'Jetzt schlägt die Stunde der Hirten, der klugen und festen Bischöfe'

19. März 2017 in Interview


Münchner Pastoraltheologe Wollbold im KATH.NET-Interview: Amoris laetitia „macht allein dann Sinn, wenn man es auf der Grundlage der bewährten Lehre und Praxis liest“ – Einzelfallregelung? „Dann sind alle ein Sonderfall.“ Von Roland Noé


München (kath.net/rn) Nach dem päpstlichen Schreiben „Amoris laetitia“ „machen wir weithin aus der Situation nicht das Beste, sondern das Schlechteste. Die einen wittern Morgenluft für eine Revolution in der kirchlichen Sexualmoral und verkünden bereits das ‚Anything goes‘, und andere scheinen beinahe Spaß daran zu haben, den Papst angeblicher Häresien zu überführen“. „Viele lesen den Text aber gar nicht mehr gründlich, sondern instrumentalisieren ihn.“ Davor warnt der Münchner Pastoraltheologe Andreas Wollbold (Foto) im KATH.NET-Interview. Er hat konkrete Vorschläge, wie „Amoris laetitia“ gelesen und rezipiert werden sollte.

kath.net: Am 19. März 2016 Jahr wurde von Papst Franziskus das Schreiben „Amoris laetitia“ (AL) veröffentlicht. Seitdem diskutiert die katholische Welt über eine Fußnote und fast ausschließlich um das Thema „Eucharistieempfang für wiederverheiratete Geschiedene“. Ist so ein Ringen um Klarheit trotz all seiner Schmerzhaftigkeit eigentlich ein normaler Vorgang in unserer Kirche?

Prof. Wollbold: Ja und nein. Papst Franziskus hat nüchtern eingeräumt, dass in diesen Fragen trotz der grundsätzlichen „Einheit der Lehre und der Praxis“ doch „verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen“ (AL 3). So stehen wir hier seiner Ansicht nach in einer vorpfingstlichen Situation der Kirche. Das hieße dann, es ist Zeit, dass die Kirche sich sammelt, reinigt, auf das Wort des Herrn besinnt und den Heiligen Geist erfleht, der „in die ganze Wahrheit führt“ (vgl. Joh 16,13). Dabei wird der Heilige Geist selbstverständlich nicht all das wegwehen, was er der Lehre der Kirche bereits an Klarheit geschenkt hat. Er ist ja kein Umstürzler, sondern ein Erinnerer. Dazu kann man nur Ja sagen, und der Versuch, „Amoris laetitia“ z.B. auf ein grünes Licht zum Kommunionempfang für Geschiedene festzulegen, hat davon nichts begriffen.

Jetzt aber das Nein. Weithin machen wir aus der Situation nicht das Beste, sondern das Schlechteste. Die einen wittern Morgenluft für eine Revolution in der kirchlichen Sexualmoral und verkünden bereits das „Anything goes“, und andere scheinen beinahe Spaß daran zu haben, den Papst angeblicher Häresien zu überführen. Man ist aber nicht automatisch dadurch gut, dass man einem anderen Fehler nachweist. Das ist alles sehr ungeistlich, ja unkirchlich. Es ist nicht normal für die Kirche, sondern eine ansteckende Krankheit. Einer lernt es vom anderen, niedrig zu denken, den eigenen Dickkopf zu pflegen und dem bitteren Murren, der „murmuratio“, viel Raum zu geben. Da müssen wir alle uns an die Brust klopfen.

kath.net: Sie haben im Februar in einem Interview mit der der „Tagespost“ gesagt, dass wir sinngemäß bei dem Thema „zurück zu Johannes Paul II.“ müssen. Was ist hier konkret gemeint und wie kann man AL mit dem Schreiben Familiaris consortio in Einklang bringen?

Wollbold: Zurück zu Johannes Paul II. heißt nicht, einen Papst gegen den anderen auszuspielen. Johannes Paul II. steht einfach für den heiligmäßigen Mut, die ewige Lehre der Kirche gelegen oder ungelegen in Erinnerung zu rufen.

Zurück zu Johannes Paul II. heißt darum, den Boden dieser Lehre niemals zu verlassen. Nach mehrfacher genauer Lektüre von „Amoris laetitia“ kann ich nur unterstreichen: Das Dokument macht allein dann Sinn, wenn man es auf der Grundlage der bewährten Lehre und Praxis liest.

Dazu gehört selbstverständlich auch der eiserne Grundsatz: Außerhalb der rechtmäßigen Ehe ist immer und ausnahmslos Enthaltsamkeit verlangt. Gerade der deutschsprachige Raum ignoriert, was an über zehn Stellen des achten Kapitels von „Amoris laetitia“ klar ausgesprochen ist: Unterscheidung und Raum für Gewissensentscheidung gibt es nur da, wo Betroffene erkennen, dass ihre zweite Ehe im Widerspruch zur göttlichen Ordnung steht und sich ernsthaft auf den Weg machen, dieser Ordnung zu entsprechen.

Das ist exakt das, was „Familiaris consortio“ 84 gesagt hat, nur dass Papst Franziskus nun viel ausführlichere Kriterien dafür entwickelt.

Aber hierzulande hat man immer noch die unglückliche Intervention der Oberrheinischen Bischöfe von 1993 im Kopf und liest „Amoris laetitia“ mit dieser Brille. Aber dazwischen liegen Welten.

kath.net: Nicht wenige Gläubige sind derzeit verwirrt, weil die einen Bischöfe das sagen, die anderen Bischöfe das. Wie ist es überhaupt möglich, dass aus einem Text so ein breiter Interpretationsspielraum möglich ist, und haben Sie das Gefühl, dass gläubige Katholiken, die noch nach dem Ideal der Kirche leben wollen, hier von ihren Hirten nicht etwas vernachlässigt werden?

Wollbold: Der Papst ist kein Fachtheologe, und sein Dokument ist über weite Strecken mehr ein Impuls zum weiteren Suchen nach Wahrheit als ein „Roma locuta causa finita“. Viele lesen den Text aber gar nicht mehr gründlich, sondern instrumentalisieren ihn.

Manche Bischöfe wollen die Herde zusammenhalten, gleichzeitig manchmal aber auch der Öffentlichkeit signalisieren: Wir sind ja alle nur Menschen und in der Sexualmoral sind wir doch gar nicht so streng. Ich will das hier nicht kommentieren. Jedenfalls picken sich die meisten aus „Amoris laetitia“ heraus, was sie gebrauchen können, und lassen anderes weg.

Dazu kommt: Bei einem so umfangreichen Text bleibt es nicht aus, dass einzelne Passagen eine letzte Präzision vermissen lassen. Die Berufung auf Thomas von Aquin ist wenig überzeugend, weil ein bisschen gewollt. Die Gewissenslehre bleibt unscharf und die Erwähnung der mildernden Umstände hinterlässt Fragen, insbesondere was die negativen Gebote des Naturrechts angeht, die niemals und für niemanden eine Ausnahme kennen.

Das ist ja unwiderruflicher Kernbestand unserer Ethik: Bestimmte Dinge darf man nie und nimmer tun. Da gibt es nichts zu unterscheiden, und der Einzelfall verlangt hier nichts anderes als die Demut, sich wie alle anderen an dieses Verbot zu halten.

Leider fehlt auch die Unterscheidung von „forum internum“ und „forum externum“. Denn selbst da, wo zwei Wiederverheiratete wie Bruder und Schwester zusammenleben wollen, befinden sie sich für Außenstehende im objektiven Widerspruch zur Unauflöslichkeit der Ehe. Wie wollte man bei ihrer öffentlichen Zulassung zu den Sakramenten im „forum externum“ z.B. in ihrer eigenen Pfarrei den Eindruck der „Doppelmoral“ (AL 300) oder der Ungleichbehandlung vermeiden?

Und dann das Thema „Unterscheidung“ und „Einzelfall“. Grundsätzlich ist das völlig berechtigt, aber es greift nur da, wo die Partner ihre Situation im Sinn der Kirche zu ordnen bereit sind. Papst Franziskus sagt das eindeutig, das Wort der Deutschen Bischöfe ist da schon nicht mehr so klar.

Aber das ist doch der springende Punkt. Die meisten Betroffenen suchen nämlich einfach die Anerkennung ihres Status quo. Ich fürchte, die Berufung auf den Einzelfall wird faktisch zur Einstellung der Seelsorger führen: Alle Betroffenen sind ein Sonderfall, und wenn sie zur Kommunion gehen wollen, kann man es ihnen kaum verweigern. Wer fragt, erhält auch ein Ja. Am Ende wird die Berufung auf den Einzelfall bloß zum Feigenblatt. In Wirklichkeit haben wir dann längst darauf verzichtet, dass der Kommunionempfang das ernsthafte Bemühen um ein Leben nach der Ordnung Gottes voraussetzt. Also: Wehret den Anfängen!

Insofern schlägt jetzt die Stunde der Hirten: kluger, fester und klarsichtiger Bischöfe.

kath.net: Im Februar wurde von Francesco Kard. Coccopalmerio, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates für Gesetzestexte, ein Buch vorgestellt, in dem er sich mit dem achten Kapitel von AL beschäftigt. Der Kardinal schreibt dazu: „Sollte sich die Verpflichtung zu einem Leben ‚wie Bruder und Schwester’ für die Beziehung als Paar ohne Schwierigkeiten als möglich erweisen, dann sollen die beiden Zusammenlebenden dies gerne tun“. Dann meint der Kardinal aber: „Sollte eine derartige Verpflichtung aber Schwierigkeiten hervorrufen, scheinen die beiden Zusammenlebenden nicht an sich dazu verpflichtet zu sein, weil sie den Fall des Subjekts darstellen, von dem in Nr. 301 (von ‚Amoris Laetitia’) mit diesen klaren Worten die Rede ist: ‚Ein Mensch kann, obwohl er die Norm genau kennt, große Schwierigkeiten haben »im Verstehen der Werte, um die es in der sittlichen Norm geht«, oder er kann sich in einer konkreten Lage befinden, die ihm nicht erlaubt, anders zu handeln und andere Entscheidungen zu treffen, ohne eine neue Schuld auf sich zu laden’.“ Wie bewerten Sie eine derartige situationsethische Argumentation der Gradualität? Kann der subjektive Wille der objektiven Gegebenheit des Vergehens gegen ein göttliches Gebot vorangestellt werden?

Wollbold: Coccopalmieri ist ein liebenswürdiger Kardinal und Kirchenrechtler, der für den Papst in die Bresche springen will. Aber sein Buch dürfte sich als Schnellschuss erweisen. Schauen wir nur einen Punkt an. Papst Franziskus sagt: „Ein Mensch kann, obwohl er die Norm genau kennt, große Schwierigkeiten haben ‚im Verstehen der Werte, um die es in der sittlichen Norm geht‘.“ Letzteres ist ein Zitat aus „Familiaris consortio“ 33. In diesem Familienschreiben von Johannes Paul II. von 1981 heißt es gleich weiter: „Aber es ist die eine Kirche, die zugleich Lehrerin und Mutter ist. Deswegen hört die Kirche niemals auf, aufzurufen und zu ermutigen, die eventuellen ehelichen Schwierigkeiten zu lösen, ohne je die Wahrheit zu verfälschen oder zu beeinträchtigen. […] Darum muß die konkrete pastorale Führung der Kirche stets mit ihrer Lehre verbunden sein und darf niemals von ihr getrennt werden.“ Insofern kann Coccopalmieri dieses Zitat nicht benutzen, um das Gegenteil zu behaupten. Ganz ähnlich betont ja auch „Amoris laetitia“ 307 selbst: „Um jegliche fehlgeleitete Interpretation zu vermeiden, erinnere ich daran, dass die Kirche in keiner Weise darauf verzichten darf, das vollkommene Ideal der Ehe, den Plan Gottes in seiner ganzen Größe vorzulegen.“

Der entscheidende Punkt von „Amoris laetitia“ ist nun der: Was an Verwirklichung dieses Ideals verlangt Gott selbst von den Betroffenen hier und jetzt? Das kennen wir aus der Beichte, z.B. bei Gewohnheitssünden, wo es schwer fällt, sich mit von einem Augenblick auf den anderen davon zu lösen.

Dasselbe gilt auch vom Leben in zweiter Ehe nach Scheidung: Da darf und muss man das ernsthafte Bemühen darum verlangen, die notwendigen Schritte zu tun, z.B. getrennte Schlafzimmer. Garantien kann keiner abgeben, aber bloße Absichtserklärungen sind auch zu wenig. Ist das zu streng?

Nach meiner Erfahrung hängt alles daran, ob die beiden die Ordnung Gottes wirklich bejahen. Ist das nicht gegeben, dann fällt auch der kleinste Schritt schwer.

Daran hängt es und nicht daran, ob sich das „ohne Schwierigkeiten als möglich erweisen“ kann. Mir wäre es auch lieber, wenn man Steuern nur bezahlen müsste, wenn sich das „ohne Schwierigkeiten als möglich erweisen“ würde – aber leider ist das nun einmal weder weltlich noch geistlich ein Kriterium.

Mein Gott, wenn gut leben ohne Schwierigkeiten möglich wäre, wozu hätte der Heiland dann zur Kreuzesnachfolge aufrufen müssen?

Einzelne Paare werden vielleicht dagegen anführen, ihr Gewissen sage ihnen, es sei schon in Ordnung so, alles andere falle ihnen zu schwer oder sie seien sich sicher, dass die Liebe Gottes größer ist als die kirchliche Ordnung. In diesem Fall muss der Priester ruhig und gewinnend ihren Irrtum aufklären und ihnen den Willen Gottes nahezubringen versuchen. Das wird er mit viel Verständnis dafür tun, dass dies Umkehr und große Anstrengungen einschließen wird. Aber unzumutbar ist es nie.

Wohl aber kann ein Seelsorger schließlich merken, dass seine Worte noch nicht auf fruchtbaren Boden gefallen sind und dass das Paar trotzdem zur Kommunion geht. In diesem Fall mag er zu dem Schluss kommen, dass er besser stillschweigend darüber hinweggeht, für sie betet und den Gesprächsfaden nicht abreißen lässt. Das ist die sogenannte „dissimulatio“, um Schlimmeres zu verhindern. Sie ist aber keine Toleranz oder gar Akzeptanz einer irrigen Gewissensentscheidung.

Interview 2015: Prof. Andreas Wollbold, Pastoraltheologe Ludwig-Maximilians-Universität München zu ZdK-Forderungen Wiederverheiratete/homosexuelle Paare


Foto Prof. Wollbold (c) Andreas Wollbold


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