Der Selige Kaiser Karl, Adolf Hitler und Mitteleuropa

11. April 2017 in Kommentar


Diakrisis am Dienstag - Diese Woche mit Eva Demmerle


Linz (kath.net)
Es ist in diesen Wochen gerade 100 Jahre her, daß eine der erfolgversprechendsten Friedensinitiativen des Ersten Weltkriegs startete. Karl, der letzte Kaiser von Österreich und König von Ungarn nahm über seinen Schwager Prinz Sixtus von Bourbon-Parma Kontakt zu Frankreich und zu England auf, um deren Staatschefs ein konkretes Verhandlungsangebot zu machen. Knapp vier Monate währte das diplomatische Hin und Her zwischen Wien, Paris und London. Der englische Premier, David Lloyd George, war über das Angebot begeistert. „Das ist der Friede!“, rief er aus, als ihm Prinz Sixtus das österreichische Gesprächsangebot zur Kenntnis brachte.

Allein – das Unternehmen scheiterte und das Morden in den Schützengräben Europas ging weiter. Im Sommer 1917 appellierte Papst Benedikt XV. mit seiner Friedensnote „Dès le début“ (Seit Anfang an) an die kriegführenden Mächte, Friedensgespräche einzuleiten. Sich selbst bot er als Vermittler an. Der Apostolische Nuntius Eugenio Paccelli, der spätere Papst Pius XII. hatte eng mit dem österreichischen Kaiser zusammengearbeitet, um diese päpstliche Friedensnote vorzubereiten.

Auch dieser Friedensappell verhallte nahezu ungehört. Mittlerweile waren die USA in den Krieg eingetreten und deren Präsident Wilson lehnte die päpstliche Aufforderung ab, da in dieser der Status quo ante, also die Ordnung Europas wie vor Kriegsausbruch, vorgesehen war.

Dem Historiker ist es zwar verboten, die „Was-wäre-wenn?“-Überlegungen anzustellen, dennoch aber ist der Gedanke bestechend, was geschehen wäre, wenn der Krieg nicht mit dem Sieg der Entente und der Niederlage der Mittelmächte geendet hätte, sondern mit einem Verständigungsfrieden, wie Kaiser Karl ihn geplant hatte. Wahrscheinlich wäre die Donaumonarchie als multinationales, multiethnisches und multireligiöses, über Jahrhunderte zusammengewachsenes – und zugleich zutiefst integratives - Gebilde nicht zerfallen. Und hätte also nicht das Vakuum hinterlassen, daß durch die vielen kaum lebensfähigen Kleinstaaten entstanden war.
Nach dem Krieg mussten der Kaiser und seine Familie ins Exil. Gerade Kaiser Karl, der den Kriegsausbruch nicht zu verantworten hatte und der alles versucht hatte, diesen Krieg zu beenden, musste am teuersten für die Niederlage bezahlen. Er sollte seine Heimat nie wieder sehen. Seine Familie wurde entrechtet, enteignet und des Landes verwiesen.
Noch aus dem Exil heraus warb der Kaiser für eine mitteleuropäische Föderation. Ganz abwegig war der Gedanke nicht, er wurde durchaus in politisch einflussreichen Kreisen in Paris und London diskutiert. In Berlin eher nicht, denn dort träumte man noch von Naumanns „Mitteleuropa“. Der liberale Politiker Friedrich Naumann hatte 1915 einen Essay geschrieben, in dem er, in einem ziemlich nationalchauvinistischen Duktus, das Modell einer deutschen Hegemonie über den zentraleuropäischen Raum entwarf.

Und diesen Traum konnte man in Berlin sowohl mit als auch ohne Hohenzollernkaiser träumen.
Aber der Habsburger fand mit seinen Vorstellungen durchaus Gehör. Der französische Premier Aristide Briand teilte seine Analyse, daß das Vakuum in Mitteleuropa gefährlich für den ganzen Kontinent werden würde. Allein, bei den Pariser Vorortverträgen obsiegte eine andere Variante. Das Deutsche Reich wurde gedemütigt, blieb aber im großen und ganzen erhalten, die Zerschlagung Mitteleuropas wurde zementiert. Lloyd George kommentierte: „Wir bereiten hier den nächsten Krieg vor.“

Im Januar 1922 notierte Kaiser Karl: „Die vielen kleinen Staaten sind politisch und finanziell schädlich. Sie sind ein Herd außen-und innenpolitischer Verwicklungen. Außenpolitisch, weil sie sich erstens untereinander nicht vertragen, zweitens weil sie, wenn man die bisherige Politik fortführt, rettungslos in die Arme eines ‚Großdeutschland’ getrieben würden. Warum sie sich untereinander nicht vertragen, ist klar auf der Hand liegend. Ungarn wurde zerrissen und unter Serben, Rumänen und Tschechen verteilt. Das da keine Freundschaft bestehen kann, ist begreiflich. Österreich wurde zerstückelt und seine deutschen Teile an die Nachbarn übergeben. (...) Die ganze Donaufrage ist ein eiterndes Geschwür, das nur mühsam überdeckt ist, das aber jeden Tag aufspringen kann. Und hinter diesem Chaos steht als drohendes Gespenst Großpreussen. Gelingt Österreich der Anschluss an Deutschland, muss Ungarn notgedrungen, da rings von Feinden umgeben, eine Satrapie Preußens werden. Ist dies einmal perfekt, dann sind Tschechoslowakei und Jugoslawien ganz eingekreist von Preußen und dessen Vasallen und müssen sich unbedingt und vielleicht auch gar nicht so ungern an Berlin orientieren. Es gibt heute in diesen Staaten bereits Stimmen für eine propreußische Politik. Polen wird dann einen sehr schweren Stand haben, rings von Feinden umgeben, im Osten Russland, im Westen und Süden Preußen und dessen Vasallen, im Norden Litauen. Rumänien wird wieder einmal ‚volte face’ machen und unter Marghiloman oder unter irgendeinem Nachfolger sich mit Deutschland gut stellen. Italien wird sicher auch freundlich zu Deutschland sein und da ist der letzte Weg für Jugoslawien, mit den Westmächten per mare die Verbindung aufrecht zu erhalten, unterbunden. Dann ist Naumanns Mitteleuropa da, der Traum Berlin – Bagdad in nächste Nähe gerückt. Für was dann der Weltkrieg mit seinen zahllosen Opfern?“

Die Realisierung dieser sehr präzisen Vorhersage keine 20 Jahre später erlebte der Kaiser nicht mehr. Er starb, kaum 35jährig, am 1. April 1922 auf Madeira.

Europa berauschte sich am Nationalismus. Dieses Gift des 19. Jahrhunderts kulminierte schließlich in der Vorstellung des deutschen Herrenmenschen und dem Rassenwahn Adolf Hitlers. Nicht umsonst bekämpfte Hitler den ältesten Sohn des letzten Kaisers, Otto von Habsburg und benannte die militärische Operation des Anschlusses Österreichs an das deutsche Reich „Operation Otto“. Das alte Europa versank in den Trümmern des 2. Weltkriegs.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber bestimmte historische Muster können sich wiederholen. Und das Gespenst des Nationalismus ist noch nicht tot. Frieden ist schwierig zu schaffen, aber schnell verspielt. Nach einer ungeahnten Erfolgsgeschichte der Europäischen Einigung, die uns viele Jahrzehnte Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, finden wir uns auf einmal in einer krisenbehafteten EU wieder, deren Fortbestand bedroht ist. Eurokrise, Flüchtlingschaos und Brexit machen nun den noch vor wenigen Jahren undenkbaren Gedanken denkbar: Ist es möglich, daß die EU zerfällt? Aber was kommt dann?

Bei aller berechtigten Kritik an dem schwerfälligen Tanker EU und den mitunter reichlich arroganten Auftritten einiger ihrer höchsten Vertreter ist das vereinigte Europa grundsätzlich eine gute Idee.

Wir müssen nur einige Stellschrauben wieder richtig einstellen. Mehr rechtsstaatliches Bewusstsein, gerade in Bezug auf den Euro, wäre nicht schädlich. Mehr Subsidiarität – immerhin ist diese schon im Vertrag von Maastricht festgeschrieben – täte angesichts von Brüsseler Regelungswut wohl. Es fallen einem reichlich Dinge ein, die sich in der europäischen Politik ändern müssen. Vor allem aber auch eine Rückbesinnung auf die Werte, die die Gründerväter der europäischen Einigung angetrieben haben. Konrad Adenauer, Alcide de Gaspari und Robert Schumann waren Christen, praktizierende Katholiken. Für letzteren ist sogar ein Seligsprechungsverfahren anhängig. Es ist das Christentum, das diesen Kontinent groß gemacht hat. Nur auf dem geistigen, philosophischen Fundament des Christentums konnte sich Europa entwickeln.

Innovationsgeist und Wissenschaft, Gesundheitsfürsorge und Barmherzigkeit, Kunst und Musik sind in dieser Art nirgendwo anders entstanden. Die Idee der Menschenrechte konnte nicht in Peking, in Teheran oder auf den Opferaltären der Majas entstehen, nein, sie konnte sich nur auf der Basis der jüdischen und christlichen Überlieferung entwickeln: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild. Diese Gottesebenbildlichkeit gibt dem Menschen seine Würde, seine universalen Rechte.
In diesem Rahmen erwuchs eines der prägendsten Gebilde für die europäische Geschichte: Das Heilige Römische Reich. Karl der Grosse schuf die Grundstruktur, Otto der Grosse baute sie aus. Im Auf und Ab der Jahrhunderte erwies das Reich eine erstaunliche Stabilität. Lange genug wurde es heruntergeschrieben, als hohles Gefäss, in dem die einzelnen Fürsten ihre Interessen durchsetzten und ihr eigenen machtpolitischen Süppchen kochten. Aber das Reich entwickelte wesentliche Grundlagen, aus denen wir bis heute schöpfen: die Idee der Rechtsstaatlichkeit ist eine von ihnen. Und dieses Reich währte tatsächlich fast 1000 Jahre, bis es auf Druck der jakobinischen Idee des Nationalismus zerbrach. „Der Untergang des Reiches ist die Tragödie der Deutschen.“, schrieb Otto von Habsburg. Unsicher über die eigene Berufung schlidderte dieses Volk in den Nationalismus. Lediglich im Südosten des einstigen Reiches gelang die translatio imperii. In der K.u.k. Monarchie im Donauraum lebte die übernationale Tradition fort.

Die Gründerväter Europas hatten ein tiefes Verständnis für die historische Entwicklung. Es wäre zu weit gegriffen, würde man die Europäische Union als eine Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches sehen. Aber sie hat eine einzigartige Strahlkraft, die man offensichtlich nur feststellt, wenn man von aussen darauf schaut.

Die Kritik an der EU treibt mitunter merkwürdige Blüten, und bislang hat jedoch kaum einer der Kritiker eine glaubwürdige Alternative aufgezeigt. Der Blick mancher nach Osten, wo Vladimir Putin als vermeintlicher Retter des christlichen Abendlandes wieder die einstigen Einflusssphären der Sowjetunion wieder herstellen will, kann da schon bedenklich stimmen. Damit einher gebracht wird oft das Argument, man müsse sich nun endlich von der angeblichen US-Beeinflussung befreien (und dabei interessieren sich die USA schon seit Jahren nicht mehr für Europa). Und dafür möchte man sich gleich der nächsten Großmacht an den Hals werfen? Noch dazu, einer, die mit unserem Modell von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechten und sozialer Marktwirtschaft so garnichts zu tun hat! Garnicht zu reden von Missachtung des Völkerrechts und militärischen Aggressionen gegenüber den direkten Nachbarn.

Erstaunlichen erschreckend zugleich, wie wenig Selbstbewusstsein die Europäer wirklich haben. Anstatt zu überlegen, wie die kriselnde EU wieder an Fahrt und an Legitimation in der Bevölkerung gewinnen will, suchen so manche (auch ratlos) das Heil in der Nation. Aber das kann nicht die Lösung sein. Wir sollten das eigentlich aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt haben. Und man kann auch kühn behaupten, daß es den Briten nach dem Brexit nicht besser gehen wird als heute.
Es wäre an der Zeit, daß sich die Europäer wieder einen eigenen Gestaltungswillen entwickeln. Man muss auch Weltmacht sein wollen, eine Weltmacht des Friedens. Angesichts der Krisen und Herausforderungen rund um die EU tut dies mehr als Not.

Und damit wieder zurück zu Kaiser Karl. Sehr klug hat er gesehen, daß die Kleinstaaten Mitteleuropas nicht stark genug waren, den an ihnen zerrenden Kräften zu widerstehen.

Was in seinen Kräften stand, hat er getan, um die kommende Katastrophe zu verhindern. Am Ende konnte er nichts mehr tun als beten. Wenige Tage vor seinem Tod sagte er „Ich muss soviel leiden, damit meine Völker wieder in Frieden zusammenfinden.“ Im Jahr 2004 wurde er von Johannes Paul II. Selig gesprochen. Der Papst empfahl in als Fürsprecher für Europa und für alle in Europa politisch Tätigen.

Diakrisis (gr. "Unterscheidung der Geister") - Die neue Kolumne von kath.net. Ab sofort jeden Dienstag mit Dr. Stefan Meetschen, Dr. Eva Demmerle, Dr. Sebastian Moll und Dr. Giuseppe Gracia.


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