'Amoris laetitia': Theologen sehen Ortskirchen am Zug

12. Juni 2016 in Weltkirche


"Roma locuta, causa finita" - wohl kein päpstliches Dokument der vergangenen Jahre widerlegt dieses geflügelte Wort so sehr wie das letzte Papstschreiben "Amoris laetitia". Analyse von Henning Klingen (Katholische Presseagentur)


Wien (kath.net/KAP) "Roma locuta, causa finita" - wohl kein päpstliches Dokument der vergangenen Jahre widerlegt dieses geflügelte Wort, dass eine "Causa" nach einem vatikanischen Machtwort abgeschlossen sei, so sehr wie das letzte Papstschreiben "Amoris laetitia". Denn das am 8. April im Vatikan von Kardinal Christoph Schönborn und Kardinal Lorenzo Baldisseri präsentierte Dokument "Über die Liebe in der Familie" - so der Untertitel - stellt nicht nur die Synthese der beiden Bischofssynoden zu Ehe und Familie der Jahre 2014 und 2015 dar, sondern es wurde innerhalb kürzester Zeit zum Zankapfel unter Theologen wie auch unter Bischöfen: Den einen geht das Dokument etwa beim Streitthema wiederverheiratet Geschiedene nicht weit genug, den anderen ist es Sinnbild einer Verwässerung kirchlicher Ehelehre.

Nach anfänglichen - auch der medialen Dynamik geschuldeten - kurzen ersten Stellungnahmen hat sich inzwischen auch die akademische Theologie des Dokuments angenommen und differenzierter analysiert. Die jüngsten Stellungnahmen kommen dabei zumeist zu dem Schluss, dass es nun an den Ortskirchen und nationalen Bischofskonferenzen liege, konkrete Schlüsse aus "Amoris laetitia" zu ziehen und nächste pastorale Schritte zu setzen bzw. Weichenstellungen vorzunehmen.

Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz hatte bereits unmittelbar nach Veröffentlichung des Dokuments "den Weg frei für ortskirchliche Interpretationen" gesehen; der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher spricht von einer notwendigen "Rekontextualisierung von Moraltheologie und Kirchenrecht" in Folge des Schreibens und die Schweizer Fundamentaltheologin Eva-Maria Faber kommt - gemeinsam mit ihrem Brixner Kollegen Martin Lintner - zu dem Schluss, dass sich maßgebliche Weichenstellungen von "Amoris laetitia" auch in einer Revision des Katechismus niederschlagen sollten.

Lüdicke: Eucharistie niemandem verwehren

Ähnlich wie bereits Kardinal Christoph Schönborn bei seiner Präsentation des Schreibens im Vatikan, so sieht auch der emeritierte Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke den entscheidenden Perspektivenwechsel des Schreibens nicht etwa in der Frage der Unauflöslichkeit der Ehe, wie mancherorts befürchtet, sondern in der Betrachtung der sogenannten "irregulären Situationen" (CIC, can. 915). Das geltende Kirchenrecht spricht im Blick auf nichteheliche Gemeinschaften, reine Zivilehen und Zweitehen Geschiedener von eben solchen "irregulären Situationen". Der Papst arbeite nun heraus, dass es für die Kirche nicht mehr möglich sei zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner "irregulären" Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befänden, erklärt Lüdicke in einer vom "Münsteraner Forum für Theologie und Kirche" veröffentlichten Abhandlung. Aufgrund der individuellen Person, ihrer Fähigkeit, Werte zu erkennen oder ihrer Lage, nicht anders handeln und entscheiden zu können, bedeute ein negatives Urteil über eine objektive Situation nach den Worten des Papstes kein Urteil über die Anrechenbarkeit oder Schuldhaftigkeit der Betreffenden.

Lüdickes Fazit: Wenn die objektive Situation kein Urteil des Sündenstatus der Person erlaube, sei es nicht möglich, die Voraussetzungen des can. 915 zu verifizieren. Alle Gläubigen, auch die Wiederverheirateten, hätten also das Recht, die Eucharistie gereicht zu bekommen. Dies befreie allerdings den einzelnen nicht von der Pflicht, sein Gewissen zu bilden und zu befragen. Diese Verantwortung könne dem Menschen durch keine Instanz abgenommen werden.

Der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher geht einen Schritt weiter und sieht in "Amoris laetitia" nichts weniger als eine "pastoraltheologische Rekontextualisierung von Moraltheologie und Kirchenrecht". Mit dem Schreiben vollziehe die Kirche jene Wende zu einem "Lehramt von vorrangig pastoralem Charakter", wie es Johannes XXIII. in seiner Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 gefordert hatte. Anders gesagt: Kirche komme nun endlich in der postmodernen Realität an, die von einer "Pluralität der Wirklichkeiten" und dem "situativen Primat der Praxis" bestimmt sei, so Bucher in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der "Herder Korrespondenz" (Ausgabe 6/2016). Das Konzil habe eine pastorale Kehrtwende formuliert, die jedoch bis heute nicht im Kirchenrecht angekommen sei. Um eine solche "Neuformatierung des Kirchenrechts" werde man nach "Amoris laetitia" laut Bucher "auf Dauer nicht herumkommen". Der Weg dorthin werde vom Papst durch eine Strategie der "Dezentralisierung und Synodalisierung" der Kirche geebnet.

Weg vom "defizitorientierten Blick"

Die wohl ausführlichste und detailreichste Analyse des Dokuments haben indes die Schweizer Fundamentaltheologin Eva-Maria Faber und ihr Brixner Kollege Martin M. Lintner vorgelegt: In einem ebenfalls im "Münsteraner Forum für Theologie und Kirche" veröffentlichten Beitrag legen sie ausführlich dar, wie sehr sich Papst Franziskus um die lehramtliche Kontinuität mit seinen Vorgängern müht, während er zugleich aus den Vorgaben durch leichte Akzentverschiebungen zu anderen pastoralen Folgerungen komme. Folgerungen, die gerade im Blick auf den Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen auch in eine Revision etwa des Katechismus der Katholischen Kirche münden sollten, so die Autoren.

Grundlegend sei - bei aller Kontinuität in der Lehre - in "Amoris laetitia" ein neuer Wind zu spüren, der den Blick von einem beharrlichen Starren auf ein lehramtliches (Ehe)Ideal weg lenkt auf die tatsächliche Lebensrealität der Menschen. Ausdrücklich schließe sich der Papst dabei dem Abschlussdokument der Synode von 2015 ("Relatio Synodi") an, demzufolge Urteile "zu vermeiden (sind), welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen". Es sei vielmehr darauf zu achten, wie die Menschen leben "und aufgrund ihres Zustands leiden", so der Papst. Der Blick geht von einer "defizitorientierten Wahrnehmung" hin zu einer die "gelebten Werte" würdigenden Perspektive. In diesem würdigenden Blick, der auch in einer neuen Wertschätzung der "Gewissenskompetenz der Gläubigen" zum Ausdruck komme, liegt laut Faber und Lintner "eine der entscheidenden Weichenstellungen" des Dokuments.

Bereits im Dokument "Familiaris consortio" (1981) sei zwar eine Unterscheidung der verschiedenen Situationen angemahnt worden, allerdings sei diese Unterscheidung ohne Konsequenz geblieben. Dies ändere "Amoris laetitia", so die Autoren; nicht, indem die Lehre geändert werde, sondern indem die bisherige Interpretation von "irregulären" Situationen als Situationen vollkommener Sündigkeit durchbrochen wird: So sei es "nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten 'irregulären' Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden und die heiligmachende Gnade verloren haben", so Papst Franziskus.

"Upgrade" für Gewissen und Forum internum

Ort der pastoralen Lösung soll künftig das sogenannte "Forum internum" sein, also das einen freien Gewissensentschluss fördernde Gespräch zwischen Betroffenen und einem geistlichen Beistand. Wohlgemerkt: Auch darin folgt Franziskus den Empfehlungen der Synodenväter - und er widerspricht damit zugleich einer abschlägigen Einschätzung der Glaubenskongregation, die noch 1994 einer Aufwertung des "Forum internum" eine Absage erteilt hatte. Hier eröffne gerade im Blick auf die Frage des Sakramentenempfangs für wiederverheiratet Geschiedene das neue Papst-Schreiben deutlich mehr Handlungsoptionen als Johannes Paul II., so die Autoren. Relativiert werde in "Amoris laetitia" der noch von Johannes Paul II. vorgegebenen Weg der "Josefsehe", also des Zusammenlebens Wiederverheirateter in Enthaltsamkeit. Dies sei ein faktisch nicht lebbares Gebot und berge außerdem das Problem, dass der Verzicht auf Ausdrucksformen der Intimität die Treue der Ehepartner in Gefahr bringe. Schon Benedikt XVI. habe darum gewusst und nur mehr eine "Ermutigung" zur "Josefsehe" ausgesprochen, erinnerten die Autoren.

"Amoris laetitia" überwindet damit nicht nur die bisherige negative Sichtweise auf neue partnerschaftliche Verbindungen, sondern das Dokument lenkt den Blick auf die konkreten Lebensumstände der Menschen und relativiert die Absolutheit der Ausschließungsgründe von den Sakramenten. Es liege nun an den Ortskirchen, diese Punkte weiter auszubuchstabieren, so Faber und Lintner. Gleichwohl lasse der Papst die Ortskirchen mit dieser Aufgabe nicht allein: "In einem Punkt nimmt er seine Vollmacht als Papst in Anspruch, um eine Entscheidung zu treffen: Die Sakramentenordnung ist (...) für nach Scheidung Wiederverheiratete nicht mehr pauschal verschlossen." Und an die Adresse der Bedenkenträger appellieren die Autoren: "Wer befürchtet, die Differenziertheit (...) könne anfällig für Missbrauch sein, sollte sich fragen, wie missbräuchlich die 'unerbittlichere Pastoral' pauschal alle Wiederverheiratet-Geschiedenen von den Sakramenten ausgeschlossen hatte."

Zusammengefasst: Nach "Amoris laetitia" sind aktuellen theologischen Einschätzungen zufolge die Ortskirchen und Bischofskonferenzen am Zug, ihre jeweiligen pastoralen Schlüsse aus dem Dokument zu ziehen. Einspruch gegen diese Einschätzung kommt - wenig überraschend - indes von der Glaubenskongregation: So sei es "durchaus skeptisch zu sehen, wenn jemand sagt, der Papst gebe den Bischofskonferenzen bestimmte Vollmachten", betonte der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Gerhard Ludwig Müller, in einem Interview in der "Herder Korrespondenz" (Ausgabe 6/2016). Gerade im Blick auf den Sakramentenempfang könne man "nicht Katholiken im Stande der Todsünde die heilige Kommunion erlauben und dort nach den Bestimmungen anderer Konferenzen sie verweigern". Das Ringen um die "wahre" Interpretation von "Amoris laetitia" geht wohl in eine nächste Runde.

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