Den Gnadenstand unterscheiden?

9. Juni 2016 in Kommentar


Eine Anmerkung zum achten Kapitel von Amoris Laetitia. Gastbeitrag von Prof. Stephan Kampowski


Rom (kath.net) Im achten Kapitel seines post-synodalen Schreibens Amoris Laetitia beschäftigt sich Papst Franziskus mit dem Thema der Begleitung, der Unterscheidung und des Eingliederns (AL 291-312). Es handelt sich hierbei zweifelsohne um das in der öffentlichen Debatte am meisten diskutierte Kapitel. Hier soll nun der vom Dokument dargelegten Sinn der Unterscheidung etwas näher beleuchtet werden. In einer viel zitierten Stelle weist der Papst darauf hin, dass Menschen sehr vielen Schwierigkeiten begegnen und dass es mildernde Umstände gibt, aufgrund derer „es nicht mehr möglich ist zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ,irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden“ (AL 301). Einige haben diese Bemerkung im Sinne eines Argumentes für eine mögliche, an bestimmte Umstände geknüpfte Zulassung der „wiederverheirateten“ Geschiedenen zur Kommunion verstanden. Man habe nun eine neue Einsicht, die auch zu einer neuen Praxis führen solle. Im Folgenden möchte ich unterstreichen, dass die Einsicht gar nicht neu ist und dass es bei der Frage der Zulassung oder Nichtzulassung zur Kommunion nie um die Beurteilung des Gnadenstandes einer Person ging. Daher eignet sich die oben angeführte Stelle nicht als Argument für eine Änderung der Praxis. Sie enthält keine neue Lehre, sondern ist ein bekannter Teil der Tradition und des Lehramts der Kirche. In der Tat konnte man noch nie das behaupten, von dem Franziskus sagt, dass man es nicht mehr behaupten kann. So schreibt der heilige Johannes Paul II. in Ecclesia de Eucharistia: „Es ist offensichtlich, dass das Urteil über den Gnadenstand nur dem Betroffenen zukommt, denn es handelt sich um ein Urteil des Gewissens“ (Nr. 37).

Wenn nun der Heilige Vater darauf hinweist, dass pastorale Unterscheidung dynamisch sein muss (vgl. AL 303), dann hätte der Text vielleicht etwas eindeutiger sein können. Es ist nicht ganz klar, was unterschieden werden muss. Verlangt der Papst vielleicht von den Seelsorgern, den Zustand der Gnade eines Menschen zu unterscheiden (und „unterscheiden“ ist wirklich nur ein anderes Wort für „urteilen“)? Das wäre in der Tat etwas Neues und noch dazu höchst paradox. Es würde bedeuten, dass derselbe Papst, der sehr einprägsam fragte: „Wer bin ich, dass ich urteile?“, die Priester der Kirche einlädt, eine Art Urteil über ihre Pönitenten vorzunehmen, das der Kirchenlehrer Thomas von Aquin als „unbedacht“ bezeichnete.

Für Thomas gibt es eine Reihe von Fällen eines unbedachten Urteils, einer von ihnen ist gegeben, wenn „jemand sich ein Urteil über Verborgenes erlaubt, worüber nur Gott allein richten kann“ (Kommentar zum Römerbrief, II,1; Herder 1927, S.73). Er erläutert, dass Gott „uns mit dem Urteil über Äußeres betraut hat …er sich aber das Urteil über das Innere selbst vorbehalten hat“ (Kommentar zum Matthäusevangelium, VII, 1). Demzufolge sagt der heilige Thomas, dass es unmöglich ist, den Zustand der Gnade eines anderen Menschen zu beurteilen. Das Tridentinische Konzil spricht sogar von der Unmöglichkeit, über den eigenen Gnadenstand zu urteilen, wenn es erklärt: „Denn keiner vermag mit der Sicherheit des Glaubens, dem kein Trug zugrunde liegen kann, zu wissen, dass er die Gnade Gottes erlangt hat“ (Dekret über die Rechtfertigung, Kapitel 9; Denzinger – Hünermann 1534). Folglich hat die Kirche bis jetzt die Unterscheidung im Hinblick auf den Gnadenstand eines Menschen stets Gott überlassen, da diese sich auf „das Innere“ bezieht. Die Kirche beschränkt sich darauf, äußeres Verhalten oder objektive Lebenssituationen zu beurteilen.

Deswegen läuft die Praxis der Kirche, die zivil „wiederverheirateten“ Geschiedenen nicht zum Kommunionempfang zuzulassen, es sei denn sie zeigen ein objektives Zeichen der Reue dafür, dass sie die neue Verbindung eingegangen sind (der Entschluss, enthaltsam zu leben), nicht auf das Urteil hinaus, dass sie in Todsünde leben. Es ist ein Urteil über ihren Lebensstand – als einer, der in objektivem Widerspruch zum Geheimnis der treuen Einheit Christi mit seiner Kirche steht, wie dies in der Eucharistie gefeiert wird – und kein Urteil über ihre Seele, deren Zustand Gott allein kennt.

Wenn aber ein negatives Urteil über den Gnadenstand eines Menschen unbedacht ist, warum sollte dann ein positives Urteil darüber nicht genauso unbedacht sein? Auf welcher Grundlage sollte ein Priester in der Lage sein zu unterscheiden, ob Gläubige, die ihrem Ehemann, ihrer Ehefrau ständig und öffentlich untreu sind, dennoch in der Gnade Gottes leben? Wie sollte man das Gewicht möglicher mildernder Umstände, sozialer Konditionierung, psychologischer Einschränkungen abwägen? Bis heute ist noch kein Instrument erfunden worden, mit dem man das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Gnade empirisch messen könnte, und es ist auch noch nicht möglich, im Einzelfall über den Grad der Freiheit zu entscheiden, mit dem ein Mensch eine zutiefst falsche Tat begeht.

Was die Kirche beurteilen kann, ist die Tat an sich. Wenn Menschen eine bestimmte Tat – Ehebruch, Mord, Raub, Folter, Pädophilie – mit ausreichender Kenntnis und einem genügenden Maß an Freiheit begehen, dann kann die Kirche sagen, dass sie durch diese Tat die Freundschaft mit Gott verlieren, weil solch eine Tat radikal dem Wesen Gottes widerspricht als dem, der der treue Bräutigam seiner Braut der Kirche ist, der das Leben liebt und der der Beschützer der Schwachen ist. Mit anderen Worten, sie begehen eine Todsünde. Das ist alles, was Seelsorger wissen müssen und können. Ob die Ehebrecher, Mörder oder Folterer, als sie diese Tat begingen, bei Sinnen war oder nicht; ob sie sich dieser Tat voll bewusst waren und sich somit selbst von Gott getrennt haben oder nicht, all das weiß Gott allein. Auch wenn der Priester sicher versuchen wird, den Grad der Freiheit zu unterscheiden - allein schon, um einen hilfreichen Rat und eine angemessene Buße geben zu können – wird er nie mit Genauigkeit sagen können, wie frei die Person bei der Tat wirklich war und in welchem Gnadenstand sie sich seither befunden hat. Letzten Endes ist es immer Gott vorbehalten, das Herz zu prüfen.

Ähnliches ist in Bezug auf die Unterscheidung von Lebenssituationen zu sagen. Gott allein weiß, wie viel Verantwortung ein Mensch dafür trägt, dass er in eine bestimmte Situation gekommen ist. Der Priester im Beichtstuhl kann nur wissen, dass eine gegebene Lebenssituation – zum Beispiel Mitgliedschaft in einer Terrororganisation – objektiv im Widerspruch steht zum Plan Gottes für diesen Menschen: seine Berufung, in der Freundschaft mit Gott zu leben. Wenn ich fähig bin, Entscheidungen zu treffen; wenn ich Herr meiner Taten bin und wenn ich in der Lage bin, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, dann muss ich wählen, ob ich der Freund von Mördern oder ein Freund Gottes sein will: Wie könnte jemand der Freund des Vaters und zugleich der Freund eines Mörders sein, der dessen Kinder umbringt? Hier ist die Spannung objektiv.

Ebenfalls besteht eine objektive Spannung dort, wo ich einerseits das Geheimnis der Treue des Herrn zu seiner Braut feiern will und andererseits in einer Situation lebe, in der ich beständig und öffentlich meiner eigenen Braut untreu bin. Könnte ich in beiden Fällen – und in der Tat in jeder „objektiven Situation der Sünde“ – noch „in der Gnade Gottes leben“, lieben und „auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen“ (AL 305)? Der Papst ist radikal, wenn er darauf bejahend antwortet: es kann „Bedingtheiten oder mildernde Faktoren“ geben (AL 305), aufgrund derer die Menschen nicht frei und damit nicht verantwortlich sind. Für einen anderen Menschen aber wird es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein, den Grad der Freiheit zu ermessen, zu unterscheiden oder zu beurteilen, mit dem jemand in eine solche objektive Situation der Sünde verwickelt ist.

Folglich können die Worte des Heiligen Vaters über die Unterscheidung nicht als eine Einladung an die Beichtväter interpretiert werden, den Gnadenstand der einzelnen Gläubigen zu unterscheiden, um dann, im Falle einer positiven Unterscheidung, Menschen in einer objektiven Situation der Sünde zur Kommunion zuzulassen. Der Papst würde etwas unmögliches verlangen (vgl. das Konzil von Trient) und würde sich selbst widersprechen („Wer bin ich, dass ich urteile?“). Unterscheidung kann daher nicht als ein Urteil über den Gnadenstand verstanden werden, sondern als etwas, das dazu dient, „die möglichen Wege der Antwort auf Gott und das Wachstum inmitten der Begrenzungen zu finden“ (AL 305), angefangen mit der Unterscheidung der Wahrheit über die eigene objektive Situation vor Gott.

Im Falle der „wiederverheirateten“ Geschiedenen würde das konkret die Prüfung der Existenz eines Ehebandes einschließen (d.h. sich zu fragen, ob die Ehe gültig war) und auch die Feststellung möglicher Gründe, die von der „Verpflichtung zur Trennung“ entbinden (vgl. Familiaris Consortio 84; AL 298). Hinzu kommt die Suche nach Wegen, um den Betroffenen zu helfen, gemäß der Wahrheit ihrer Beziehung zu leben (d.h. in Enthaltsamkeit – als zwei Menschen, die eben nicht verheiratet sind). Unterscheidung ist auch nötig, wo es darum geht, Wege der Eingliederung zu finden, die sich nicht mit der Situation der Sünde zufrieden geben, sondern die Zuversicht ausdrücken, dass Gottes Gnade wirksam ist und dass Menschen die Fähigkeit haben, auf sie antworten und mit ihr zu kooperieren. Auf diese Weise wird den Menschen geholfen, sich auf einen authentischen Weg des Wachstums zu begeben, der als Ziel die Wiederherstellung der Person in der uns vom Herrn angebotenen Lebensfülle hat.

Stephan Kampowski ist Professor für philosophische Anthropologie am Päpstlichen Institut „Johannes Paul II.“ für Studien über Ehe und Familie, Rom. Er stammt aus Kaufbeuren und studierte am Internationalen Theologischen Institut in Gaming, Österreich, an der Franciscan University of Steubenville, USA, und in Rom.

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