gregor XVI., der in seiner Enzyklika „Mirari vos“ (1832) von einer „nie genug zu verurteilenden und zu verabscheuenden Freiheit der Presse“ sprach.

Doch die Pressefreiheit erwies sich als notwendig für eine freiheitliche Gesellschaft. Und auch als nützlich für eine missionarische Kirche, die ihre Botschaft nicht der staatlichen Zensur unterwerfen konnte. Darum begrüßte die Kirche den Artikel 5 unseres Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Das klingt heute wie eine Beschwörung – wie auch die Feststellung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Alles ist heute antastbar.

Die Presse- und Meinungsfreiheit findet laut Grundgesetz freilich ihre Grenzen in den allgemeinen Gesetzen, namentlich zum Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre. Dieser Rechtsschutz ist inzwischen kaum mehr wirksam. Vor Gericht gilt die persönliche Ehre nicht mehr viel, juristisch ist sie zu einem Fremdwort geworden. Und der Jugendschutz vor Sex- und Gewaltdarstellungen ist kaum erwähnenswert. Wie sollte man ihn auch im Zeitalter des globalen Internets durchsetzen? Durch nationalstaatliche Zensur etwa?

Kein Wunder, daß jetzt außergerichtliche Verfahren angestrebt werden, die zwar nicht den Ehren- und Jugendschutz, sondern die vom Mainstream abweichenden politischen Meinungen im Visier haben. Diese geplanten Maßnahmen, betrieben vom deutschen Justizminister Heiko Maas, riechen stark nach einer sozialdemokratischen Zensur, die sich nicht des Rechtstaats und seines Strafrechts als vielmehr der privaten Internetbetreiber bedienen will, denen „zivilgesellschaftliche“ Kräfte Löschungsvorgaben machen sollen, die „offensichtlich rechtswidrige“, aber nicht unbedingt strafbare Inhalte betreffen. Offensichtlich sollen hier linksgrüne Einschüchterungen bestimmen können, was angeblich rechtwidrig ist.

Gerne zitiert wird immer noch der Volksmund: Die lügen wie gedruckt. Ungedruckte Lügen aus dem ungewaschenen Volksmund der „sozialen Medien“ des Internets sollen also in Zukunft verfolgt werden. Man will nicht mehr wie Martin Luther, „dem Volk aufs Maul schauen“, sondern dem Volk aufs Maul hauen. So will es der Vorschlag von Herrn Maas, der „fake news“ und „hate speech“ im Internet zu bekämpfen wild entschlossen ist. Lüge und Haß, „Falschnachrichten“ und „Haßrede“ sind leider kaum juristisch erfaßbar. Nicht einmal philosophisch und theologisch. Was gilt da überhaupt als Lüge und Haß? Als Wahrheit gilt heute pragmatisch das, was de facto wirkt, und nicht das, was wirken soll. Über die Wahrheit einer Realität, die faktisch passiert und sich ohnehin ständig verändert, wird kaum noch nüchtern berichtet, sondern sofort wertend interpretiert, ohne daß das sozialethische, zielgerichtete Sollen hinreichend begründet wird. Besonders wirksam erweist sich dabei die journalistische und auch kirchliche Praxis, eine unangenehme Realität einfach zu verschweigen („totschweigen“) - etwa die demokratische Wirklichkeit einer alternativ-konkurrierenden Politik. Sie nach ihrem programmatischen Selbstverständnis unpolemisch zu beschreiben und sie erst dann kritisch nach einleuchtenden Kriterien zu bewerten, liegt den journalistisch wie kirchlich maßgebenden Kreisen fern.

Es ist ein alt-modernes Problem: nämlich die Tatsachenverdrehung und die Lüge als Halbwahrheit und Konstrukt. Friedrich Nietzsche ist vielleicht der erste Fake-Philosoph, „denn alles Leben ruht“ - nach seinen Worten - „auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums“. Die philosophische Wahrheitsfrage wird hier nominalistisch ausgeklammert, wie auch bei manchen modernen Theologen. Und die politische Wahrheitsfrage wird mit der Machtfrage identifiziert: Wer hat die Definitions- und Interpretationsgewalt? Wer kann klassische Begriffe neu definieren – oder neu „besetzen“, wie es in der militaristisch-semantischen Strategie der 68er heißt? Allerdings entgleitet diese Strategie im Zeitalter des Internets zunehmend dem herrschenden politisch-medialen Komplex. Der Diskurs wird herrschaftsfrei, wird demokratisiert, jeder kann Sender und Empfänger, Journalist und Leser, Politiker und Wähler sein.

Etwa über Facebook, Twitter und Youtube. Hier bilden sich alternative Meinungen und Machtkämpfe zwischen den bisheriger Elite und der Masse, zwischen oben und unten, zwischen rechts und links (Spötter sagen „lechts“ und „rinks“) ab. Der Populismusvorwurf, der sich bisher allein gegen die „Rechtspopulisten“ wendete, hat sich inzwischen auch auf Populisten der „Linken“ und der goldenen „Mitte“ erstreckt, also auf die Träger einer „Weiter so“-Politik. Populismus wird damit zu einer Stil- und Geschmacksfrage. Nicht wahr, Herr Martin Schulz?

Und was ist mit dem Haß, der kriminalisiert wird? Die Gemüts- und Gefühlsverfassung von Millionen Internetnutzern zu erfassen, ist schon aus psychologisch-technischen Gründen kaum möglich. Hannah Ahrendt hielt Adolf Eichmann nicht für einen, der aus Haß den Massenmord an den Juden organisierte. Es war die „Banalität des Bösen“, die diesen „coolen“ Technokraten auszeichnete.

Das Internet ist kein Internat. Karl Kraus lobte die staatlich Zensur, weil sie ihn als Satiriker dazu brachte, zwischen den Zeilen zu schreiben, und seine Leser, ihn zwischen den Zeilen zu verstehen. Die privaten Betreiber von Internet-Foren sind überfordert, „rechtswidrige“ Inhalte auszumachen und zu löschen. Unter Androhung hoher Ordnungsstrafen betreibt man nun die Privatisierung einer Zensur, die zur freiheitsberaubenden Willkür wird. Eine staatliche Zensur ist zwar formal ausgeschlossen, es soll kein Wahrheitsministerium à la Orwell geben. Stattdessen werden gesellschaftliche Gruppen eingesetzt, die vom Staat „gefordert und gefördert“ werden, die denunziatorischen Aufgaben zu erledigen.

Man wünscht sich schon fast den Rechtsfortschritt zurück, den die Inquisition seit dem 13. Jahrhundert für den Rechtsprozeß in Europa bedeutete: protokollierte Zeugenaussagen, Möglichkeit der Selbstverteidigung, objektivierte Wahrheitsfindung. Jedenfalls kein Duell, dessen Ausgang als Gottesurteil galt, und erst recht keine Lynchjustiz.

Als Großinquisitoren eignen sich heute weder Journalisten noch Kirchenleute noch zivilgesellschaftliche Sittenwächter wie die „Amadeu-Antonio-Stiftung“ der Frau Anetta Kahane, die sich schon bei der DDR-Stasi verdient gemacht hat. Sie erfüllen nicht die Kriterien, die seit dem Mittelalter gelten und zum festen Bestandteil unseres Rechtsstaates gehören, so vor allem die Unschuldsvermutung, die den Angeklagten so lange für unschuldig hält, bis ihm die Schuld nachgewiesen wird. Für manche dieser neuen Zensoren gilt diese Regel offenbar nicht: Keine objektive Prüfung des Einzelfalles, sondern kollektive Verdächtigung und Beschuldigung. Langwierige Beweise und Geständnisse halten nur auf, wenn Netzwerker nach kurzem Prozeß ein Gottesurteil im Namen des grünlinken Volksempfindens sprechen können. Da beißt auch kein Maas einen Faden ab.



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