Vom Verlust des Heiligen und von der Sehnsucht nach Aufbruch

16. November 2016 in Kommentar


Beobachtungen zur Situation der katholischen Kirche in Deutschland. Von Bischof Stefan Oster SDB


Passau (kath.net/Blog Bischof Stefan Oster) Im vergangenen Sommer bei einem Ferienaufenthalt in einer italienischen Kleinstadt: Hl. Messe an einem Sonntagvormittag. Die Menschen kommen kurz vor Beginn oder während des Wortgottesdienstes und begrüßen sich gegenseitig herzlich in der Kirche. Die paar, die noch kommen, kennen sich. Insgesamt sind vielleicht 25 Leute da, selbstverständlich die allermeisten über 60. Junge Leute sind nicht anwesend. Die Atmosphäre ist in der Kirche etwa so wie auf dem Kirchenvorplatz nach der Gottesdienst: gesellig, sommerlich, man unterhält sich bis der Pfarrer kommt. Bei seinem Eintreffen erheben sich alle, die Kantorin in der ersten Bank stimmt ein Lied an – ohne Orgel. Die meisten scheinen es zu kennen, der Gesang schleppt sich ein wenig mühsam dahin. Die Gebete und Texte von Lesungen und Evangelien kann man auf einem ausgeteilten Zettel mitlesen; eine ältere Frau übernimmt die Lesung aus dem Alten Testament, die anderen Gläubigen scheinen nicht allzu aufmerksam, auch nicht bei der zweiten Lesung – weder beim Zuhören noch beim Mitlesen. Die Lektorin der zweiten Lesung übernimmt auch das Halleluja vor dem Evangelium. Alles scheint sehr routiniert. Der schon sehr alt wirkende Pfarrer trägt das Evangelium vor und wird bei der Predigt auf einmal verständlich, vorher hatte er genuschelt. Aber in der zweiten Reihe werden die Gläubigen sichtlich unruhig, als er die acht Minuten überschreitet. Kopfschütteln, gegenseitige Bestätigung, dass es so nicht ginge. Irgendwann hört der Pfarrer wieder auf. Credo und Fürbitten werden vom Zettel gelesen, Gabenbereitung erledigt der Pfarrer mangels Ministranten selbst. Das Sanctus wird nur gesprochen, das Agnus Dei ebenfalls. Und so geht es dahin… Als der Pfarrer am Ende den Segen gegeben hat, wenden sich die Gläubigen schon wieder der gegenseitigen, geselligen Unterhaltung zu, noch ehe er den Altarkuss vollzogen und den Gottesdienstraum verlassen hat.

Verlust der Erfahrung des Heiligen

Natürlich kann ich nicht beurteilen, wie der innere Zustand jedes Mitfeiernden bei dieser Hl. Messe war, aber ich hatte im Grunde zu keiner Minute den Eindruck, dass die Gläubigen hier einzeln oder als Gemeinschaft dem Heiligen begegnen; geschweige denn dass sie sich vorher darauf vorbereitet oder ihm einen inneren Nachhall durch Verweilen gegeben hätten. Es war einfach irgendwie wie immer, sonntags in der Kirche: Gewohnheit, Geselligkeit, ein wenig beten. Romano Guardini hat einmal gesagt, die Eucharistie sei die heiligste Handlung der Welt am heiligsten Ort der Welt. Aber hier in dieser Kirche war es kaum mehr als routinierte Beiläufigkeit, ein Versammlungssaal, ein vertrautes Ritual, das möglichst unkompliziert im Raum der Diesseitigkeit bleiben darf. Es ist äußerlich irgendwie richtig, aber es ist hoffnungslos richtig, es hatte nämlich so gar nichts von Heiligkeit.

Um mich richtig zu verstehen: Ich möchte diese Beschreibung ohne Anklage formulieren, weil ich glaube, dass ein solcher Gottesdienstvollzug für viele katholische Kirchen in Europa exemplarisch ist. Und dass zweitens in solchen Vollzügen eine Not zum Ausdruck kommt, die aber von den Teilnehmenden gar nicht mehr als Not erfahren wird: Der fast gänzliche Verlust einer Erfahrung von Ehrfurcht, Heiligkeit und Transzendenz geht einher mit einer Art gleichgültiger Hoffnungslosigkeit: Es glaubt kaum einer, dass die Begegnung mit dem Heiligen zu einer anderen inneren Haltung führt, es hofft wohl auch niemand mehr, dass sich die Erfahrung des Heiligen einstellen könnte – und daher wird es auch nicht vermisst: „Wir machen einfach weiter so wie immer.“ Freilich fragt man sich dennoch, warum niemand mehr nachkommt aus der jungen Generation – und man bemerkt, dass sich sogar nicht wenige unter den routiniert Gläubigen ebenfalls schleichend verabschieden – oder schlicht aussterben!

Die Krise Europas und die Krise der Kirche

Die Krise der Kirche in Europa ist eine Krise christlicher Identität. Der Glaube ist eine Form zu leben, eine Weise, die Welt zu sehen, ein Bewegung, Gemeinschaft zu bilden – und zwar, weil wir durch und in Christus Gott als unseren Vater kennen und mit ihm in Beziehung sind, als dem absolut Heiligen und zugleich dem ganz Nahen. In dem Maß, in dem wir Gott immer weniger kennen und lieben, zerfällt Gemeinschaft, verändert sich unser Blick auf die Welt und verändert sich unsere Art zu leben. Glaubensverlust macht ängstlicher, egoistischer und fördert Gemeinschaftsbildungen, die auf anderen Motiven gründen als darin, Gott und die Menschen lieben zu wollen. Der anwachsende Populismus mit seiner Illusion, einfache Lösungen anbieten zu können, die ökonomische und ökologische Krise, die Flüchtlingskrise, die Krise Europas sind in der Tiefe auch – und aus meiner Sicht vor allem – eine Krise des christlichen Fundaments unseres Kontinentes. Im Folgenden versuche ich den Zustand der Kirche in Deutschland anhand ausgewählter, konkreter Phänomene zu umreißen. Vieles davon ist wohl ähnlich in den Kirchen anderer Länder unseres Kontinents.

Weit weg vom genuin Christlichen

Kürzlich in Deutschland: Ein Gespräch mit drei Jugendlichen zwischen 17 und 20, alle drei im überwiegend katholischen Bayern aufgewachsen, alle drei mit einigen Jahren katholischem Religionsunterricht im Gymnasium, die Eltern mit einem Rest von Kirchenbindung: Man geht ab und zu mal hin, besonders zu den großen Festen. Die Fragen der jungen Menschen zeigen aber, wie weit sie eigentlich vom genuin Christlichen weg sind: „Zeigen nicht alle Religionen, dass es irgendwie darum geht, ein anständiges Leben zu leben? Sind Religionen oder ein religiöser Glaube nicht vielleicht Flucht, weil Menschen anders mit ihrem Leben nicht zurecht kommen? Wie können Christen eigentlich behaupten, dass das Christentum der einzig wahre Glaube sei? Belegt der Umgang der Kirche mit Homosexuellen oder wiederverheirateten Geschiedenen nicht schon im Ansatz, dass es hier nicht um Liebe, sondern vor allem um Macht einiger weniger Männer geht – und dass die Kirche schon allein deshalb völlig unglaubwürdig ist?“ Solche und andere, ähnliche Fragen stellen sie! Mit Recht. Aber um Christus selbst geht es im Grunde nie. Zum Gottesdienst gehen sie natürlich nicht. Warum auch? Sie verstehen nicht, was da gefeiert wird, es wird etwas gesprochen, was zu ihrem Leben von heute keinerlei Bezug zu haben scheint. Und dass es um einen Gott geht, der mit ihnen eine persönliche Beziehung leben will, hat ihnen noch niemand gesagt. Vermutlich weil die Gläubigen aus der älteren Generation im Durchschnitt so ähnlich unterwegs sind, wie diejenigen in der italienischen Messe von oben. Und irgendwie den Versuch zu machen, ein anständiger Mensch zu werden, lernt man aus Sicht der Jugendlichen mit anderen Institutionen sicher besser, bei Amnesty International vielleicht oder bei Greenpeace oder in einer spontan organisierten Hilfegruppe für Flüchtlinge – aber doch nicht mit der katholischen Kirche, die so einen miesen Ruf hat.

Blindenführer?

Ergebnis einer Umfrage in Deutschland: Wie oft gehen Priester, Diakone und hauptamtliche pastorale Mitarbeiter zur Beichte? Ergebnis: Über 50 Prozent der Priester beichten einmal im Jahr oder seltener, über 70 Prozent der ständigen Diakone beichten einmal im Jahr oder seltener! Bei den hauptamtlichen Pastoralreferenten und -referentinnen sind es über 80 Prozent, bei den Gemeindereferenten und -referentinnen über 90 Prozent. Bei den Gläubigen in unserem Land geht die Zahl derer, die die Beichte regelmäßig wahrnehmen, in sehr vielen Pfarreien und Pfarreiverbänden in Richtung Null. Die Versöhnung mit Gott im eigenen Leben, die Suche nach immer neuer Umkehr zu Gott, der Weg des gläubigen Menschen als ein Wachsen und Reifen im geistlichen Leben, in der Beziehung zum Herrn, spielt im Grunde in einem normalen Gemeindeleben keine Rolle mehr, und damit auch nicht das Sakrament der Versöhnung. Einzelne Ausnahmen gibt es selbstverständlich, aber sie bestätigen nur die Regel. Die Beichtpraxis unter Priestern und hauptamtlichen Mitarbeitern in der Pastoral erinnert an ein Wort aus dem Evangelium: Wer innerlich blind ist für die Wirklichkeit der Versöhnung mit Gott, taugt nicht dafür, andere Blinde zum Sehen zu führen.

„Anonyme Christen“?

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gab es in Deutschland in der Kirche einen Ausruf der Befreiung, der zugleich zum Imperativ der Verkündigung wurde: „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“. Niemand wollte noch Drohbotschaft verkünden, niemand wollte im starren Ritualismus, Moralismus und Dogmatismus stecken bleiben. Jeder wollte der freudigen Nachricht entsprechen, die das Konzil bekräftigt hatte: Christus ist ausnahmslos für alle Menschen gestorben und wir wollen mit allen Menschen guten Willens zusammen arbeiten. Irgendwie sind die Guten unter den Anderen doch auch Christen, wenn auch vielleicht „anonyme Christen“, wie Karl Rahner gesagt hatte. Alle gehören zusammen. Endlich freie Luft zum Atmen – zwischen den Konfessionen und Religionen und sogar mit den Atheisten.

Dass aber ein Kerntext des Konzils (Lumen Gentium, Kap 5) deutlich gemacht hatte, dass die Berufung zur Heiligkeit allen Gläubigen und nicht nur den Geistlichen und Ordensleuten geschenkt und aufgegeben ist, ist natürlich eher untergegangen. Das klang nämlich schon wieder so nach Forderung oder gar „Drohung“. Die Gläubigen in der Zeit des Konzils und danach waren erst einmal froh über den „neuen Geist“ in der Kirche. Sie haben ihren Kirchenraum und den veränderten Gottesdienst als befreiend erfahren, sie haben „die Gemeinde“ neu entdeckt als gemeinschaftlichen Lebens- und Glaubensraum für alle Arten von Engagement. Und im Gottesdienst durften sich die Menschen endlich beteiligen und mitwirken. Die Gefahr, dass die Menschen und die Gemeinde dabei sich selbst in den Mittelpunkt des Geschehens rückten, zulasten der inneren Ausrichtung auf Gott hin, ist längst genügend beschrieben worden, wenngleich diese Gefahr längst nicht überall gebannt wurde. Vielmehr bleibt die Versuchung beständiger Selbstbespiegelung gerade mangels der Erfahrung des „ganz Anderen“.

Heilsautomatismus statt Heilsuniversalismus

Eines der Hauptprobleme von damals für heute dürfte im Nachhinein sein, dass mit der großen und neuen „Weltoffenheit“ der Priester, der Ordensleute und der Kirche überhaupt der vom Konzil so betonte Heilsuniversalismus der Frohbotschaft („Christus ist für alle Menschen gestorben“) heimlich, aber sehr wirkungsmächtig in eine Art „Heilsautomatismus“ umgekippt ist: Wenn Gott alle Menschen liebt und für alle gestorben ist, dann werden sicher auch alle erlöst, automatisch! Und nach und nach verschwindet von hier jegliche Art von religiösem Anspruch an den Gläubigen – obgleich dieser doch von Jesus im Evangelium so oft so klar formuliert worden ist: „Niemand kann mein Jünger sein, der nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet. Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren, wer es um meinetwillen verliert, wird es gewinnen. Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein. Niemand, der die Hand an den Pflug gelegt hat und zurückschaut, taugt für das Reich Gottes. Wer nicht von Neuem geboren wird, kann das Reich Gottes nicht schauen.“ Dass solche und viele ähnlich herausfordernde Sätze auch im Evangelium stehen, wurde und wird kaum mehr thematisiert. Dass es im Leben jedes Gläubigen darum geht, sich für Christus und seine Kirche auch persönlich zu entscheiden, wurde und wird kaum je gesagt in der Verkündigung. Die heutige Krise der Priester- und Ordensberufungen ist neben anderen Faktoren aus meiner Sicht auch diesem Umstand geschuldet: dass es nur wenige Pfarreien, Gemeinschaften, Glaubenserfahrungen innerhalb des Katholizismus gibt, in denen ausdrücklich betont und gelebt wird, dass es im christlichen Glauben immer auch um die persönliche Entscheidung für Christus geht, und dass der geistliche Weg jedes Gläubigen je tiefer, desto mehr auch ein Weg der Entschiedenheit sein muss. Wirkliche gläubige Atmosphäre entsteht unter Menschen, die entschieden für Christus sind. Solche Erfahrungsräume des Glaubens sind Biotope für das Wachstum von Berufungen – und sie fehlen allenthalben.

Die „mittlere Generation“

Die zweite Generation der Gläubigen nach dem Konzil ist vielleicht diejenige, die heute die mittlere Generation ist. Wenn diese heute noch in der Kirche ist, hatten sie damals Kirche durch ihre Eltern oder aber in engagierter Jugendarbeit wahrgenommen. Mit vielen guten Initiativen für junge Menschen: Zeltlager, Ferienfahrten, Jugendgottesdienste – und immer mit der richtigen und wirklich frohen Botschaft verbunden, dass Gott jeden einzelnen liebt. Aber ungesagt oder unterschwellig wurde hinzugefügt: dass er deshalb auch nichts fordert! Denn das könnte ja wieder nach Drohbotschaft riechen. Es ist jedenfalls ein interessantes Faktum, dass die mittlere Generation von heute zum Beispiel kaum noch davon gehört hat, dass die sonntägliche Eucharistie verpflichtend wäre und ihr Versäumnis von der Kirche immer als schwerwiegende Sünde betrachtet wurde und wird. Oder man weiß in dieser Generation zwar, dass die Kirche eine ziemlich strenge Sexualmoral vertritt, aber mangels echter Auseinandersetzung oder ernsthafter Verkündigung glauben weite Teile der Kirche, dass das heute ohnehin niemand mehr so ernst nehmen würde – und dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sich Kirche hier ändere. Und bis es sich ändert, zählen sich die allermeisten der denkenden Katholiken zu denen, die auf der Seite dieser zwangsläufig kommenden Neuerungen stehen. Und sie wollen auf keinen Fall – Gott bewahre – „konservativ“ sein, wie der kleine Rest vermeintlicher „Betonköpfe“. Zum Gottesdienst geht diese Generation in der Regel eher sporadisch oder auch mal mit den eigenen Kindern, wegen der Werte, die man sich erhofft. Aber die Beichte hat man in der Regel zum letzten Mal als Kind abgelegt, und seitdem davon Abstand genommen. Beichte gehört ja wohl auch eher auf die Seite der Drohbotschaft als der Frohbotschaft!

Beschwichtigungskatholizismus

Dieser Befund führt dann auch dazu, dass die Mehrheit auch der aktiven Katholiken mittleren Alters in Deutschland nach außen eine Art „Beschwichtigungskatholizismus“ vertreten: „Ich bin noch in der Kirche – obwohl sie so rückständig ist… aber es gibt ja auch ein paar ganz gute Ansätze im sozialen Bereich und die Werte und so…“. Beschwichtigung bedeutet jedenfalls, dass man eher geneigt ist, sich für seine Kirchenmitgliedschaft zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen. Aber frohes, dankbares, selbstbewusstes und daher auch offensiv missionarisches Christsein ist kaum noch zu finden. Und weil manche Freikirche, evangelikale oder Pfingstkirche tatsächlich missionarisch unterwegs ist, ist missionarisches Christsein im Grunde generell des Fundamentalismus verdächtig. Und das wäre ja in den Augen vieler noch viel schlimmer als nur „konservativ“. Dass Papst Franziskus dezidiert zum missionarischen Christsein auffordert, wird in der kirchlichen und medialen Wahrnehmung bei uns im Grunde immer übersehen – meistens zugunsten auch nur der allerkleinsten Hinweise, die bei ihm auf eine Reform in den Sexualitäts-Themen hinweisen könnten, die dann umso größer und häufig entstellt berichtet und weiter getragen werden. Wenn aber Kirche nicht mehr missionarisch ist, ist das ein Hinweis dafür, dass die gläubige Identität schwach geworden ist, dass die Gläubigen nur noch wenig leben aus der wirklich empfangenen Gnade der Gotteskindschaft – und deshalb auch kaum mehr den Herzenswunsch haben, anderen Menschen in diese Kindschaft hinein zu helfen. In einer Zeit, in der der Druck der Säkularisierung als Rechtfertigungsdruck auf den Katholiken lastet, wird bloße Beschwichtigung freilich nicht mehr genügen. Der Exodus aus den Kirchen hält an. Wenn ich recht sehe, gibt es seit dem Konzil in keiner deutschen Diözese Zuwachs an Katholiken, dafür fortlaufend Kirchenaustritte und noch deutlicher schleichende Entfremdung.

Ungehörter Ruf

Die heutige junge Generation schließlich, also etwa die dritte nach dem Konzil, ist durchschnittlich vielleicht die der oben erwähnten Jugendlichen: Ihnen hat niemand mehr erzählt, erstens dass es einen Gott gibt, der ihnen in Christus und seinem Geist persönlich begegnen, der mit ihnen in persönlicher Freundschaft leben und ihnen den Zugang zum Reich des Vaters ermöglichen möchte. Und zweitens auch nicht, dass es in der Entscheidung für oder gegen Gott, für oder gegen den Glauben wirklich um etwas geht. Mehr noch: Dass es – wie es im Evangelium heißt – tatsächlich um Leben und Tod gehen könnte, glaubt ja angesichts eines vorherrschenden „Heilsautomatismus“ ohnehin niemand mehr. Glaube und Kirche sind daher für das Leben junger Menschen von heute in der Regel völlig ohne Bedeutung. Sie kennen ja auch kaum jemanden, der es mit der Christusbeziehung und der Entscheidung wirklich ernst nehmen würde. In der Bibel ist es jedenfalls Christus selbst, der mit größter Dringlichkeit zur Entschiedenheit drängt und er ist auch der, der öfter als jede andere biblische Gestalt von der Möglichkeit spricht, tatsächlich verloren zu gehen. Von innen her gesehen wirkt diese Dringlichkeit bisweilen wie bei einem, der sieht, wie die Menschen auf dem Bahngleis stehen und den herannahenden Zug nicht wahrnehmen – und der sein Leben dafür gibt, dass sie die Gefahr rechtzeitig entdecken und seinem Ruf folgen. Sind wir taub geworden für diesen so ernsthaften Ruf?

Das Wort Gottes im alltäglichen Leben?

Und noch eine Beobachtung zur inneren Glaubwürdigkeit: Das Konzil hat uns durch die Liturgiereform aber auch durch die Konstitution „Dei Verbum“ und andere Texte von Neuem gezeigt, welche zentrale Rolle die heilige Schrift im Leben der Kirche spielt und spielen soll. Seit der erneuerten Liturgie werden in der festlichen Hl. Messe drei Texte daraus gelesen, dazu der Psalm als Antwort des Gottesvolkes auf die erste Lesung. Wir heben die Heilige Schrift dabei im Gottesdienst ganz besonders hervor. Insbesondere das Evangelium wird herausragend gefeiert. Durch den Segen, den der Diakon eigens bekommt, durch Weihrauch, durch das begrüßende Halleluja, durch das Hören des Vortrags im Stehen, durch den Kuss des Evangeliums. Mit all diesen rituellen Handlungen wird verdeutlicht: Dieses Buch und seine Texte sind überaus bedeutsam, ja im Evangelium hören wir Jesus unseren Erlöser selbst; Ihn, der das Wort Gottes in Person ist und der in jedem von uns Fleisch und Blut werden will. Wenn wir von dieser Bedeutung der Schrift in der Liturgie aber fragen, welche Rolle dieses Buch tatsächlich im alltäglichen Leben der Gläubigen spielt, dann spüren wir schnell, dass die Kirche auch hier in riesiges Vermittlungsproblem hat. In nicht wenigen katholischen Familien gibt es Bibeln als Geschenk zu Erstkommunionfeiern oder Hochzeiten – und auch nicht selten steht das Buch auch noch bei der Beerdigung der Beschenkten unberührt im Schrank. Wie dankbar bin ich hier für das Beispiel vieler Protestanten, die uns zeigen, wie man ernsthaft mit dem Wort Gottes umgeht.

Bequemer Klerikalismus nach allen Seiten

Denn auch wenn Volkskirche vielerorts zu Ende geht, der Nachklang der Volkskirche führt immer noch dazu, dass Priester und Gläubige vielfach einen für beide Seiten bequemen Klerikalismus leben: Für die Inhalte von Schrift und Glauben und für den Vollzug des gemeinschaftlichen Betens sind demnach im Grunde ausschließlich die Priester oder wenigstens noch die Hauptamtlichen zuständig, das normale Kirchenvolk braucht sich darum aber nicht zu kümmern, sondern kümmert sich eher um die Organisation von Pfarrfest, Adventsbasar oder Ähnlichem. Gemeinsames Gebet, Schriftbetrachtung, inhaltliche Beschäftigung mit Themen des Glaubens, das Bemühen um geistliches Wachstum sind alles Dinge, die man zuständigkeitshalber gerne dem hauptamtlichen Personal überlässt – und das religiöse Pflichtprogramm der Gläubigen auf ein Minimum reduziert hält. Vielleicht hat eine solche Arbeitsteilung als Form gemeinschaftlichen gläubigen Lebens einst genügt, um den Glauben auf einem bestimmten Niveau in der Fläche aufrecht zu erhalten – ohne je damit sagen zu wollen, früher sei alles besser gewesen! Aber vorbereitend war und ist sie sicher nicht für ein plurales und „säkulares Zeitalter“ (C. Taylor), in dem allenthalben überzeugende Gründe für die eigene Glaubenshaltung eingefordert werden, weil ansonsten die schiere Relevanzlosigkeit eines bloß mehr oberflächlichen Glaubens für heute allzu offenbar wird. Heute stehen wir also an dem Punkt, an dem eine unverbindlich gewordene Volkskirche von Voraussetzungen lebt, die sie selber nicht mehr begründen und noch weniger vermitteln kann. Bekehrung lässt sich nicht verordnen, aber dass wir sie allenthalben nötig haben, steht für mich außer Frage – und bin mir dabei auch der eigenen Hinfälligkeit nur allzu bewusst.

Verlust des Gebetslebens?

Ein weiterer Aspekt: Vor längerer Zeit habe ich mit einigen pastoralen Mitarbeitern gesprochen, die sich als Gemeindereferentinnen und -referenten auf die Aussendungsfeier zu ihrem zukünftigen Dienst vorbereitet haben. Es war ein offenes Gespräch mit jungen guten und engagierten Leuten – bei denen ich auch nach der Praxis ihres geistlichen Lebens fragen durfte: Die ehrlichen Antworten waren einigermaßen erschütternd. Eine Person sagte, sie würde immerhin versuchen, sonntags in die Hl. Messe zu gehen, aber es würde ihr leider nicht immer gelingen – mehr nicht! Eine andere sagte, sie würden zuhause mit der Familie und den Kindern regelmäßig ein Tischgebet sprechen – mehr nicht! Eine dritte sagte, sie würde immer mal wieder in der Bibel lesen – mehr nicht. Keine der Gefragten hatte so etwas wie ein vertieftes, regelmäßiges, persönliches Gebetsleben. Aber alle würden in den Dienst der Verkündigung gesendet! Und ich vermute, dass es in der Ausbildung auch nicht allzu viele Menschen gab, die diese jungen Leute wirklich in ein Leben des Gebets einführen und ihnen die Bedeutung dessen so klar machen konnte, dass sie von selbst Disziplin und Initiative für ein lebendiges, regelmäßiges Gebet entwickeln konnten. Es ist sehr eigenartig: In Büchern, Texten, manchen Predigten und geistlichen Vorträgen hören Menschen in der Kirche immer wieder, wie wichtig Gebet als Vollzug gelebter Gottesbeziehung ist. Aber wenn ich Menschen in der Kirche, auch hauptamtliche Mitarbeiter, um eine ehrliche Antwort nach ihrem persönlichen Beten bitte, dann lerne ich jedes Mal neu, dass es im Grunde ziemlich selten ist, dass Gläubige dem Gebet einen substantiellen und regelmäßigen Platz in ihrem Leben geben. Auch hier wieder: Die, die es tun, sind bei weitem die Minderheit und bestätigen eigentlich den Befund. Aber warum ist es so schwer, wirklich in ein lebendiges, treues und intensives Gebetsleben hineinzufinden, das demjenigen auch nur halbwegs ehrlich antwortet und ernst nimmt, zu dem ich da bete?

Die Kluft zwischen den Lagern und die Revolution der Liebe

Zudem: In der Kirche in Deutschland gibt es eine wachsende Kluft zwischen so genannten Konservativen und Liberalen. Die große Mehrheit vieler von der Kirche zu vergebenden Arbeitsplätze, von Priestern angefangen über das pastorale Personal bis hin zu den Professuren der Theologie oder den Mitarbeitern bei der Caritas gehört wohl tendenziell eher der liberalen Seite zu, also vielen Menschen, die es mit den Inhalten des überlieferten Dogmas, der Schrift und der Liturgie nicht mehr ganz so genau nehmen, dafür für ein verstärktes gesellschaftliches und diakonisches Engagement plädieren; denn Christentum würde sich doch in der Nächstenliebe und im Einsatz für die gute Sache bewähren. Ich frage mich ständig, warum eigentlich kaum einer sieht oder artikuliert, wie wenig fruchtbar die liberalen Ansätze heute sind: Wenn zum Beispiel unsere 500 000 Caritas-Mitarbeiter in Deutschland wirkliche Zeugen der Liebe Christi wären, dann müssten die Kirchen im Grunde voll sein von Menschen, die die Quelle dieser Liebe auch kennen lernen und zum Beispiel in der Eucharistie empfangen wollen.

Professionalisierte Nächstenliebe

Das Problem bei so einer These ist: Kaum noch jemand glaubt, dass die Liebe Christi eine andere ist als das, was alle Welt durchschnittlich für Nächstenliebe hält, auch nicht die Mehrzahl derjenigen, die bei der Caritas arbeiten. Und kaum jemand lebt aus der grundstürzenden Erfahrung, dass es genau diese Liebe Jesu ist, mit der uns Gott berühren, beschenken – und zu der er uns befähigen und senden will: „Caritas“ heißt absichtslose Liebe, die in der Tiefe qualitativ neu ist gegenüber allem, was Menschen nur vordergründig für Liebe halten. Es wird in unseren Einrichtungen zweifellos gut gearbeitet, die Erwartungen einer säkularen Gesellschaft hervorragend erfüllt, vielen Menschen wird Gutes erwiesen. Gott sei Dank. Aber Diakonie als Nächstenliebe wird eben wegen solcher Erwartungen eher professionalisiert, institutionalisiert und ökonomischen Bedingungen unterworfen und damit letztlich auch nivelliert – den „Leistungen“ vergleichbarer Wohlfahrtsorganisationen angeglichen, „Caritas“ ist so gesehen nur in wenigen Ausnahmefällen die „caritas Christi“ – und diese Ausnahmen sind gebunden an den persönlichen, überzeugenden Glauben inzwischen eher weniger Einzelner.

Zurückhaltung in der Praxis

Daher ist auch die folgende Beobachtung nicht weiter verwunderlich: Wo in einer durchschnittlichen Pfarrgemeinde in Deutschland ein Pfarrer wirklich mit normalen Gläubigen im Geist der Liebe Christi zum Beispiel einen regelmäßigen Krankenbesuchsdienst etablieren will, oder einen Dienst an Obdachlosen, oder einen Versorgungsdienst von alten Menschen zuhause, dann merkt er in der Regel, wie wenig sich auch hier durchschnittliche Kirchenbesucher von Nichtgläubigen unterscheiden. Solche Projekte sind schwierig, man neigt dazu, sie der Caritas zu überlassen: „Die machen das professionell – und werden dafür bezahlt.“ Dass die im Glauben und in der Eucharistie empfangene Liebe Christi uns tatsächlich hinaus drängen würde, wie Paulus sagt (2 Kor 5,14), ist eher selten zu beobachten. Die gläubige Erfahrung lehrt aber ebenso diese: In einer normalen Gemeinde sind solche Dinge einfacher ins Leben zu rufen mit eben denjenigen Gläubigen, die wirklich sehr bewusst aus der Eucharistie und dem Gebet leben. Mutter Teresa wird weltweit gefeiert für ihren Dienst an den Ärmsten. Dass sie ihre Kraft dafür aus täglich zweistündiger eucharistischer Anbetung geschöpft hat, wird in der Regel weder gesagt noch gesehen.

Unfruchtbarkeit auf beiden Seiten

Freilich, es geht bei dieser Skizzierung auch nicht einfach nur darum, die Fruchtlosigkeit oder Tendenz zur geistlichen Oberflächlichkeit des liberalen Katholizismus zu bemängeln. Auch die so genannten Konservativen sind oft nicht fruchtbarer. Sie beharren zwar vielfach auf Dogma und Liturgie, aber nicht selten ist auch bei ihnen wenig zu erleben von einem wirklichen liebenden Dienst am Nächsten. Die bloße Beharrung auf einer satzhaften Wahrheit und korrekten Liturgie macht noch längst nicht das eigene Herz größer und weiter. „Spirituelle Weltlichkeit“ nennt Papst Franziskus eine Versuchung, die unter besonders geistlichem, aber eben nur äußerlichem Anspruch daherkommt – und dennoch bei sich bleibt, ohne je über sich hinauszukommen. Kirche, die sich bei aller vermeintlichen Frömmigkeit doch nur um sich selbst und den eigenen Selbsterhalt dreht. Nur die Revolution der Liebe selbst, die von Jesus und niemand anderem kommt, bewirkt die Herzenserweiterung. Aber nur sie! Der wirkliche „Sieg“ im Kampf zwischen den kirchlichen Lagern ist daher nicht, wenn die eine oder andere der beiden Gruppen die Oberhand behält und diesen Sieg feiert. Der eigentliche Sieg ist eben die Revolution der Liebe, der Barmherzigkeit, von der Papst Franziskus nicht aufhört zu sprechen. Er ist wachsende Heiligkeit: Ein Leben aus dem Gebet, den Sakramenten und in der Treue zum überlieferten Glauben der Kirche, was einen dann befähigt, im Liebesdienst weit hinaus zu gehen und den Menschen die Füße zu waschen, bis an die äußersten Ränder.

Zustand der Theologie

Schließlich der Zustand der Theologie: Es ist noch nicht so lange her, da war Deutschland eine der Nationen, die mit die qualitätsvollsten und gewichtigsten Stimmen in den akademischen theologischen Diskurs der Weltkirche und auch beim Konzil eingebracht haben. Dass Benedikt XVI. als „Theologenpapst“ in die Geschichte eingehen wird und dass der derzeitige Präfekt der Glaubenskongregation ein Deutscher ist, ist beides dieser großen Tradition geschuldet. Heute, ich muss es so sagen, ist diese große Zeit deutscher Theologie aus meiner Sicht weitgehend vorbei. Sie klingt noch nach, aber Theologie ergeht sich an deutschen Universitäten in vielerlei Debatten, die sich tendenziell nicht selten darin gefallen, das tradierte Credo und Dogma in Frage zu stellen und die zugleich an ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit leidet. Es gibt nicht selten eine bis an die Wurzeln gehende Uneinigkeit der Theologen in so zentralen Fragen wie etwa der nach dem christlichen Menschenbild oder der Bedeutung etwa von Erlösung, Realpräsenz, Erbsünde, Trinität, Kirche, dem Bösen und anderem mehr. Dabei geht es oft nicht mehr um die theologischen Debatten auf der Basis des wirklich geteilten kirchlichen Glaubens – solche hat es immer gegeben und wird es Gott sei Dank immer geben. Aber an unseren Universitäten ist es nicht selten eben der kirchliche Glaube selbst, der in Frage steht – etwa der, der selbstverständlich in der Eucharistie gebetet und artikuliert wird. Die gegenseitige Entsprechung von lex orandi und lex credendi als Grundgesetz gläubigen Lebens wird einer Überprüfung im akademischen Diskurs wohl nicht mehr problemlos Stand halten können. Aber ein solch fundamentaler Streit eignet sich dann auch weniger dafür, den Studierenden ein echtes, auch den Ansprüchen einer kritischen Vernunft genügendes Fundament für ein intensiv durchdachtes Bekenntnis des eigenen Glaubens und eine echte Entscheidung für die persönliche Beziehung zu Christus mitzugeben. Die Lager- und Ideologieanfälligkeit scheint mir an den theologischen Fakultäten jedenfalls nicht geringer als im übrigen kirchlichen Betrieb. Und ich sehe derzeit noch nicht, wie von dort Erneuerung ausgehen könnte. Krisenphänomene werden eher konstatiert und gerechtfertigt denn wirklich bearbeitet. Oder es wird allzu häufig – auch von den theologischen Fakultäten – Medizin für den kranken Patienten vorgeschlagen, die schlicht dem gesellschaftlich-medialen Meinungsmainstream nachbetet: Die klassischen Reizthemen müssten so gelöst werden wie bei den evangelischen Geschwistern, dann würde vielleicht alles gut. Meine Diagnose – ohne jede Häme – der evangelische Patient ist noch kränker als der eigene, und zwar nicht nur trotz, sondern auch wegen deren Lösungen in solchen Fragen.

Ausnahmen von der Regel

Freilich – wie in allen hier angesprochenen, und in der Knappheit eher pauschalen Beobachtungen – sei gesagt, dass es natürlich auch Ausnahmen gibt. Aber es ist aus meiner Sicht ein Alarmzeichen, wenn die Darlegung solider und zugleich kritisch durchdrungener kirchlicher Lehre auf der Basis von Schrift, Liturgie, Tradition und Lehramt an unseren Universitäten eher als die „konservative“ Minderheit und Ausnahme wahrgenommen wird und nicht als Regel. Ich mag mich hier täuschen, und wenn ja, dann bitte ich um Verzeihung an die Zunft. Aber wenn es einigermaßen stimmt, was hier gesagt wird, dann erklärt sich auch das folgende Phänomen: Studierende, die ernsthaft suchen, zeigen damit womöglich die Fruchtlosigkeit allzu pluraler und liberaler Theologie an: Die größten Ausbildungsstätten für Priester im deutschen Sprachraum sind nämlich heute schon länger nicht mehr unsere großen und traditionsreichen theologischen Fakultäten wie etwa München, Tübingen, Münster oder Wien. Die größte ist ein Kloster im Wienerwald! Die Hochschule der Mönche von Heiligenkreuz in Österreich, ein dezidiert der kirchlichen Lehre verpflichteter Ausbildungsort, der zugleich ein Ort des Gebets und des geistlichen Lebens ist: Theologie eingebettet in das Lob Gottes! Ein Zeichen der kirchlichen Zeit? Jedenfalls von der Seite möglicher Priesteramtskandidaten her eine Abstimmung mit den Füßen und Herzen – und ein Hinweis darauf, wo und unter welchen Bedingungen es in unserer Kirche Aufbruch geben könnte.

Priesterausbildung?

Das führt direkt zum Problem der Priesterausbildung: In der Regel werden junge Männer bei uns heute in der lange bewährten Kombination von Universitätsstudium einerseits und Leben im Priesterseminar andererseits ausgebildet – zwischendrin unterbrochen von diversen Praktika und Freisemestern. Aber mangels Alternativen lernen sie dabei nicht selten eine akademische Theologie, die geeignet ist, ein Schriftgelehrter im Sinne der Schelte Jesu zu werden. Also einer, der in der Lage ist, sich mit theologischen und anderen Argumenten Jesus buchstäblich vom Leib und vom Herzen zu halten. Zweitens neigt die Ausbildung immer noch dazu, primär Fertigkeiten für bestehende volkskirchliche Strukturen zu vermitteln und eben diesen Betrieb aufrecht zu erhalten, der andererseits nur noch wenig trägt. Und es wird für mich zu wenig gefragt, welche Ausbildungsmomente für einen Priester im 21. Jahrhundert zusätzlich nötig wären. Und drittens schrumpft die Seminaristenzahl derzeit so dramatisch, dass vielerorts ein klassischer Seminarbetrieb gar nicht mehr möglich ist. Aber wir Bischöfe sehen uns derart in kirchenpolitischen und anderen Zwängen und uns mangeln die Alternativen, so dass uns die Wirklichkeit der natürlichen Schrumpfungsprozesse vermutlich viel schneller einholen werden – und zwar womöglich bevor wir echte und tragfähige neue Lösungen vorschlagen könnten. Inzwischen machen uns innerhalb und außerhalb unser Kirche von unten nachwachsende Gemeinschaften vor, wie das geht, zum Beispiel Jüngerschaftsschulen, Bibelschulen, Gebets- und Lobpreisleiterschulen oder Schulen für missionarisches Christsein aufzubauen und durchzuführen. Und die Prägekraft scheint hier auf die jungen Menschen keineswegs geringer zu sein als bei unseren herkömmlichen Versuchen – auch wenn dort natürlich auch nicht alles nur golden glänzt. Aber sind wir grundsätzlich bereit, von den anderen zu lernen?

Die Berufungen von morgen

Womöglich ist es auch für uns Zeit für wirklich neue Versuche für eine Ausbildung, die deutlich den Schwerpunkt legt auf Einweisung in ein intensives geistliches Leben mit Christus, auf die Befähigung, täglich aus Gottes Wort und Jesu Gegenwart zu leben, auf die Liebe zur Kirche und das Leben in ihrer großen Überlieferung, auf missionarischen, neu evangelisierenden Einsatz in Wort und Tat, mitten in unserer Gesellschaft und an ihren Rändern; auf intellektuelle Formation, die in der Lage ist, den Glauben der Kirche in diese und keine andere Welt hinein zu buchstabieren, auf eine menschliche Reife, die Begegnung mit jedem kann, und sei er noch so weit entfernt. Der Priester von morgen wird mehr als bisher die Fähigkeit zur Entdeckung und Weckung von Charismen und zur Begleitung von geistlichen Prozessen im Menschen haben müssen, so dass alle Getauften ihre Berufung zum gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen neu entdecken und selbständig wahrnehmen lernen. Und wo sind schon heute diejenigen Christinnen und Christen, die wirklich aus der Sehnsucht leben, anderen, die den Herrn noch nicht kennen, in die lebensspendende Beziehung zu ihm führen zu können – und damit in seine Kirche, die sie als Jesu Wohnort in der Welt ergriffen haben? Das wären nach meiner Überzeugung die Priester und Hauptamtlichen von morgen. Ob eine Formation in diese Richtung bei derzeit bestehenden Ausbildungsstrukturen möglich ist, will ich wohl hoffen, melde aber zugleich gewichtige Zweifel an.

Aufbruch nach außen aus dem Weg nach innen

Aus allem Gesagten wird deutlich: Aufbruch und Erneuerung können und werden nur aus einem vertiefen und erneuerten geistlichen Leben kommen. Alle Aufbruchserfahrungen in unserer Kirche waren im Grunde zunächst immer an Personen geknüpft. Oftmals an Einzelne, die den Antagonismus zwischen liberal und konservativ ohne jedes offene oder heimliche Buhlen um Zugehörigkeit zur einen oder anderen Gruppe überwunden haben. Menschen, die der Herr in die Erneuerung gerufen hat, ging es nie um Abgrenzung gegen die jeweils anderen, ihnen ging es immer um die größere Wahrheit, die größere Liebe, das authentisch gelebte Evangelium mitten im Heute und den schlichten Dienst am Anderen. Mutter Teresa, die am 4. September heilig gesprochen wurde, gewählte „Frau des Jahrhunderts“ im überwiegend hinduistischen Indien, ist ein Beispiel für heute: Wie wenig passen auf sie solche Kategorien wie liberal, progressiv oder konservativ – und wie jung strahlt das Evangelium für das 21. Jahrhundert aus ihrem so schönen, faltigen Gesicht, aus ihrer Christusliebe und aus ihrem Dienst?

Wenn Christus Vorrang im Herzen hat

Wohin geht die Reise? Ich bin einigermaßen überzeugt, dass allzu liberale Theologien, samt ihren pastoralen Ausprägungen, dem Aussterben entgegen gehen oder schlicht in einem allgemeinen Humanismus auf- und übergehen – mangels echter geistlicher Fruchtbarkeit. Ich bin ebenso überzeugt, das bestimmte Formen eines konservativen Traditionalismus auf längere Sicht keine größere Anziehungskraft mehr ausüben werden, vor allem sofern in ihnen gläubige Identitätsstiftung primär durch äußere Merkmale gewährleistet werden soll. Am meisten überzeugt bin ich davon, dass Glaubenserneuerung dort beginnt, wo echtes geistliches Leben sichtbar wird: Ein Leben aus der wirklich vertrauensvoll geglaubten und erfahrenen Gegenwart Gottes; aus dem Primat der Gnade! Ein Leben, in dem Gottes Wirken in unserem Leben und Gottes Offenbarung ernst genommen werden, in dem er um seiner selbst willen gesucht und angebetet wird. Gläubiges Leben, in dem die leitenden Frauen und Männer in der Lage sind, auch anderen die Türen zu öffnen hinein in ein tieferes Leben. Gesucht sind diese Männer und Frauen, und vor allem auch die akademischen Lehrerinnen und Lehrer, die einen Lebensstil des Übernatürlichen leben, also ein Leben, in dem Christus den Vorrang in ihren Herzen hat – in allen Lebensbezügen. Warum? Weil er es im Evangelium sagt – um der Fülle willen, die er geben will: „Wer Vater, Mutter, Kinder (und letztlich alles andere!) mehr liebt als mich – ist meiner nicht würdig.“ (Mt 10,37)

Herr, lehre uns beten

Die Jünger bitten den Herrn im Evangelium, er möge sie lehren zu beten. Dabei waren sie doch schon gläubige Juden mit Gebetserfahrung! Was sehen sie also an ihm, der ihnen auf diese Bitte hin das vollendete christliche Gebet schenkt, das Vater Unser? Meine Überzeugung ist, dass sie an seinem Gebet die Nähe, die Freundschaft, die Intimität mit eben dem Vater spüren. Sie spüren, dass sein Gebet lebendige Beziehung ist, Vollzug dieser Beziehung, dieses beständigen inneren Seins beim Vater und der Kommunikation mit ihm. Und sie wollen ein Beten lernen, das in derselben Weise wie beim Herrn Lobpreis des Vaters ist, Übereinstimmung mit seinem Willen – und dass alle ihre Anliegen in dieser Übereinstimmung aufgehoben sind. Im Grunde geht es ihnen darum, dass Jesus sie mitnimmt, mit hinein nimmt in die Beziehung zum Vater – wie es etwa das Johannes-Evangelium durchgehend bezeugt. Erneuerung der Kirche wird also von Menschen kommen, die eine lebendige Gebetserfahrung der Beziehung zu Christus und zum Vater im Heiligen Geist leben – und die in der Lage sind, diese Beziehung auch anderen zu erschließen: damit Katholiken von heute tatsächlich betende Menschen werden – im Sinne der Frage der Jünger; und eben Jünger und nicht nur Schriftgelehrte.

Wahre „Gemeinschaft der Heiligen“

Lebendige Erneuerung wird weiterhin kommen, wo Menschen das Wort Gottes wirklich ernst nehmen, wo sie lernen die Schrift zu lesen, zu verstehen, zu beten – mit dem Herzen der Kirche und in ihr. Es ist längst Zeit, dass katholische Christinnen und Christen das Wort Gottes für ihr Leben wirklich zu dem werden lassen, was es ist: zum Buch des Lebens. Und wenn hier gesagt wird, dass es wichtig sei, die Schrift im Herzen der Kirche zu lesen, dann deshalb, weil es aus meiner Sicht gerade heute unabdingbar ist, den Menschen auch das Geheimnis der Kirche neu nahe zu bringen. Allzu sehr wird Kirche reduziert auf Struktur, auf Organisation, auf das kirchliche Amt – mit allen negativen Vorurteilen, die meist medial transportiert werden. Aber Kirche von innen her gesehen ist im Herzen und Ursprung die Mutter des Herrn – ist Kirche als personaler, lebendiger Wohnort Gottes mitten in der Welt. Und je kirchlicher ein Mensch in diesem (!) Sinn wird, umso mehr wird er selbst teilhaftig dieses Geheimnisses: Wohnort Gottes in der Welt zu sein und geheiligt zu werden. Kirche ist Gemeinschaft der Heiligen!

Das größte intellektuelle und spirituelle Abenteuer der Menschheitsgeschichte

Lebendige Erneuerung wird auch verbunden sein mit der intensiven Vermittlung von Inhalten: Die Kirche in Deutschland hat bislang kaum eine Antwort auf die Frage, wo ein kritischer erwachsener und suchender Mensch lernen kann, was man glaubt und wem man glaubt und wie man glaubt in der katholischen Kirche – trotz ihres Geldes, ihres Personals, ihrer vielfältigen Bildungs- und sonstigen Einrichtungen. Volkskirchlich geprägte Kirche war davon getragen, dass Kinder und junge Menschen wie selbstverständlich hinein gewachsen sind in das gläubige Leben ihrer Umgebung. Beides ist weitgehend verschwunden: das selbstverständliche Hineinwachsen und das selbstverständlich gläubige Leben der Umgebung. Aber bislang gibt es zumindest keine flächendeckenden Antworten auf diesen Ausfall, wenngleich er schon Jahrzehnte zu beobachten ist. Vermutlich wird es auch flächendeckend keine Antworten geben, sondern der Initiative Einzelner überlassen bleiben, dort wo sie leben, den Glauben auch inhaltlich zu erklären und zu leben – und andere dazu einzuladen. Ich erhoffe mir für die Zukunft eine Vielzahl von Initiativen und Orten der Ausbildung für die Katechese, in denen Menschen sprachfähig werden, um denen „Rede und Antwort zu stehen“, die nach der Hoffnung fragen, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15).

Nicht mit jedem Lebensstil kompatibel

Aber ich bin tatsächlich betrübt, wie wenig oft selbst die Engagierten und Gebildeten unter unseren Gläubigen in der Lage sind, die kritischen Anfragen der Zeit authentisch und heutig zu beantworten, aus dem einen, dem alten, weil apostolischen und zugleich immer jungen Glauben der Kirche. Nein, die Kirche ist nicht gestrig. Die Kirche ist vielmehr die ganz große Erzählung für jede Zeit. Sie ist nämlich das größte spirituelle, ästhetische und intellektuelle Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Wir haben Antworten und wir dürfen vertrauen, dass wir sie immer neu finden! Worauf? Auf alle wesentlichen Fragen nach dem Menschen, seinem Leben und seinem Sinn, nach der Gesellschaft, nach Gott. Nicht weil wir selbst die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten, sondern weil wir Christus kennen und lieben, in dem „alle Schätze der Erkenntnis und Weisheit verborgen“ sind (Kol 2,3). Freilich, die Antworten und Herausforderungen, die uns aus dem Evangelium zugewachsen sind und immer neu zuwachsen, schmecken nicht immer und vor allem nicht jedem! Aber das war auch schon damals so und es war immer so: Authentisches Evangelium lässt wenig Raum für Nivellierung und Gleichgültigkeit. Seine Größe und Wahrheit ziehen entweder an oder sie werden zurückgewiesen – weil sie schlicht nicht mit jedem Lebensstil kompatibel sind. Das allererste Wort Jesu im ältesten Evangelium ist deshalb ein Ruf in die Umkehr! Warum? Weil die Zeit erfüllt und das Reich Gottes nahe ist (Mk 1,15)!

Lebendiges geistliches Leben, das in die Entschiedenheit führt, ein Leben aus dem Wort Gottes, lebendige, herausfordernde Katechese, die Erfahrung von Gemeinschaft, die aus dem Übernatürlichen lebt, die Überzeugung, dass Gott gegenwärtig und aller Anbetung würdig ist und ein Dienst an anderen, der sich aus dieser dankbaren Erfahrung speist, selbst von Christus unendlich beschenkt zu sein: das sind die Kennzeichen von Aufbrüchen in der Kirche – nicht selten mit heiligmäßigen Protagonisten.

Pfarreien der Zukunft?

Die Pfarreien der Zukunft werden veränderte Pfarreien sein: kleinere Einheiten von ernsthaft Gläubigen in einer größeren Pfarreinheit vereint. „Gemeinschaft von Gemeinschaften“ hat Bischof Klaus Hemmerle von Aachen schon vor Jahrzehnten formuliert: Gruppen von ernsthaft interessierten Christinnen und Christen, die sich wochentags zu Gebet, Glaubensvertiefung und diakonischem Engagement zusammen finden – und die im Bewusstsein leben, sonntags in der Eucharistie Teil des Leibes Christi sein zu dürfen – in einer Liturgie, die aus gläubigem Herzen kommt und aus dem Bemühen, unserem Gott auch das Beste schenken zu wollen, was wir haben und können.

Was mir Mut macht? Es gibt solche Erfahrungen allenthalben in Deutschland, in Gruppen, Verbänden, Einrichtungen und vor allem Pfarreien, die sich mit Alpha- oder anderen Glaubenskursen neu auf den Weg machen. Junge Gruppen, die Lobpreis und Anbetung pflegen, oft als Teil der so genannten 24-7-Bewegung; einer weltweit, aber auch in Europa schnell wachsenden Bewegung, die oft über die Konfessionen hinweg, zu fortwährendem Gebet einlädt – weil sie Gott selbst die Ehre geben wollen. Es gibt die Weltjugendtage, bei denen Hunderttausende, manchmal Millionen von jungen Gläubigen ihren Glauben in der Kirche, ihre Zugehörigkeit zu Jesus feiern und bekennen. Es gibt die Vielen, die die Liturgie lieben und in ihren Pfarreien authentisch feiern wollen; die Vielen auch, die das Wort Gottes neu entdecken wollen. Wir schauen auch über den Tellerrand und sehen, dass es zum Beispiel in Amerika oder Kanada tatsächlich wachsende katholische Pfarreien gibt, die dieses Wachstum den genannten Aspekten verdanken. Es gibt die wachsenden Kirchen der Evangelikalen und Pfingstler – und wir können auch als Katholiken von ihnen lernen – ohne gleich ihre Anfälligkeiten übernehmen zu müssen. Nein, wir brauchen weder in Sektierertum, noch in bloße Emotionalisierung des Glaubens, noch in einen platten Schriftfundamentalismus zu verfallen. Aber wir lernen dort zum Beispiel, dass es wirkliche Freude am Glauben, wirkliches Ergriffenwerden durch das Wort und tatsächlich neue gemeinschaftliche Verbindlichkeit im Leben der Gemeinde gibt – und das alles tatsächlich in pluraler und postmoderner Gesellschaft.

Der Herr liebt die kleinen Anfänge

Es gibt bei uns weiterhin die geistlichen Gemeinschaften mit ihren Mitgliedern als Protagonisten der Entschiedenheit für Christus, es gibt die neuen und alten Ordensgemeinschaften und die profilierten unter ihnen ziehen auch heute junge Menschen an. Es gibt vielerorts unter unseren Gläubigen den selbstlosen Dienst an den Ärmsten und den Benachteiligten aus dem Geist des Barmherzigkeit, oft in der Verborgenheit; es gibt den missionarischen Geist, der an die Ränder geht und jedem, ausnahmslos jedem versucht, Ansehen zu geben und Würde – und der versucht, auch die Marginalisierten hineinzulieben in die lebendige und erlösende Beziehung mit Christus. Es gibt Protagonisten in den Verbänden, die die Not erkennen und im genannten Sinn wenden wollen. Es gibt das nicht nachlassende Gebet vieler Gläubiger – und es gibt schließlich und vor allem anderen Christus selbst, der in der Kraft seines Heiligen Geistes unter uns lebt und bleibt. Er wird die Kirche in Deutschland und im Westen nicht untergehen lassen; er wird uns in dieser Zeit – die wie jede Zeit immer auch Zeit des Gerichts und der Unterscheidung ist – helfen, Wege zu finden, von Neuem und jung und kraftvoll sein Wort des Lebens in die Welt von heute zu sagen, wenn auch sicher nicht selten aus kleinen Anfängen. Aber der Herr liebt die kleinen Anfänge, die Senfkörner – und er wird die Heiligen von morgen erwecken, die die Kirche ihren eigentlichen Auftrag neu entdecken lassen: zum Lob Gottes da zu sein und da zu sein als Zeugin seiner erlösenden Barmherzigkeit für die Welt.

Veröffentlicht von Bischof Dr. Stefan Oster SDB auf seinem Blog www.stefan-oster.de. Die Übernahme des Textes erfolgt mit freundlicher Genehmigung.

Passauer Bischof Stefan Oster im Interview: ´Ich möchte, dass junge Menschen das Geschenk der Begegnung mit Christus erfahren dürfen´


Foto Bischof Oster (c) kath.net/Michael Schäfer


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