Kandidat der Verzweiflung: Ein Barbar aus dem Norden

9. März 2017 in Buchtipp


Leseprobe aus dem Buch „Tatort Konklave“ von Ulrich Nersinger


Linz (kath.net)
Die Päpste der Renaissance schenkten der Welt bis heute Unvergessenes, sie förderten die Wissenschaften und die Schönen Künste. Ihr Lebensstil und ein unwürdiger Umgang mit geistlichen Schätzen und Ämtern begünstigten die Spaltung der Christenheit. Ein Kurswechsel war nötig - und er kam unerwartet …


Im Alter von nur 14 Jahren war Giovanni de’Medici zu höchsten Ehren gekommen. 1489 hatte Papst Innozenz VIII. den zweitgeborenen Sohn des Herrschers von Florenz im Geheimen zum Kardinal erhoben. Drei Jahre später wurde seine Ernennung öffentlich gemacht. Zu diesem Anlass schrieb ihm sein Vater, Lorenzo il Magnifico: „Seid immer eingedenk, dass nicht Eure Verdienste, nicht Euere Klugheit noch Euere Handlungsweise Euch zu dem gemacht haben, was Ihr seid, sondern dass Gott selbst Euch zum Kardinal berufen hat.

Ihm sollt Ihr Euch durch ein heiligmäßiges, vorbildliches und ehrenhaftes Leben dankbar erweisen. Seid immer liebreich im Umgang mit den Kardinälen und mit anderen Menschen und beleidigt niemand. Da ich Euch nun ganz Gott und seiner Heiligen Kirche hingegeben habe, müsst Ihr ein Mann der Kirche werden. Und Ihr müsst das Wohl der Kirche und des Apostolischen Stuhles über alles andere stellen.“
Der hoch gebildete und den schönen Künsten zugeneigte Purpurträger sollte noch eine weitere Stufe in der kirchlichen Hierarchie hinaufsteigen. Im Konklave des Jahres 1513 wurde er als Leo X. zum Papst gewählt. Die Humanisten feierten und bejubelten den neuen Oberhirten der Kirche als Förderer der Künste und Wissenschaften; „die Poeten Roms verkündigten den Anbruch des goldenen Zeitalters“ (Ferdinand Gregorovius).

Als der Papst sich in feierlicher Prozession zum Lateran begab, um von seiner Bischofskirche Besitz zu ergreifen, konnte er in Anspielung auf seine beiden Vorgänger — Alexander VI. und Julius II. — und auf seine eigene Person an einem Triumphbogen die Worte lesen: „Einst hat Venus geherrscht, dann kam an die Reihe der Kriegsgott, nun beginnet der Tag, hehre Minerva, für dich.“
Trotz seiner Vorliebe für Weltliches und seiner nicht zu leugnenden Verschwendungssucht zeigte sich Leo X. stets hilfsbereit gegenüber den Armen und Bedürftigen. „Er teilte das Geld aus, ohne es zu zählen; ja er rief die Umstehenden freundlich zu sich und frug sie, ob sie in ihrem Hauswesen etwas drücke. Gern steuerte er auf seinen Durchzügen arme Jungfrauen aus und bezahlte den kranken und alten Leuten oder von großer Kinderlast bedrückten Familien ihre Schulden.

Bald sind es Kirchen oder Klöster, bald eine Frau in gesegneten Umständen, bald eine Unglückliche, der das Haus abgebrannt ist, bald ein Jüngling, der studieren, oder ein Mädchen, das heiraten will, bald die Armen, welche die weitgerühmte Freigebigkeit des großmütigen Herrschers erfahren“, berichtet Ludwig von Pastor in seiner Geschichte der Päpste.
So ganz schien der Medici-Spross die frommen Ermahnungen seines Vaters also nicht vergessen zu haben. Verdienste erwarb sich Leo X. in der Sorge, die er dem Volk des Alten Bundes zukommen ließ; die Juden nahm er stets vor Anfeindungen in Schutz — sogar sein Leibarzt war mosaischen Bekenntnisses. Die drohende Spaltung der Christenheit konnte der kirchliche Renaissance-Fürst aber nicht erkennen, Martin Luthers Aufbegehren war für ihn ein bloßes „Mönchsgezänk“, das er mit einem Lächeln abtat.

In dieser Hinsicht erwies sich sein Pontifikat als verhängnisvoll für die Geschichte der Kirche. Nach dem Tode des Papstes erhofften daher Christen in allen Ländern der Erde einen Kurswechsel im Herzen des katholischen Glaubens, eine geistliche Erneuerung an der Spitze der Kirche.
Am Vorabend des Konklave hätte der moralische Zustand des Kardinalskollegiums nicht schlimmer sein können. „Es war in seiner Mehrheit ganz verweltlicht. Es bot ein nur zu getreues Abbild jener Zerrissenheit und Feindschaft, welche damals die christliche Welt zersetzten. Die Spaltung der Wähler war so groß, dass viele glaubten, ein Schisma stände unmittelbar bevor“, urteilt Ludwig von Pastor. „In einer Schenke, in einer Wechselstube, in einem Bordell wird über Petrus entschieden“, ist auf einem Flugblatt hundertfach in der Ewigen Stadt zu lesen. Neben dem sittlichen Verfall im Kardinalskollegium und den üblichen Flügelkämpfen unter den 39 Purpurträgern bedroht eine Reihe unwürdiger Schauspiele die kommende Papstwahl.

Nicht einmal vier Jahre sind vergangen, seitdem einige Kardinäle in ein Attentat auf Leo X. verwickelt waren. Kardinal Alfonso Petrucci, ein skrupelloser Kirchenfürst, der bei dem Medici-Papst in Ungnade gefallen war, hatte mit einigen Komplizen die Ermordung des Pontifex beschlossen. Der Anschlag schlug fehl. An Petrucci als Initiator des Komplotts wurde die Todesstrafe vollzogen; die übrigen Kardinäle harten Bestrafungen unterzogen. Einer der ehemaligen Mitverschwörer Petruccis, Adriano Castello, war seiner hohen Würde durch päpstlichen Spruch verlustig gegangen, will aber dennoch am Konklave teilnehmen. Die im Vatikan versammelten Kardinäle brauchen sich jedoch mit dem Ansuchen ihres ehemaligen Kollegen letztendlich nicht zu beschäftigen. Noch während der Sedisvakanz stirbt Castello, ermordet durch die Hand seines Leibdieners.

Im fernen England macht sich der Erzbischof von York, Kardinal Thomas Wolsey, Hoffnungen auf den Thron des heiligen Petrus. Der ehrgeizige Lordkanzler König Heinrichs VIII. ist bereit hierfür mehr als 100.000 Dukaten aufzubringen. Das englische Kabinett und der König selbst treten bei Kaiser Karl V. nachdrücklich für die Wahl ihres Landsmannes ein. Karl, zugleich König von Spanien und Herrscher über die reichen Niederlande, ist nicht nur der mächtigste Mann Europas, sondern auch durch ein Bündnis gegen Frankreich mit England verbunden. Der 22-jährige Habsburger gibt Wolsey und seinen Fürsprechern unverbindliche Versicherungen, die der Kardinal zu seinen Gunsten interpretiert. In seiner Hybris schwingt er sich zu der Forderung auf, der Kaiser möge doch seine Truppen nach Rom marschieren lassen und die Kardinäle durch Gewalt zwingen, ihn zu wählen. „Der Sohn eines Londoner Flussschiffers will Menschenfischer werden“, spottet Karl in Anspielung auf die Herkunft des englischen Kardinals. Er unternimmt nichts, um Thomas Wolsey zu fördern.

Wenn es einen Favoriten unter den Kardinälen gibt, so ist es Giulio de’Medici, der Erzbischof von Florenz und Cousin des verstorbenen Papstes. Doch der Widerstand gegen ihn ist erheblich, auch wenn die Partei der Medici über gut ein Drittel der Stimmen verfügt. Dass Misstrauen seiner Feinde ist übergroß. Da der Kardinal gute Beziehungen zur Päpstlichen Schweizergarde unterhält, erwirken sie, dass man als Wache für das Konklave weitere 1.500 Mann anwirbt. Giulio de’Medici muss erleben, wie einer der Männer, die sich gegen seinen Vetter zu einem Mordanschlag verschworen hatten, nun Stimmung gegen ihn macht. Francesco Soderini, der Bischof von Palestrina, war an der Verschwörung des Petrucci beteiligt gewesen und hatte in der Engelsburg eingesessen. Von Leo X. ins Exil geschickt, hatte er geschworen, „eine Wiederkehr der mediceischen Tyrannei“ zu verhindern.

Der Medici erkennt, dass er seine eigene Person nicht durchzusetzen vermag. Nun will er zumindest der Papstmacher sein. Doch weder seinen Kandidaten noch jenen der anderen Parteien gelingt es, die notwendige Stimmenzahl auf sich zu vereinigen. Das Chaos droht. Da entscheidet sich Giulio Kardinal de’Medici zu einem ebenso mutigen wie außergewöhnlichen Schritt. In der Wahlversammlung steht er auf und richtet das Wort an die erschöpften und ratlosen Teilnehmer des Konklave: „Ich sehe, dass von uns keiner Papst werden kann. Wir müssen uns mithin nach einem umsehen, der nicht zugegen ist, jedoch muss es ein Kardinal und eine gute Persönlichkeit sein.“ Als er in den Gesichtern seiner Mitwähler Anzeichen der Zustimmung sieht, fährt er fort: „Nehmt den Kardinal von Tortosa, einen ehrenwerten Mann von 63 Jahren, der allgemein für heilig gilt.“
Dann erhebt sich der Dominikanerkardinal Tommaso de Vio, genannt Cajetan. Die Purpurträger halten den Atem an. Sie erwarten eine harsche Erwiderung des hoch gelehrten und hoch angesehenen Mannes, der 1518 auf dem Reichstag von Augsburg Martin Luther verhört hat. Cajetan gilt als entschiedener Gegner der Medici. Doch es kommt anders als erwartet. Der Dominikaner lobt den Bischof von Tortosa und Erzieher Kaiser Karls V. in den höchsten Tönen.

Er gibt ihm seine Stimme. Der Bann ist gebrochen. Immer mehr Purpurträger stimmen dem Vorschlag des Medici zu. Sogar die Partei der Colonna votiert für den in Spanien weilenden Kandidaten. Nur Kardinal Fraciotto Orsini schreit in die Versammlung mit sich überschlagender Stimme hinein: „Oh, ihr Dummköpfe, ihr Wahnsinnigen.“ Vergebens.
Der Wahlakt hat nur wenige Augenblicke gedauert. Die Entscheidung ist aus der Verzweiflung heraus geboren. Und so manchem Kardinal wird erst jetzt bewusst, was er getan hat. Er hat einen Deutschen, einen in Rom völlig Unbekannten auf den päpstlichen Thron erhoben. Denn der Bischof von Tortosa, den die Purpurträger am 9. Januar 1522 völlig überraschend zum Nachfolger des hl. Petrus berufen haben, ist Kardinal Adrian Florenszoon Dedel, geboren im damals zum römisch-deutschen Reich gehörenden Utrecht.

Zugleich ist er ein enger Vertrauter des Kaisers und Regent in Spanien. Viele beginnen erst jetzt, die Tragweite der Wahl zu begreifen. Doch eine Korrektur ist nicht mehr möglich. Das Fenster, aus dem heraus den Gläubigen das Ergebnis des Konklave verkündet wird, ist bereits geöffnet. Der Protodiakon des Heiligen Kollegiums, Kardinal Marco Cornaro, nennt den auf dem Petersplatz Wartenden den Namen des neuen Pontifex. Cornaro aber verfügt über eine schwache Stimme und niemand versteht ihn. Die Menge wird unruhig. Kardinal Lorenzo Campeggio schiebt seinen Mitbruder zur Seite und verkündet kraftvoll den Entscheid des Konklave. Drunten herrscht heillose Verwirrung, Verblüffung hat sich breit gemacht.
Die Kardinäle — nun sich ihrer getroffenen Wahl bewusst — taumeln aus dem Apostolischen Palast. Ein Augenzeuge berichtet: „Ich glaubte, Geister aus der Vorhölle zu schauen, so bleiche und entsetzte Gesichter sah ich.“

Der Gesandte der Republik Venedig schreibt an den Dogen: „Die Kardinäle erscheinen mir wie tot, wie Leichname, die darauf warten, auf Bahren hinausgetragen zu werden.“ Vor Sankt Peter spielen sich dramatische Szenen ab. Unter den vielen Höflingen Leos X. hat sich die pure Verzweiflung breit gemacht: „Der eine weinte, der andere schrie, der dritte fluchte, alle waren darin einig, es werde mindestens sechs Monate dauern, bis der neue Papst komme, während sie unterdessen ohne Einnahmen seien“, so Ludwig von Pastor.

Im Innenhof des römischen Palastes der Medici wird ein „Erbe“ Leonardo da Vincis (1452-1519) zum Raub der Flammen. Das italienische Universalgenie, dem florentinischen Adelsgeschlecht eng verbunden, hatte den Römern zur Krönung Leos X. ein besonderes Spektakel geboten. Heiligenfiguren und Papstwappen aus Leinwand und Papier hatte Da Vinci mit heißer Luft gefüllt und zum Staunen der Zuschauer in den Himmel der Ewigen Stadt aufsteigen lassen.

Noch vor dem Einzug der Kardinäle ins Konklave hatte man die Pläne von 1513 aus dem Archiv geholt und ähnliche Kunstwerke mit dem Wappen des Kardinals Giulio de Medici angefertigt. Nun erhält der Majordomus des Palastes die Order, die prachtvoll gestalteten frühen „Heißluftballons“ zu zerstören und zu verbrennen. Eine voreilige Entscheidung, denn im November 1523 wird der Purpurträger aus dem Hause Medici doch noch den Stuhl des heiligen Petrus besteigen.
Die Wahl Papst Hadrians VI., des „Deutschen“, des „Barbaren“, stößt bei den Bewohnern der Ewigen Stadt auf wenig Zustimmung. Die Wut der Römer auf die Kardinäle ist so groß, dass die Purpurträger in den Tagen nach dem Konklave aus Angst ihre Paläste nicht verlassen und sich darin sogar vorsorglich verbarrikadieren. In der Ewigen Stadt kursiert ein Spottgedicht, das die Stimmung in der Bevölkerung treffend wiedergibt: „Oh, Du Verräter des Blutes Christi / Räuberisches Kollegium, das Du den schönsten Vatikan / Dem deutschen Zorn in die Hände gelegt hast, / Bricht Dir nicht das Herz vor Schmerz?“

Dem neuen Papst ist nur ein kurzes Pontifikat beschieden, in dem er jedoch seinen hohen Idealen treu bleibt und seine Umgebung durch einen vorbildlichen, ja heiligmäßigen Lebenswandel beschämt. Die wenigen Monate seiner Regierung, die der Kirche zum Segen und zum Ansporn werden, beeindrucken die Stadt am Tiber nicht im geringsten.
Am 14. September 1523 gibt Hadrian VI. seine Seele dem Schöpfer zurück. An seinem Grab in der deutschen Nationalkirche Santa Maria dell’Anima bei der Piazza Navona findet sich die Inschrift angebracht: „Wehe, wieviel kommt es doch darauf an, in welcher Zeit auch des trefflichsten Mannes Wirken fällt.“

Die Römer indessen schmücken das Haus des päpstlichen Leibarztes mit den Worten: „Dem Befreier des Vaterlandes!“

kath.net Buchtipp
Tatort Konklave
Von Ulrich Nersinger
Verlag Petra Kehl, 2013
ISBN 978-3-930883-60-8
Preis 17.40 EUR

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