Woelki: 'Diaspora ist allerorten unsere pastorale Realität'

23. September 2015 in Deutschland


Kölner Kardinal zitiert bei DBK-Frühmesse Markus Günther: „Jeder vierte Deutsche glaubt, dass die Begegnung mit einer schwarzen Katze Unglück bringt. An Ufos glauben zwischen Flensburg und Oberammergau mehr Menschen als ans Jüngste Gericht.“


Fulda (kath.net/DBK) Auf die de facto-Diaspora-Situation der Christen in Deutschland machte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki in seiner Predigt bei der Morgenmesse im Rahmen der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda aufmerksam. Die ursprünglich vorgesehene Predigt, die dem Lebensschutz und der Inklusion Behinderter gewidmet war, wurde vom DBK-Pressebüro wieder zurückgezogen, da sie nicht gehalten worden war.

Predigt von Kardinal Rainer Maria Woelki in der Eucharistiefeier am 23. September 2015 in Fulda zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz:
Lesung: Esra 9, 5-9. Evangelium: Lk 9, 1-6
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
Predigen und Heilen: das sind die Haupttätigkeiten Jesu in seinem öffentlichen Wirken. Mit der Predigt verkündet er das Reich Gottes, und mit den Heilungen zeigt er, dass das Reich Gottes mitten unter uns ist. Seinen Jüngern gibt er genau das mit auf den Weg: Sie sollen das Evangelium verkünden und die Menschen heilen.

Dieser Auftrag gilt bis heute: wir sollen uns auf den Weg machen und nichts mitnehmen, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd (Lk 9, 3). Wie oft, liebe Schwestern und Brüder, wie oft geht es uns in Anbetracht dieses Auftrages wie Esra in der Lesung des heutigen Tages, dass wir im Grunde unseres Herzens nur sagen können: „Mein Gott, ich schäme mich und wage nicht, die Augen zu dir, mein Gott, zu erheben!“ (Esra 9, 6). Aber Esra macht dann – Gott sei Dank – auch die Erfahrung, dass Gott ihn nicht sich selbst überlässt: „Er ließ uns aufleben, so dass wir das Haus unseres Gottes wieder aufbauen und es aus den Trümmern wieder aufrichten konnten“ (Esra 9, 9), hörten wir da. In welchen Trümmern liegt das Haus Gottes heute? In einem bemerkenswerten Beitrag mit dem Titel „Kirche vor dem Kollaps“ von Markus Günther las ich vor einigen Monaten folgendes: „Es gibt hierzulande 45.000 Kirchen, und die meisten sind – rein baulich – gut in Schuss. In diesem Jahr nehmen die katholische Kirche und die evangelische Kirche in Deutschland so viel Geld ein wie nie zuvor. Die deutsche Kirchenmusik ist die beste der Welt. Es gibt noch 44.000 katholische Trauungen pro Jahr und 225.000 evangelische Konfirmationen. Ist das nichts?

Fehlt nur noch das Argument, dass die Kirchen der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland sind und mehr als einer Million Menschen einen sicheren Arbeitsplatz bieten. – Dann ist die Kirche endgültig auf dem Legitimationsniveau der örtlichen Müllverbrennungsanlage angekommen.

Nein, eine Kirche kann weder allein als Arbeitgeber noch als Stütze des Sozialsystems ernst genommen werden, sondern nur als Glaubensgemeinschaft. Und genau das, die gemeinsamen Glaubensinhalte, hat sich weitgehend in Luft aufgelöst. Dass nur ein Drittel der Deutschen an die Auferstehung Christi glaubt, müsste die Kirchen schon einigermaßen beunruhigen, wenn doch nach Aktenlage zwei Drittel Christen sind. Doch es ist noch viel schlimmer: Selbst unter den Gläubigen werden zentrale Inhalte der christlichen Botschaft massenhaft abgelehnt. 60 Prozent glauben nicht an ein ewiges Leben. Dagegen glaubt jeder vierte Deutsche, dass die Begegnung mit einer schwarzen Katze Unglück bringt. An Ufos glauben zwischen Flensburg und Oberammergau mehr Menschen als ans Jüngste Gericht. Willkommen in der deutschen Diaspora.“ Diese Diaspora, liebe Schwestern und Brüder, ist nicht mehr weit weg – in Hildesheim oder im Osten der Republik; diese Form der Diaspora ist allerorten unsere pastorale Realität. Vorsehen müssen wir uns aber davor, zu glauben, dass früher alles besser gewesen sei. Auch in den Jahrhunderten und Jahrzehnten, als unsere Kirchen voll waren, gab es Unverständnis über die Wahrheiten unseres Glaubens.

Auch früher war vieles Konvention und Tradition; heute wählt man sich aus unzählig hippen Alternativen eine Hochzeit in Weiß in der Kirche aus – früher gab es nur um den Preis der Asozialität eine Alternative dazu. Damit will ich sagen: Ein Zurück in frühere Zeiten ist keine verantwortliche Alternative.

Wir leben in dieser Zeit. Wie aber wollen wir wirken in dieser Zeit? Das heutige Evangelium erinnert uns: Auch wir sind – wie die Jünger damals – ausgesandt, „mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen“ (Lk 9, 8). Dabei gilt es, die Kirche als Zeugin der Barmherzigkeit Gottes sichtbar zu machen.

Papst Franziskus hat dazu das bevorstehende Heilige Jahr der Barmherzigkeit angekündigt und in seiner Verkündigungsbulle so bestechend einfach eingeräumt: „Es ist ein Weg, der mit einer geistlichen Umkehr beginnt; und diesen Weg müssen wir gehen“ (Misericordiae vultus S. 40).
Es gilt, die Wunden in den Seelen der Menschen mit Barmherzigkeit zu heilen – dazu dient jedes Wort ewigen Lebens; und in unüberbietbarer Weise jenes fleischgewordene Wort ewigen Lebens, an das wir glauben und das für unser Leben allein bestimmend ist: Jesus Christus; an den, der einst Petrus auf dessen Frage, wie oft man vergeben solle, antwortete: „Nicht siebenmal, sondern sieben und siebzigmal“ (Mt 18, 22). Jesus bittet uns zu vergeben und uns selbst hinzugeben, Werk-zeuge der Vergebung zu sein, weil wir zuerst selbst Gottes Vergebung erfahren haben, großzügig zu sein allen gegenüber im Wissen darum, dass auch Gott sein Wohlwollen uns gegenüber großzügig handhabt. In diesem Sinne braucht tatsächlich keiner ein zweites Hemd – außer vielleicht als Teilnehmer einer Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe –, sondern vielmehr ein offenes Herz, das sich anrühren lässt von der Barmherzigkeit

Foto Kardinal Woelki (c) Erzbistum Köln


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