Ist die christliche Bestattungskultur bedroht?

22. März 2016 in Kommentar


Die Individualisierung der Gesellschaft spiegelt sich auch in der Bestattungskultur wider. Während die alten Rituale immer seltener gepflegt werden, treten neue Trends auf. Ein idea-Bericht von Tom de Vries.


Wetzlar (kath.net/idea) Noch vor 100 Jahren wurden die Verstorbenen von allen geehrt: Die Nachbarn trugen den Sarg, und die Gemeinde begleitete die Trauernden auf dem schweren Gang zum Friedhof. Beim abschließenden Leichenschmaus gedachte man gemeinsam des Toten. Immer mehr bevorzugen die Anonymität des namenlosen Entsorgtwerdens, teils auch aus rein finanziellen Erwägungen heraus. Andere suchen nach neuen Formen der Trauerbewältigung: Der Sarg wird bemalt, die Urne kommt in den Friedwald oder wird zu Hause erst mal in den Wohnzimmerschrank gestellt, denn der Friedhofszwang ist etwa in Bremen so gut wie aufgehoben worden. Die Asche von Verstorbenen darf auf Privatgrundstücken und festgelegten öffentlichen Flächen des Landes verstreut werden. Auch in den anderen Bundesländern wird die alte Bestattungspflicht kaum noch erzwungen. Manche befürchten dadurch den Verlust der abendländisch-christlichen Bestattungskultur.

Beerdigungen der besonderen Art

Andere sehen darin die positive Entwicklung einer individualisierten Trauerpraxis. Wie etwa die Berliner Bestatterin Claudia Marschner. Ihre Schaufensterauslage ist derzeit eine Art Kunstinstallation zum Gedenken an den vor kurzem verstorbenen Popsänger David Bowie. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass ihr Geschäft keine Galerie ist, sondern Beerdigungen der besonderen Art anbietet. Ihre Kunden suchen nicht den Schnell-und-Billig-Sarg-Laden, sondern legen auch mal den einen oder anderen Euro mehr drauf. Denn der Markt bietet im Grunde alles, was Hinterbliebene wünschen.

„Da gibt es viele Innovationen. Junge Werbeagenturen kümmern sich wieder um Trauerkarten, die dem Toten ein Gesicht geben. Künstler erstellen Urnenunikate. Ein anderer Bestatter stellt Totenmasken her. Kutschen werden angeboten oder weiße Limousinen. Manche Bestatter denken auch schon über E-Fahrzeuge nach“, berichtet Marschner, die seit über 20 Jahren in der Bestattungsbranche arbeitet.

Die Ruhe der einfachen Zeremonie

Doch die Trauerexpertin sieht eine Trendwende. Es muss nicht mehr die tolle Totenfeier, das herausragende Begräbnis-Ereignis sein, organisiert und angeboten von sogenannten „Ritual-Designern“. Immer mehr Familien suchten viel mehr die Ruhe der einfachen Zeremonie. „Es gibt eine Moderne, aber bei Trauerfeiern braucht es immer ein Ritual. Es gibt keine Trauerfeier, wo jemand sagt, wir wollen hier ganz alleine individuell sein, sondern am Ende stehe immer ein gesamtes Bild, auch wenn es eine zerpflückte Familie ist, die zusammenkommt“, weiß die Bestatterin.

In der Regel wünschen die Angehörigen einen Trauerredner oder Theologen, der am Grab spricht. Und dass es einen würdigen Ablauf der Bestattung gibt. Doch wie man das nun genau macht, darüber herrscht zunehmend Verwirrung und Unsicherheit. Das wurde jetzt auch auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Berlin diskutiert. Die Berliner Pastorin Steffi Jawer weiß, dass alte Rituale in Vergessenheit geraten oder kaum noch gepflegt werden. Statt die Beerdigung zur gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Tod zu nutzen, würden immer mehr Menschen ein Vermeidungsverhalten an den Tag legen, oft auch, weil sie von den bewährten Trauerabläufen keine Kenntnis mehr hätten. Jawer nennt Beispiele: „Wenn neben den offenen Gräbern immer nur eine Schale mit weißem und feinem Vogelsand steht. Und wir sagen die Worte Erde zu Erde, Asche zu Asche, und es wird gar keine Erde geworfen, damit man sich nicht die Finger dreckig machen muss. Es ist loser Sand, der kein Geräusch verursacht. Aber der Tod ist dumpf und schwer auszuhalten, und auch dieses Geräusch der fallenden Erde gehört dazu.“

Sich dem Schmerz der Trauer bewusst stellen

Rituale sind eine Art psychologisches, aber auch gesellschaftliches Verhaltensgeländer, um für die Familie, Freunde und Bekannte den Übergang in die neue Situation leichter zu machen. Es sind Trennungsmechanismen, die in den Ritualen bis heute wirkmächtig sind bzw. sein könnten, wenn man sie denn wieder befolgen würde. Zum Beispiel das Einsargen, das Schließen des Sarges mit dem sprichwörtlichen Sargnagel. Das tut weh, aber es drückt auch aus, dass es endgültig ist, wenn jetzt der Sargdeckel zu ist. Da gibt es Hinterbliebene, die ganz bewusst diesen Schmerz aushalten und erleben wollen, etwa indem sie gemeinsam den Sarg an das Grab tragen. Andere aber vermeiden jeden sprichwörtlichen Körperkontakt mit dem Tod. Da gibt es dann automatische Versenkapparate, die den Sarg hydraulisch und geräuschlos herablassen. Da kann man auch nicht mehr das nackte Erdreich eines Grabes sehen, weil manche Bestatter meinen, so etwas den Trauernden nicht zumuten zu können. Stattdessen verkleiden sie alles mit Kunstrasen, damit die Endgültigkeit des Grabes weniger bewusst wird. Doch Pastorin Jawer rät dazu, sich des Schmerzes der Trauer bewusst zu stellen.

Wenn der Tote aufgegessen wird

Der gemeinsame „Totenschmaus“ nach dem Begräbnis etwa ist deswegen wichtig, weil er ein erster Schritt wieder ins normale Leben bedeutet. Essen, Trinken, Geschichten über den Verstorbenen austauschen, wieder Scherzen und Lachen. Das ist nicht pietätlos, sondern höchst angemessen und hilfreich für alle Beteiligten. Tiefenpsychologisch betrachtet „isst man den Toten auf“, ein archaisches symbolisches Ritual, das bis heute seine meist unbewusste Wirkung entfaltet. Dazu gehört für die Theologin Jawer auch, dass der Namen der Toten gedacht wird. Die Kirche kritisiert vehement, wenn Verstorbene geradezu anonym entsorgt werden. Das widerspreche aller Erinnerungskultur in einer christlich geprägten Gesellschaft. Auch wenn in Traueranzeigen darum gebeten wird, Beerdigungen nur im kleinsten Familien- oder Freundeskreis abzuhalten, so ist ein Begräbnis im Grunde doch für jeden offen. Wer sich vom Verstorbenen verabschieden möchte, hat ein Anrecht darauf.

Auch die Grabsteine werden individueller

Auf Grabsteinen gemeißelt finden sich mittlerweile auch viele nichtchristliche Bilder und Symbole, große Herzen etwa bis hin zu Micky Mäusen. Doch es gebe Grenzen, meint der Prenzlauer Superintendent Reinhart Müller-Zetzsche: „Es gibt eine Genehmigungspflicht. Selbst wenn eine Frau ihr Leben lang zu ihrem Mann ‚Mein Scheißerchen‘ gesagt hat, dann hat das trotzdem nicht auf dem Grabstein zu stehen, jedenfalls nicht auf einem kirchlichen Friedhof. Und zwar deswegen nicht, weil andere daran Anstoß nehmen könnten. Sie darf ihn gerne so in Erinnerung behalten, aber die Bestattung ist eine öffentliche Feier und ein würdiger Abschied, der trösten und nicht polarisieren soll.“

Nicht alles ist erlaubt

Auch dürften Friedhöfe kein Ort politischer Propaganda sein. Es gab etwa schon Ärger mit rechtsradikalen Parolen auf Grabsteinen, verrät Pfarrer Jürgen Quandt, der im Friedhofsverband Berlin-Stadtmitte für 40 Friedhöfe verantwortlich ist. Er findet es aber grundsätzlich begrüßenswert, wenn Angehörige die Trauerfeier wie das Grabfeld individuell gestalten und sich nicht mit Standard-Bestattungen zufriedengeben. „Das können Sie in besonderem Maße bei Kindergräbern auf Friedhöfen sehen, die ganz bunt sind. Da finden Sie Windmühlen und Ballons und Ähnliches. Das finde ich gut, weil dort eine Trauerkultur entsteht, die Bezug nimmt auf die Menschen, die da verstorben sind, eben kleine Kinder“, sagt Quandt.

Wenn Flüchtlingshäuser auf Friedhöfe gebaut werden

Es sei eben oftmals eine Geschmacksfrage, die aber nicht der Gemeindepfarrer zu beurteilen habe. Vielmehr solle man sich freuen, wenn sich Angehörige überhaupt noch um ihre Gräber kümmern. Denn die Grünanlagen unterliegen einem großen Umwandlungsprozess. Der größte Teil der ehemaligen Friedhofsflächen wird künftig nicht mehr genutzt werden, weil Urnen- und Gemeinschaftsgräber kaum noch Platz beanspruchen. Wenn die Liegefrist von in der Regel 25 Jahren abgelaufen ist, steht die Umwandlung in Gärten, Spielanlagen oder Bauland an. Bald sollen zum Beispiel zwei Flüchtlingshäuser in Neukölln und Kreuzberg auf ehemaligen Friedhöfen entstehen.

Kleiner, bunter, individueller

Die alten Friedhöfe werden also kleiner, dafür aber bunter und individueller. „Wir sind dabei, die strengen Regeln, die es immer noch gibt, offener auszulegen, und das heißt, dass unsere Friedhöfe künftig anders aussehen werden. Aber das ist mir allemal lieber, als wenn wir Friedhöfe haben, wo sie gar nicht mehr erkennen, dass es noch Friedhöfe sind, weil sie überhaupt keine Grabgestaltung mehr haben, sondern nur noch die grüne Wiese“, sagt Pfarrer Jürgen Quandt.



Foto oben (c) kath.net/Petra Lorleberg


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