Praktische Probleme der neuen Ehenichtigkeitsprozesse

24. November 2016 in Kommentar


Der Kölner Offizial Assenmacher zieht eine erste Bilanz. Gastbeitrag von Peter Christoph Düren


Köln-Vatikan (kath.net) Mitte November trafen sich zum 23. Mal Dozenten, Studierende und Praktiker des Kirchenrechts zur Jahrestagung der Fachzeitschrift DPM (De Processibus Matrimonialibus – Über die Eheprozesse), in diesem Jahr an der Universität Augsburg. Schwerpunktmäßig ging es um eine erste Bilanz der Neuregelungen des Eheprozessrechtes. Zum Thema „Schnellere sowie leichter zugängliche Prozesse unter sicherer Wahrung des Prinzips der Unauflöslichkeit“ hielt der für die (Erz -)Diözesen Köln, Essen und Limburg zuständige Offizial, Domkapitular Prälat Dr. Günter Assenmacher, den Eröffnungsvortrag.

Vor einem Jahr hatte Papst Franziskus mit den Apostolischen Schreiben „Mitis Iudex Dominus Jesus“ (MIDI) bzw. „Mitis et misericors Iesus“ (für den Bereich der katholischen Ostkirchen) neue Regeln für kirchliche Ehenichtigkeitsprozesse in Kraft gesetzt, vorbei an den sonst üblichen Konsultationswegen der Kurie und ohne die zweite Sitzung der Bischofssynode zum Thema Ehe und Familie abzuwarten, wie der Referent erläuterte.

Im Vorfeld der päpstlichen Neuregelungen war diskutiert worden, ob der Papst vielleicht die Kompetenz zur Feststellung der Ehenichtigkeit von den kirchlichen Gerichten auf einen anderen Weg verlagern werde. Doch Papst Franziskus erklärte in MIDI unmissverständlich vorweg, dass er in Kontinuität zu seinen Vorgängern an der Rechtstradition festhalte, nicht, weil dies „von der Natur der Sache her erforderlich wäre, sondern vielmehr weil die Notwendigkeit des größtmöglichen Schutzes der Wahrheit des heiligen Bandes dies fordert“. Somit müssen sich betroffene Geschiedene, die die Gültigkeit ihrer gescheiterten Ehe bezweifeln und nun eine neue, kirchlich gültige Ehe schließen wollen, auch weiterhin an die kirchlichen Gerichte wenden – ein Verfahren, zu dem sie vom Papst ausdrücklich ermutigt werden.

Papst Franziskus hatte erklärt, dass durch die neue Regelung „keinesfalls die Nichtigkeit der Ehen befördert werden“ solle. Es gehe ihm vielmehr um eine raschere Durchführung der Prozesse und eine erleichterte Zugänglichkeit der kirchlichen Gerichte. Tatsächlich kann solch ein Prozess jahrelang dauern, was für die Betroffenen eine große Belastung darstellt.

Die gravierendste Änderung im neuen päpstlichen Gesetz stellt die Abschaffung der seit dem Jahr 1742 geltenden, sehr zeit- und personalaufwändigen „Duplex-conformis“-Regel dar: Zur Feststellung der Ungültigkeit einer Ehe genügte bislang nicht die Entscheidung eines einzigen kirchlichen Gerichtes, vielmehr musste das Nichtigkeitsurteil im Instanzenzug durch das Gericht eines anderen Bistums per Dekret oder nach einer erneuten Untersuchung der Sache bestätigt werden. Erst dann war die Annullierung der Ehe rechtskräftig. Papst Franziskus verfügte nun, dass ein Nichtigkeitsurteil unmittelbar Rechtskraft erhält, wenn es innerhalb der gesetzlichen Frist weder von den Parteien noch von der Ehebandverteidigung angefochten wird.

Offizial Assenmacher, der die Legitimität dieser päpstlichen Entscheidung keineswegs infrage stellte, sondern die dafür nicht erst in MIDI angeführten pastoralen Gründe anerkannte, konnte jedoch in seinem Vortrag nicht umhin, auf schwerwiegende Folgen dieser gesetzlichen Neuregelung hinzuweisen: „In meinen Augen ist dies nicht nur eine Zäsur, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach eine Entscheidung, die einen merklichen Verlust für die Qualität der Rechtsprechung bedeutet.“ Etliche Verfahren seien bislang in der II. Instanz nicht einfach durch ein Dekret bestätigt worden, vielmehr habe man diese Verfahren nochmals neu aufrollen müssen und erst so zu der notwendigen „moralischen Gewissheit“ gefunden, dass die entsprechende Ehe nicht gültig zustande gekommen sei. Es sei durchaus auch vorgekommen, dass Ehen, die in I. Instanz für ungültig erklärt worden seien, in der II. (und evtl. auch einer III.) Instanz nicht das Urteil „ungültig“ erhalten hätten. Der Einschätzung mancher Richterkollegen, die die Rechtsprechung ihres eigenen Gerichtes für so vorbildlich halten würden, dass noch nie eine ihrer Entscheidungen gekippt worden wäre, konnte sich Assenmacher nicht anschließen.

Aufschlussreich waren in diesem Zusammenhang die vom Referenten genannten Zahlen: An deutschen Kirchengerichten wurden im Jahr 2015 in I. Instanz 523 Urteile gefällt, davon stellten 438 die Nichtigkeit der beklagten Ehe fest. Zwar wurde der weitaus größte Teil dieser Urteile auf dem Weg des sogenannten „Dekretverfahrens“ in der II. Instanz bestätigt. Allerdings wurden 2015 in 50 Fällen in der II. Instanz Verfahren nochmals neu verhandelt. Und immerhin in 21 Fällen wurde die vorinstanzliche Entscheidung nicht bestätigt. Nach altem Recht sind diese 21 Ehen nun weiterhin als gültig zu betrachten. Hätte damals bereits das neue Verfahren gegolten, so würden diese 21 Ehen aufgrund der Entscheidung der I. Instanz als ungültig betrachtet, sofern nicht infolge einer eingelegten Berufung das Verfahren hätte fortgeführt werden müssen. Wenn diese Zahl auch nur etwa vier Prozent der Fälle ausmacht, so zeigt sich damit doch, dass künftig mit einer bestimmten Zahl von Annullierungen zu rechnen ist, die nach altem Recht nicht ausgesprochen worden wäre. Mit anderen Worten: Dem durchaus verständlichen Wunsch nach einem schnellen Abschluss des Prozesses wird die Rechtssicherheit nachgeordnet.

Neben dieser Minderung der Rechtssicherheit sei darüber hinaus auch von einer Erschwernis der Einheit der Rechtsprechung auszugehen, so der Referent. Denn bislang waren nicht nur das Gericht eines Bistums, sondern regelmäßig die Gerichte zweier Bistümer mit der Überprüfung der Gültigkeit der jeweiligen Ehen beschäftigt. Das Prinzip der doppelten Entscheidung sollte auch verhindern, dass sich unbemerkt und unbeanstandet eine eigenmächtige Prozessführung und eine laxere Rechtsprechung entwickelte. Der Wegfall dieser rechtlichen Kontrolle durch eine weitere Instanz, der auch die geringere Inanspruchnahme der Rota Romana nach sich zieht, birgt das folgenreiche Risiko, dass die Rechtsprechung im deutschen Sprachraum nicht mehr einheitlich erfolgt.

Die Entscheidung über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Ehe beinhaltet eine große Verantwortung bei den kirchlichen Richtern. Nachdem die Kontrollfunktion des unabhängigen zweiten kirchlichen Gerichts nun, außer im Fall der Berufung, aufgegeben wurde, ist die Ehebandverteidigung massiv in die Pflicht genommen. Denn nur sie kann neben den Parteien das Urteil anfechten und damit ein Verfahren in II. Instanz auslösen. Man könne sich, so der Referent, lebhaft vorstellen, in welche Konflikte der Ehebandverteidiger gerate, wenn dieser sich überlegen müsse, ob er Berufung gegen ein Urteil seiner Kollegen am Ort einlege oder nicht. Außerdem legt der Papst dem Ehebandverteidiger selbst noch Zügel an, indem er bestimmt hat, dass jede Berufung von vornherein abzulehnen ist, wenn sie „offenkundig nur der Verzögerung zu dienen scheint“.

Eine zweite von Papst Franziskus eingeführte Neuerung betrifft die „Kurzverfahren“, die auch beim kirchlichen Gericht angesiedelt sind, in denen aber, falls bestimmte Voraussetzungen für die Beweisführung gegeben sind, der Bischof persönlich als Richter tätigt wird. Im Unterschied zum Staat gibt es in der Kirche keine Gewaltenteilung: Der Bischof ist in seinem Bistum zugleich Legislative, Exekutive und Iudikative. Das heißt, dass jeder Bischof kraft seines Amtes oberster Richter in seinem Bistum ist. Allerdings übt er sein Richteramt in der Regel nicht persönlich aus, sondern durch von ihm dazu beauftragte Richter, die dafür eine eigene kanonistische Ausbildung absolviert haben müssen. Nicht von ungefähr taucht in der Entwicklungsgeschichte der kirchlicher Ämter der Offizial weit vor dem Generalvikar auf (in Köln 1250/51 im Vergleich zu 1390). Der Papst selbst verwies in diesem Zusammenhang auf die Gefahr, dass „ein abgekürztes Verfahren das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe gefährden könnte“, weshalb er dieses in die Hand des Bischofs lege, „der kraft seines Hirtenamtes mit Petrus in besonderer Weise Garant der katholischen Einheit im Glauben und in der Disziplin ist“. Dort setzte allerdings die Kritik von Offizial Assenmacher an, der fragte, inwieweit den konkreten Amtsinhabern die persönliche Ausübung der richterlichen Aufgabe abverlangt werden könne, obschon sie sich dafür fachlich nicht ausgebildet sähen und diese Aufgabe nicht auch noch zusätzlich zu ihrem bisherigen Arbeitspensum übernehmen könnten. Zwar dürften sich die Bischöfe vor ihrer Verantwortung nicht drücken und sich nicht weigern, auch in diesem Bereich nahe bei den Menschen zu sein. Allerdings werde hier den Bischöfen eine weitere Bürde aufgeladen, vor der sie zurückschreckten, zumal der Dekan der Römischen Rota sie u.a. mit den Worten umschrieben habe: „Wenn ein Bischof ein falsches Urteil spricht, dann verrät er Christus“.

Mit seinen kritischen Einwänden und anderen Bedenken gegen die Neuregelung der Eheprozesse stieß der Referent auf große Zustimmung im Auditorium.

Insgesamt schloss sich Prälat Assenmacher nach seiner differenzierten Darstellung der neuen Rechtspraxis den Worten eines hohen römischen Kurienbeamten an, der im Oktober 2015 als Antwort auf die Frage „Was sagen Sie zu MIDI?“ gesagt hatte: „Wir sind überrascht!“




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