Warum auch Europa leiden muss

11. April 2016 in Aktuelles


Die Kreuzzüge und der ‚Zusammenprall der Kulturen’: Geschichte und Aktualität eines Misserfolges, den der Westen bis heute abbezahlt. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as/VATICAN magazin) Seitdem der amerikanische Politologe Samuel Phillips Huntington 1993 sein Buch „Clash of Civilizations and the Remaking of World Order” („Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“, Hamburg 2006) veröffentlichte, hat die Diskussion um das Verhältnis zwischen der westlichen Kultur und den anderen Kulturen zusätzliche Dynamik erlangt. Die These Huntingtons besagt, dass sich die Weltpolitik der nächsten Zukunft nicht als eine Auseinandersetzung zwischen politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Systemen darstellen wird, sondern in der Form eines „Aufeinanderpralls“ („clash“) verschiedener Kulturkreise, bei dem dann in besonderer Weise das Abendland in seiner christlichen Dimension auf den Islam trifft. Verschiedenste Interpreten waren dieser neuen kulturtheoretischen These nicht abgeneigt, die durch die Ereignisse nach dem 11. September 2001 mit den sich anschließenden verschiedenen Kriegen in Afghanistan und im Irak neuen und besonderen Zündstoff erhalten hatte. Aber auch auf islamischer Seite ist das Konzept des Kulturkrieges durchaus vertreten und wird gerne mit dem Begriff der „Kreuzzüge“ und der Vertreter oder Armeen des Westens mit ihren Ideen auf muslimischen Boden als „Kreuzzügler“ zusammengefasst.

Dies geschieht in verschiedener Weise auch in Bezug auf den Papst und die Kirche von Rom. So zögerten im Jahr 2009 verschiedene radikale Islamisten nicht, Benedikt XVI. im Vorfeld seiner Reise ins Heilige Land gerade als Kreuzzügler zu definieren, dessen Gegenwart an den heiligen Stätten, die auch der Islam für sich beansprucht, abgelehnt wird. Dies mutete besonders angesichts der Gestalt Benedikts XVI. seltsam an, war und ist dieser doch ein Güte ausstrahlender alter Mann, ein Hirt, der am Steuerrad des Schiffes des Petrus mitten auf einem stürmischen Ozean stand und verkündete: „Gott ist Liebe!“. Welches Bild wäre unangemessener gewesen als das eines trutzigen Kreuzfahrers zu Pferd und mit dem Schwert in der Hand, der „sub signo Crucis“ die anderen bekämpft? Und dennoch wurde die weiße Gestalt des Stellvertreters Christi auf Erden mit Waffengerassel in Verbindung gebracht.

Bei Papst Franziskus ist die Lage anders: Seine Person anzugreifen gilt als undiplomatisch und kontraproduktiv, wird er doch universal als eine der herausragendsten moralischen Autoritäten anerkannt. So richtet der gegenwärtige Islamismus in der Form einer Terrorbande, die sich selbst Islamischer Staat nennt, seine Drohungen gegen Rom, gegen den Vatikan als Zentrum der Christenheit. Vor allem im Zusammenhang mit dem Außerordentlichen Heiligen Jahr der Barmherzigkeit kam und kommt es im Internet und in E-Books immer wieder zu konkreten Drohungen: Die schwarze Fahne des IS flattert im Wind, gehisst auf dem Obelisken des Petersplatzes. Einst hieß es, in sieben Monaten, im Dezember 2015, hätte Rom erobert werden sollen. So sollte ein neuer Weg für den Islam und die Muslims beginnen.

Dazu kam es nicht, aber die italienischen Geheimdienste warnen gerade in Anbetracht der massiv gestiegenen Migrantenströme immer wieder vor der Gefahr der Infiltration durch Terroristen und „foreign fighters“. Es besteht die Befürchtung, dass die Terroranschläge in Paris vom 13. November 2015 der Anfang einer neuen Strategie des Kampfes gegen den „christlichen Westen“ war und somit weitere Anschläge folgen werden. Umso mehr ist es gerade heute berechtigt, die Frage nach der eigentlichen geschichtlichen Dimension des Phänomens der Kreuzzüge zu stellen, jenseits aller begrifflichen Unklarheit, Klischees, Mystifizierungen und irrationalen Ritterromantik, jenseits der Drohungen eines im Wesentlichen faschistischen Islamismus mit seinem Dschihad.

Was war ein Kreuzzug? Der Kreuzzug ist ein vom Papst ausgerufenes oder autorisiertes militärisches Unternehmen, das mit bestimmten Gnadenerweisen verbunden ist. Ziel der Kreuzzuges ist es, die von den Andersgläubigen, den Muslimen eingenommenen heiligen Stätten im Heiligen Land zurückzuerobern und die christliche Bevölkerung und die christlichen Reiche zu schützen oder durch ein Einschreiten gegen Christen, die als Feinde des wahren Glaubens erkannt sind, die Rechte der Kirche zu verteidigen. Im spezifischen Sinne sind die Kreuzzüge jene Versuche vom elften bis vierzehnten Jahrhundert, das Heilige Land und dabei besonders Jerusalem der Herrschaft der Muslime zu entreißen. Üblicherweise werden neben kleineren derartigen Unternehmen oder ähnlichen Konflikten sieben Kreuzzüge in Betracht gezogen.

Der erste, von Papst Urban II. 1095 nach einem Hilfeersuchen des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos ausgerufene Kreuzzug ist der berühmteste. Der für die Christenheit fatalste und beschämendste Kreuzzug ist der vierte (1198 ausgerufen von Innozenz III.), in dessen Verlauf es 1204 zur Eroberung und Zerstörung der Hauptstadt des byzantinischen Reiches Konstantinopel und der darauf folgenden Errichtung des „Lateinischen Kaiserreiches von Konstantinopel“ oder „Romania“ kam. Die eigentlichen Ziele des Kreuzzuges – Ägypten und das Heilige Land – waren vergessen.

Der Ursprung der Kreuzzugsbewegung ist in Pilgerfahrten ins Heilige Land zu sehen, die seit dem zweiten Jahrhundert bezeugt sind. Die Situation änderte sich radikal mit dem Aufkommen des Islam und dessen Expansion und sowie der Eroberung Palästinas zwischen dem siebten und dem neunten Jahrhundert. Die christlichen Pilgerreisen wurden dadurch zunächst nicht verunmöglicht, jedoch erschwert. 1008 ließ Kalif El Hakim die Grabesbasilika in Jerusalem zerstören. In den folgenden sechs Jahren erlitten weitere dreißigtausend Kirchen dasselbe Schicksal. Es wurde angeordnet, alle Kreuze zu verbrennen und christlichen Besitz zu beschlagnahmen. So entwickelte sich auch auf der Grundlage älterer Konzepte von einem „bellum iustum“, einem „gerechter Krieg“, die Idee einer bewaffneten Pilgerreise, verbunden mit der mittelalterlichen Vorstellung der Feudalherrschaft, innerhalb derer das Heilige Land als Erbbesitz des Herren gesehen wurde, der nunmehr wieder seinem Stellvertreter auf Erden übergeben werden sollte.

Die religiöse Inspiration der Kreuzzüge verquickte sich mit Anlässen politischer und weltlicher Natur. Viele Adelige ohne Erbrecht sahen in den Kreuzzügen eine Gelegenheit, nicht nur etwas für ihr Seelenheil zu tun, sondern auch neue Besitztümer zu erlangen. Zweifellos spielte für Papst Urban II. die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Einheit der Kirche durch eine Verteidigung der Ostkirchen vor der muslimischen Bedrohung eine Rolle – die erste Reaktion auf die neue weltpolitische Lage. So schrieb der Papst: „Die Muslime haben immer mehr Länder der dortigen Christen besetzt und diese in sieben Kriegen besiegt. Sie haben viele von ihnen getötet und gefangen genommen, die Kirchen zerstört und das Kaiserreich von Byzanz verwüstet. Wenn man sie das weiter ungestraft tun lässt, werden die Gläubigen in einem noch weit größeren Ausmaß von ihnen angegriffen werden.“

Somit erhellt, dass es sich entgegen einer oberflächlichen Darstellung um keinen unprovozierten Angriff des europäischen Abendlandes gegen die neue islamische Welt handelte. Vielmehr kann die Reaktion als Ergebnis einer unseligen Spirale fortschreitender Unterdrückung und Gewalt gesehen werden, die ihren Anfang mit der Eroberung Jerusalems 638 durch die Muslime gesehen hatte. Entgegen der heute gern vorgebrachten Vorwürfe, dass die Christen einen Religionskrieg zur Bekehrung des Islam geführt hätten, ist festzuhalten, dass gerade im Aufruf Papst Urbans II. zum ersten Kreuzzug dieser Aspekt nicht erwähnt wird und keine Rolle spielt. Erst hundert Jahre später, mitten im dreizenten Jahrhundert, machten Christen und dabei vor allem der neu erstandene Orden des heiligen Franziskus einen gezielten Versuch, in den von Kreuzfahrern besetzten Gebieten Muslime zu bekehren – ein Versuch, dem kein Erfolg beschieden war.

Ein großer Vorwurf gegen die Christen ergibt sich aus der Eroberung und Plünderung Jerusalems am 15. Juli 1099, ein Ereignis, das gern als einzigartig in der Geschichte des Mittelalters dargestellt wird, als ein Blutbad immensen und widermenschlichen Ausmaßes im Zeichen des Kreuzes, das zum Symbol und zur Ursache für das Misstrauen der Muslime gegenüber der westlichen Welt hochstilisiert wird.

Im Licht einer kritischen historischen Sichtung der zu Verfügung stehenden Quellen ist jedoch festzustellen, dass diesem Ereignis kein Ausnahmecharakter an Gewalt und Grauen zugeschrieben werden kann. Es handelte sich zweifellos um ein verachtenswürdiges entsetzliches Verbrechen, das in seinem ganzen Ausmaß jeglichem christlichen Prinzip widerspricht und aus diesem Grund nicht gerechtfertigt werden kann. Leider entsprach die Tat den „militärischen Standards“ der Zeit. Was den Christen vorzuwerfen ist, ist somit nicht eine besondere Grausamkeit, als vielmehr die Tatsache, dass sie nicht anders waren als ihre Zeitgenossen, dass sie den vom Übel durchdrungenen Strukturen der Welt ebenso aufsaßen wie jene, die sie als Ungläubige, Heiden oder Gottlose qualifizierten.

Was die literarische Darstellung des Ereignisses bei den Chronisten der Zeit betrifft, kann festgestellt werden, dass diese die Vorkommnisse von 1099 einem Interpretationsschlüssel entsprechend berichteten, der sich sowohl an alttestamentlichen Texten oder treffenden Abschnitten aus der Offenbarung des Johannes orientierte. Zahlenangaben, die Einwohner Jerusalems und die Opfer des Gemetzels betreffen, sind somit aufgrund der stilistischen Methoden der Berichterstatter mit Vorsicht zu genießen.

Eines ist offensichtlich: Das Phänomen der Kreuzzüge gehört zu den umstrittensten der Kirchengeschichte, oder vielmehr: der Geschichte von Christen und ihrem Verhalten in der Welt, ohne dabei auf die dramatischen und die Geschichte für viele Jahrhunderte verdunkelnden „Begleitschäden“ einzugehen, die die Kreuzzüge als „Pogrome“ gegen das jüdische Volk provozierten.

In einer Zeit, in der religiös orientierte Gruppen meinen, aus einer religiösen Motivation heraus „Krieg“ oder gar einen „heiligen Krieg“ führen zu können, stellt die Kreuzzugsbewegung eine nicht nur historische Herausforderung dar, deren man sich nicht durch vorschnelle oder oberflächliche Entschuldigung für einmal Geschehenes entziehen kann. Krieg und Gewalt können nie im Namen des Heiligen oder im Namen Gottes gerechtfertigt werden, dies nicht in erster Linie deswegen, weil Gott den Menschen zur Vollkommenheit berufen hat, als vielmehr weil dies der Natur seiner Vernunft widerspricht.

Ein anderer Blick jedoch hatte sich dadurch ergeben, dass die Wertordnung der Zeit der Kreuzzüge eine rein vertikal ausgerichtete Ordnung war: Gott stand über allem Menschlichen und Endlichen und veranlasste die Menschen so dazu, alles für ihn aufs Spiel zu setzen. Demgegenüber stellte die Kreuzzugbewegung einen bisher in Europa nicht da gewesenen kulturellen „Kitt“ dar, der auf der Grundlage als gemeinsam erkannter christlicher Wurzeln zu einer Einheit unter den Reichen und staatlichen Gebilden führte, die dann aus politischen und wirtschaftlichen Interessen entartete. Die ideale Dimension, die für den ersten Kreuzzug bestimmend und wegweisend war, pervertierte – nicht aus auf die Religion zurückführbaren Gründen, sondern durch die Verschmutzung der Religion durch außerreligiöse Motivationen.

Es sollte somit vorrangiges Anliegen sein, das Phänomen zu begreifen: als einen großen Misserfolg in der Geschichte des Christentums mit schweren Folgen aufgrund seiner ideologischen Verzerrung. „Die Aprikose scheint der einzige Vorteil zu sein, den die Kreuzzüge dem Westen gebracht haben“, meinte ironisch Jacques Le Goff in „Die Geburt Europas im Mittelalter“. Die Zahl der Nachteile ist bedeutend höher. Es ist gewiss nicht überspitzt formuliert, dass die Kreuzzüge in der Gegenwart der Grund für mehr Opfern sind oder sein können als sie dies in ihrer Zeit waren. Juden und Christen: sie sind das Hauptziel der „Weltfront des Islam für den Heiligen Krieg“.

Die Geschehnisse in Syrien, auf der arabischen Halbinsel und in Afrika in den letzten zwei Jahren haben die besondere Grausamkeit und Unmenschlichkeit einer sich immer mehr ausdehnenden Mörderbande gezeigt, die im Namen Gottes tötet, den Begriff der Menschenwürde nicht kennt, die Kirche zu einer Kirche neuer Märtyrer gemacht hat. Dies führt Papst Franziskus immer wieder dazu, eine schwere Aussage zu wiederholen: In unserer Zeit gibt es mehr um ihres Glaubens willen getötete Christen als in den ersten Jahrhunderten, Christen, deren „Kampf“ für das Kreuz sich in ihrem Martyrium vollzieht.

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