Psychiater Bonelli: Vergebung und Versöhnung stärken Gesundheit

30. November 2015 in Spirituelles


Buchautor und Neurowissenschafter Bonelli: Beichte und Ablass sind "starkes Zeichen in die richtige Richtung für den modernen Menschen, der sich nicht als Schuldner erlebt"


Wien (kath.net/KAP) Vergebung und Versöhnung haben deutliche positive Auswirkungen auf die Gesundheit: Das hat der Wiener Psychiater und Buchautor Raphael Bonelli (Foto) dargelegt. "Mit der Bereitschaft zur Versöhnung verbessert sich nachweislich die psychische Befindlichkeit, und die Anfälligkeit für Depressionen sowie Angsterkrankungen sinkt", berichtete der Leiter des Wiener Instituts für Religiösität in Psychiatrie und Psychotherapie (RPP) im Interview mit "Kathpress". Dass es heute vielen Menschen schwer falle, sich auf diese Weise "barmherzig" zu verhalten, gehe vor allem auf den zeitgeistigen Hang zum Moralisieren und Fremdbeschuldigen zurück.

Vergebung sei kein Bagatellisieren oder gar ein nachträgliches Gutheißen eines Fehlers, sondern ein Heraustreten aus der Opferrolle, nach dem Muster "Es war falsch. Trotzdem vergebe ich dir", erklärte Bonelli. Zuerst geschehe Vergebung auf der Ebene der Entscheidung, dann erst als Gefühl. "Die Aussage 'Ich kann nicht vergeben, da ich nichts spüre', ist falsch. Das Bauchgefühl, das vom anderen nach einer Verletzung Abstand nimmt, da es nach Sigmund Freud die Unlust vermeidet, hinkt der Herzensentscheidung zur Vergebung später nach." Selbst im erschwerten Fall, bei dem der Täter nicht um Entschuldigung bittet, sei innere Vergebung auf diese Weise möglich.

Vergebung nach Streit oder Verletzung gelinge umso eher, je klarer man die eigene Fehlerhaftigkeit sieht, verwies Bonelli auf entsprechende Studienergebnisse. Viele Menschen schafften es jedoch kaum, eigene Schuld einzugestehen. "In der Psychotherapie reden die Menschen am liebsten über die Fehler anderer. Statt einem entspannenden 'Das hätte mir genauso passieren können' hört man viel öfter das moralisierende 'Das würde ich nie tun', mit dem man zu anderen Menschen auf Distanz geht", berichtete Bonelli. Der Psychiater widmete sich in mittlerweile zwei Büchern ("Perfektionismus", "Selber schuld!") dem Thema.

Das Moralisieren hat heute Hochkonjunktur, so die Beobachtung Bonellis. "Ähnlich wie bei der weitgehend sinnfreien Etikette des Viktorianismus im britischen 19. Jahrhundert wird heute politische Korrektheit und Antidiskriminierung oft übertrieben. Im selben Licht zu sehen ist die gezielte Suche auf Facebook nach Vertreter gegnerischer Meinungen, die dann erbarmungslos mit Shitstorms hingerichtet werden." Die Panik, selbst zur Tätergruppe gezählt zu werden, auf die alle zeigen, stehe der Selbsterkenntnis oftmals im Weg und führe zu "unbarmherzigem" Verhalten.

Großzügigkeit gegenüber dem Brandstifter

Seitens der Religionen wird der Vergebung und der Selbsterkenntnis als Weg dorthin hingegen hohe Bedeutung zugemessen, vor allem im katholischen Beichtsakrament. "Dass hier eigene Verfehlungen vor einem qualifizierten Dritten ausgesprochen werden, ist eine geniale Einrichtung; die Psychotherapie imitiert dies bloß, hat Carl Gustav Jung einmal gesagt", so Bonelli. Der direkte Blickkontakt sei in beiden Fällen entbehrlich: Ähnlich wie der Beichtpriester hinter dem Gitter im Beichtstuhl als Mensch zurücktritt, positionierte sich auch Sigmund Freud fernab des Blickfeldes seiner Patienten.

Die Beichte sowie auch den Ablass, die beide von der Kirche im "Heiligen Jahr der Barmherzigkeit" besonders gefördert werden, wertete Bonelli als "starke Zeichen in die richtige Richtung für den modernen Menschen, der sich nicht als Schuldner erlebt": Der Erlass zeitlicher Sündenstrafen lehre, "vor der eigenen Tür zu kehren, denn wer sich für fehlerfrei hält, kommt ja sowieso in den Himmel und braucht daher keinen Ablass". Zu vergleichen sei das Konzept mit einer überaus großzügigen Behandlung eines Brandstifters: "Dem Täter wird nicht nur emotional vergeben, sondern auch die Finanzschuld erlassen."

Alte Lehre der Kirche

Der Ablass ist nach altem katholischen Verständnis ein Zeichen der Gnade, der den Menschen von "zeitlichen Sündenstrafen" befreit. Im Bußsakrament wird dem reuigen Sünder nach dem Bekenntnis die Sündenvergebung durch Gott zugesprochen. Der theologische Ausdruck von den "zeitlichen Sündenstrafen" meint in diesem Zusammenhang nicht, dass Gott zwar die Sünden vergibt, aber dann ähnlich einem weltlichen Gericht Strafen für Missetaten und Versäumnisse verhängt. Vielmehr sind damit die Nachwirkungen von Sünden gemeint, die zwar im Bußsakrament bereits vergeben wurden, aber deren Auswirkungen die Menschen weiter belasten.

Das kirchenamtliche Wort für "Ablass" (lateinisch "indulgentia") bedeutet ursprünglich Nachsicht, Güte und Zärtlichkeit. Wer sich um einen Ablass bemüht, darf sich nach Lehre der Kirche gewiss sein, der Nachsicht und Güte Gottes zu begegnen, um dadurch auch selbst nachsichtiger und gütiger zu werden.

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