Geballte Fäuste und Polit-Parolen für Papst Franziskus

10. Juli 2015 in Weltkirche


Treffen mit Volksbewegungen gerät zur Morales-Demonstration. Von Ludwig Ring-Eifel (KNA) - Papstansprache in voller Länge


Santa Cruz de la Sierra (kath.net/KNA) Der mit Spannung erwartete Auftritt von Papst Franziskus vor dem zweiten weltweiten Kongress der Volksbewegungen hat streckenweise den Charakter einer antikapitalistischen politischen Kundgebung angenommen. Zu Beginn der Veranstaltung in einer großen Messehalle verlasen Teilnehmer eine «Erklärung von Santa Cruz», in der sie eine neue Weltwirtschaftsordnung und eine Überwindung des «kapitalistischen Neoliberalismus» forderten. Zum umfangreichen linken Wunschkatalog gehörte auch Selbstbestimmung «unabhängig von der sexuellen Orientierung».

Begleitet von geballten Fäusten, Plakaten und Sprechchören, die einen Meerzugang für Bolivien forderten, begann Staatspräsident Evo Morales seine Rede. Er trug einen Blazer, auf dessen Brust ein Porträt von Ernesto Che Guevara prangte. Der war in den 60er Jahren an der Seite von Fidel Castro am Aufbau der kommunistischen Diktatur in Kuba beteiligt gewesen und starb 1967 als Guerillakämpfer in Bolivien. Unter den Fahnen, die im Saal geschwenkt wurden, waren auch kubanische.

In einer langen, kämpferischen Rede, die der des Papstes voranging, attackierte Morales das «nordamerikanische Imperium», das versuche, die «demokratischen Revolutionen» in Lateinamerika zu bekämpfen und die Völker des Kontinents zu spalten. Zugleich pries er die Erfolge seiner politischen Bewegung «Movimiento al Socialismo». Ausgangspunkt seien soziale Bewegungen der Koka-Bauern und anderer Gewerkschaften gewesen. Sie habe zu einer Neugründung des Staates in Würde und Freiheit geführt. Einer der sichtbaren Erfolge sei die Verstaatlichung der Rohstoffindustrie gewesen. Der Kampf gegen Privatisierungen sei ein zentrales Anliegen aller lateinamerikanischen Volksbewegungen.

Der Linkspolitiker attackierte in seiner halbstündigen Rede in einem kämpferischen Rundumschlag auch seine liberalen Vorgängerregierungen und den Internationalen Währungsfonds IWF. Ausdrücklich lobte er Griechenlands Präsidenten Alexis Tsipras für seinen Widerstand gegen die Sparauflagen des IWF und der Gläubigerstaaten. Was die griechische Regierung versuche, sei der Beginn einer Revolution gegen die Macht der Finanzwelt auch in Europa, der er Erfolg wünsche. Morales kritisierte auch den Staat Israel, die Vereinten Nationen und den Weltsicherheitsrat. Dieser sei in Wahrheit ein «Welt-Unsicherheits-Rat».

Franziskus, den Morales mehrmals als «Bruder Papst Franziskus» ansprach, verfolgte die Rede mit kritischem Blick, kommentierte sie aber nicht. Seine eigene, ruhig und gefasst vorgetragene Ansprache war ebenfalls gespickt mit Forderungen nach radikalen Veränderungen auf nationaler und internationaler Ebene. Der Beifall der rund 3.000 Teilnehmer für «unseren revolutionären Papst», als der er angekündigt wurde, fiel jedoch im Vergleich zur einpeitschende Rede des bolivianischen Präsidenten zunächst zurückhaltender aus. Erst als der Papst die Teilnehmer aufrief, den politischen und wirtschaftlichen Veränderungsprozess in die eigenen Hände zu nehmen, wurde der Applaus stärker.

Sein Appell, nicht nur Strukturen zu verändern, sondern sich auch um eine Umkehr der Herzen zu bemühen, traf auf nur mäßige Begeisterung. Der stärkste Beifall brandete auf, als er um Vergebung für die Sünden jener Kleriker bat, die bei der Eroberung und Missionierung Lateinamerikas die Rechte der indigenen Bevölkerung verletzt hatten. Dabei vergaß er auch nicht, all jene Geistlichen und Ordensleute zu erwähnen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten an der Seite der Armen und Entrechteten einsetzten.

Nach seiner Rede zog der Papst demonstrativ den Helm eines bolivianischen Bergarbeiters an und segnete viele der anwesenden Volksbewegungsführer persönlich. Er wirkte deutlich entspannter als die bolivianischen Bischöfe, die den Saal mit raschem Schritt verließen. Einige von ihnen haben mit Morales in der Vergangenheit Konflikte ausgetragen. Sie warfen ihm vor, die gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten der Kirche und die Meinungsfreiheit einzuschränken.

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kath.net dokumentiert die Ansprache des Papstes in voller Länge:

Ihnen allen einen guten Abend!

Vor einigen Monaten haben wir uns in Rom versammelt, und mir ist diese unsere erste Begegnung noch gegenwärtig. Während dieser Zeit habe ich Sie in meinem Herzen und in meinen Gebeten getragen. Ich freue mich, Sie erneut hier zu haben, in einem Gespräch über die besten Wege, wie die Situationen schwerer Ungerechtigkeit überwunden werden können, unter denen die Ausgeschlossenen in aller Welt leiden. Danke, Herr Präsident Evo Morales, dass Sie diese Begegnung so entschlossen begleiten.

Damals in Rom habe ich etwas sehr Schönes empfunden: Geschwisterlichkeit, Charisma, Engagement, Durst nach Gerechtigkeit. Heute in Santa Cruz de la Sierra spüre ich wieder das Gleiche. Danke dafür! Durch den Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden unter dem Vorsitzt von Kardinal Turkson habe ich auch erfahren, dass es viele in der Kirche gibt, die den Volksbewegungen nahe stehen. Das freut mich sehr! Zu sehen, dass die Kirche Ihnen allen ihre Türen öffnet, sich begleitend einbringt und es ihr gelingt, in jeder Diözese und jeder Kommission für Gerechtigkeit und Frieden eine wirkliche, ständige und engagierte Zusammenarbeit mit den Volksbewegungen zu strukturieren. Alle – Bischöfe, Priester und Laien gemeinsam mit den sozialen Einrichtungen der städtischen und ländlichen Randgebiete – lade ich ein, diese Begegnung zu vertiefen.

Gott hat es gewährt, dass wir uns heute ein weiteres Mal sehen. Die Bibel erinnert uns daran, dass Gott die Klage seines Volkes hört, und auch ich möchte erneut meine Stimme mit der Ihren vereinen: Grund und Boden, Wohnung und Arbeit für alle unsere Brüder und Schwestern! Das habe ich gesagt, und ich wiederhole es: Es sind unantastbare Rechte. Es lohnt sich, es lohnt sich, für sie zu kämpfen. Möge die Klage der Ausgeschlossenen in Lateinamerika und auf der ganzen Erde gehört werden!

1. Beginnen wir mit der Einsicht, dass wir eine Veränderung brauchen. Damit es keine Missverständnisse gibt, möchte ich klarstellen, dass ich von den gemeinsamen Problemen aller Lateinamerikaner – und generell der ganzen Menschheit – spreche. Von Problemen, die globalen Charakter haben und die heute kein Staat im Alleingang lösen kann. Nach dieser Klärung schlage ich vor, dass wir uns folgende Fragen stellen:

Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist in einer Welt, in der es so viele Campesinos ohne Grund und Boden, so viele Familien ohne Wohnung, so viele Arbeiter ohne Rechte gibt, so viele Menschen, die in ihrer Würde verletzt sind?

Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn so viele sinnlose Kriege ausbrechen und die brudermörderische Gewalt sich selbst unserer Stadtviertel bemächtigt? Sehen wir ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn der Boden, das Wasser, die Luft und alle Wesen der Schöpfung einer ständigen Bedrohung ausgesetzt sind?

Sagen wir es ganz unerschrocken: Wir brauchen und wir wollen eine Veränderung.

In Ihren Briefen und in unseren Begegnungen haben Sie mir die vielfältigen Ausschließungen und Ungerechtigkeiten geschildert, die Sie bei jeder Arbeit, in jedem Stadtviertel, in jedem Territorium erleiden. Sie sind so zahlreich und so unterschiedlich, wie Ihre Formen, ihnen entgegenzutreten, zahlreich und unterschiedlich sind. Es gibt jedoch einen unsichtbaren Faden, der alle diese Ausschließungen miteinander verbindet. Können wir ihn erkennen? Es handelt sich nämlich nicht um isolierte Probleme. Ich frage mich, ob wir fähig sind zu erkennen, dass diese zerstörerischen Wirklichkeiten einem System entsprechen, das sich über den ganzen Globus erstreckt. Erkennen wir, dass dieses System die Logik des Gewinns um jeden Preis durchgesetzt hat, ohne an die soziale Ausschließung oder die Zerstörung der Natur zu denken?

Ja, so ist es, ich beharre darauf, sagen wir es unerschrocken: Wir wollen eine Veränderung, eine wirkliche Veränderung, eine Veränderung der Strukturen. Dieses System ist nicht mehr hinzunehmen; die Campesinos ertragen es nicht, die Arbeiter ertragen es nicht, die Gemeinschaften ertragen es nicht, die Völker ertragen es nicht… Und ebenso wenig erträgt es die Erde, „unsere Schwester, Mutter Erde“, wie der heilige Franziskus sagte.

Wir wollen eine Veränderung in unserem Leben, in unseren Wohnvierteln, in der niedrigen Bezahlung, in unserer unmittelbaren Wirklichkeit; auch eine Veränderung, welche die ganze Welt berührt, denn heute verlangt die weltweite Interdependenz globale Antworten auf die lokalen Probleme. Die Globalisierung der Hoffnung, die in den Völkern aufkeimt und unter den Armen wächst, muss an die Stelle der Globalisierung der Ausschließung und der Gleichgültigkeit treten!

Ich möchte heute mit Ihnen über die Veränderung nachdenken, die wir wollen und brauchen. Sie wissen, dass ich vor Kurzem über die Probleme des Klimawandels geschrieben habe. Doch diesmal möchte ich über einen Wandel im anderen Sinn sprechen. Über einen positiven Wandel, eine Veränderung, die uns gut tut, einen „erlösenden“ Wandel, könnten wir sagen. Denn wir brauchen ihn. Ich weiß, dass Sie eine Veränderung suchen, und nicht nur Sie: Bei den verschiedenen Begegnungen, auf den verschiedenen Reisen habe ich festgestellt, dass es in allen Völkern der Welt eine Erwartung gibt, eine starke Suche, ein Sehnen nach Veränderung. Selbst in dieser immer kleineren Minderheit, die glaubt, von diesem System zu profitieren, herrscht die Unzufriedenheit und besonders die Traurigkeit. Viele erhoffen einen Wandel, der sie von dieser individualistischen, versklavenden Traurigkeit befreit.

Die Zeit, Brüder und Schwestern, die Zeit scheint reif. Es reichte nicht, dass wir untereinander gestritten haben, sondern wir wüten sogar gegen unser Haus. Heute gibt die Wissenschaft zu, was die einfachen Leute schon seit langer Zeit anprangern: Dem Ökosystem werden Schäden zugefügt, die vielleicht irreversibel sind. Die Erde, die Völker und die einzelnen Menschen werden auf fast barbarische Weise gezüchtigt. Und hinter so viel Schmerz, so viel Tod und Zerstörung riecht man den Gestank dessen, was Basilius von Cäsarea den „Mist des Teufels“ nannte. Das hemmungslose Streben nach Geld, das regiert. Der Dienst am Gemeinwohl wird außer Acht gelassen. Wenn das Kapital sich in einen Götzen verwandelt und die Optionen der Menschen bestimmt, wenn die Geldgier das ganze sozioökonomische System bevormundet, zerrüttet es die Gesellschaft, verwirft es den Menschen, macht ihn zum Sklaven, zerstört die Brüderlichkeit unter den Menschen, bringt Völker gegeneinander auf und gefährdet – wie wir sehen – dieses unser gemeinsames Haus.

Ich möchte mich nicht damit aufhalten, die üblen Auswirkungen dieser subtilen Diktatur zu beschreiben; Sie kennen sie. Es reicht auch nicht, die strukturellen Ursachen des augenblicklichen sozialen und ökologischen Dramas aufzuzeigen. Wir leiden unter einem gewissen Übermaß an Diagnose, das uns manchmal in einen wortreichen Pessimismus führt oder dazu, uns am Negativen zu ergötzen. Wenn wir die schwarze Chronik jedes Tages sehen, meinen wir, dass man nichts tun kann, als sich um sich selbst und den kleinen Kreis von Familie und Freunden zu kümmern.

Was kann ich, ein Cartonero, eine Catadora, ein Müllsucher, eine Müllsortiererin angesichts so vieler Probleme tun, wenn ich kaum genug zum Essen verdiene? Was kann ich Handwerker, Straßenhändler, Fernfahrer, ausgeschlossener Arbeiter tun, wenn ich nicht einmal Arbeitsrechte habe? Was kann ich Bäuerin, ich Indio, ich Fischer tun, wenn ich kaum der Unterwerfung durch die großen Genossenschaften widerstehen kann? Was kann ich von meinem Elendsviertel, meiner Bruchbude, meinem Dörfchen, meiner Barackensiedlung aus tun, wenn ich täglich diskriminiert und ausgegrenzt werde? Was kann dieser Student, dieser Jugendliche, dieser Vorkämpfer, dieser Missionar tun, der durch die Stadtviertel und die Gegenden läuft mit dem Herzen voller Träume, doch nahezu ohne irgendeine Lösung für meine Probleme? – Viel! Sie können viel tun. Sie, die Unbedeutendsten, die Ausgebeuteten, die Armen und Ausgeschlossenen, können viel und tun viel. Ich wage, Ihnen zu sagen, dass die Zukunft der Menschheit großenteils in Ihren Händen liegt, in Ihren Fähigkeiten, sich zusammenzuschließen und kreative Alternativen zu fördern, im täglichen Streben nach den „drei T“ (trabajo, techo, tierra – Arbeit, Wohnung, Grund und Boden) und auch in Ihrer Beteiligung als Protagonisten an den großen Wandlungsprozessen auf nationaler, regionaler und weltweiter Ebene. Lassen Sie sich nicht einschüchtern!

2. Sie sind Aussäer von Veränderung. Hier in Bolivien habe ich einen Ausdruck gehört, der mir sehr gefällt: „Wandlungsprozess“. Die Veränderung, nicht verstanden als etwas, das eines Tages eintreffen wird, weil diese oder jene politische Option sich durchgesetzt hat oder weil diese oder jene soziale Struktur errichtet wurde. Wir haben die schmerzliche Erfahrung gemacht, dass ein Wandel der Strukturen, der nicht mit einer aufrichtigen Umkehr des Verhaltens und des Herzens einhergeht, darauf hinausläuft, früher oder später zu verbürokratisieren, zu verderben und unterzugehen. Darum gefällt mir das Bild des Prozesses so sehr, wo die Freude am Aussäen und gelassenen Begießen von etwas, dessen Erblühen später andere sehen werden, an die Stelle der ängstlichen Sorge tritt, alle verfügbaren Machtbereiche zu besetzen und unmittelbare Ergebnisse zu sehen. Jeder von uns ist nicht mehr als ein Teil eines komplexen und vielschichtigen Ganzen, das in wechselseitiger Beeinflussung durch die Zeit geht – Bevölkerungsgruppen, die um Bedeutung ringen, für ein Ziel kämpfen, um in Würde zu leben, um „gut zu leben“.

Sie aus den Volksbewegungen übernehmen die immer gleichen Arbeiten, motiviert durch die Bruderliebe, die sich gegen die soziale Ungerechtigkeit auflehnt. Wenn wir das Gesicht der Leidenden sehen, das Gesicht des bedrohten Campesinos, des ausgeschlossenen Arbeiters, des unterdrückten Ureinwohners, der obdachlosen Familie, des verfolgten Migranten, des arbeitslosen Jugendlichen, des ausgebeuteten Kindes; das Gesicht der Mutter, die ihren Sohn in einer Schießerei verloren hat, weil das Quartier vom Drogenhandel eingenommen war; das Gesicht des Vaters, der seine Tochter verloren hat, weil sie der Sklaverei unterworfen wurde; wenn wir an diese „Gesichter und Namen“ denken, erschauern wir im Innersten und sind erschüttert… Denn „wir haben gesehen und gehört“ – nicht die kalte Statistik, sondern die Wunden der verletzten Menschheit, unsere Wunden, unser Fleisch. Das ist etwas ganz anderes als das abstrakte Theoretisieren oder die vornehme Entrüstung. Das erschüttert uns, bringt uns in Bewegung, und wir suchen den anderen, um uns gemeinsam zu bewegen. Diese zu gemeinschaftlichem Handeln gewordene Ergriffenheit kann man nicht mit dem Verstand allein begreifen: Sie besitzt ein Mehr an Sinngehalt, das nur die Leute aus dem Volk verstehen und das den wirklichen Volksbewegungen ihre besondere Mystik verleiht.

Sie leben Tag für Tag im Zentrum des menschlichen Unwetters, gleichsam darin eingetaucht. Sie haben mir von Ihren Anliegen erzählt, mich teilhaben lassen an Ihrem Ringen, und ich danke Ihnen dafür. Sie, liebe Brüder, arbeiten oftmals im Kleinen, im Naheliegenden, in der ungerechten Wirklichkeit, die Ihnen aufgezwungen wurde und mit der Sie sich nicht abfinden, sondern dem götzendienerischen System, das ausschließt, demütigt und tötet, aktiven Widerstand entgegensetzen. Ich habe Sie unermüdlich arbeiten sehen für den Boden und die kleinbäuerliche Landwirtschaft, für Ihre Territorien und Gemeinschaften, für die Achtung der Würde der volksnahen Wirtschaft, für die städtische Eingliederung Ihrer Vororte und Siedlungen, für den Eigenbau von Wohnungen und die Entwicklung einer Infrastruktur der Wohnviertel sowie in vielen gemeinschaftlichen Aktivitäten, die auf die erneute Bekräftigung von etwas so Elementarem und unbestreitbar Notwendigem abzielen wie das Recht auf die „drei T“: tierra, techo, trabajo – Boden, Wohnung und Arbeit.

Diese Verwurzelung im Stadtviertel, im Grund und Boden, im Territorium, im Handwerk, in der Genossenschaft, dieses Sich-Erkennen im Gesicht des anderen, diese Nähe im Alltag mit seinem Elend und seinem täglichen Heldentum – all das erlaubt, die Sendung der Liebe zu praktizieren, nicht aufgrund von Ideen und Konzepten, sondern aufgrund der echten Begegnung zwischen Menschen, denn was man liebt, sind nicht die Konzepte und die Ideen; man liebt die Menschen. Die Hingabe, die wahre Hingabe geht aus der Liebe hervor, aus der Liebe zu Männern und Frauen, zu Kindern und Alten, zu Volksgruppen und Gemeinschaften…Gesichter und Namen, die das Herz erfüllen. Aus diesen Samen der Hoffnung, die geduldig in den vergessenen Peripherien des Planeten ausgesät werden, aus diesen Sprossen der Zärtlichkeit, die in der Dunkelheit des Ausgeschlossenseins ums Überleben kämpfen, werden große Bäume heranwachsen, werden dichte Wälder der Hoffnung entstehen, um diese Welt mit Sauerstoff zu versorgen.

Ich sehe mit Freude, dass Sie im Naheliegenden arbeiten und pflegen, was aufsprosst, zugleich aber in einer weiter reichenden Perspektive die Baumpflanzung schützen. Sie arbeiten in einer Perspektive, die nicht nur den jeweiligen Sektor der Wirklichkeit in Angriff nimmt, den jeder von Ihnen vertritt und in dem er glücklich verwurzelt ist, sondern Sie versuchen auch, die allgemeinen Probleme von Armut, Ungleichheit und Ausschließung von Grund auf zu lösen.

Dafür beglückwünsche ich Sie. Es ist unerlässlich, dass die Völker und ihre sozialen Organisationen zugleich mit der Einforderung ihrer legitimen Rechte eine menschliche Alternative zur ausschließenden Globalisierung aufbauen. Sie sind Aussäer der Veränderung. Möge Gott Ihnen Mut, Freude, Ausdauer und Leidenschaft schenken, mit dem Säen fortzufahren! Seien Sie gewiss, dass wir früher oder später die Früchte sehen werden. Die Leiter bitte ich: Seien Sie kreativ und verlieren Sie nie die Verwurzelung im Naheliegenden, denn der Vater der Lüge weiß edle Worte anderer für seine Zwecke zu gebrauchen, geistige Moderichtungen zu fördern und ideologische Posen anzunehmen. Wenn Sie aber auf soliden Fundamenten aufbauen, auf den realen Bedürfnissen und der lebendigen Erfahrung Ihrer Brüder und Schwestern – der Campesinos und der Ureinwohner, der ausgeschlossenen Arbeiter und der ausgegrenzten Familien –, dann werden Sie mit Sicherheit nicht fehlgehen.

Die Kirche kann und darf in ihrer Verkündigung des Evangeliums diesem Prozess nicht fern stehen. Viele Priester und Pastoralarbeiter erfüllen eine gewaltige Aufgabe der Begleitung und Förderung der Ausgeschlossenen in aller Welt, indem sie – gemeinsam mit Genossenschaften – Unternehmen vorantreiben, Wohnungen bauen und hingebungsvoll in den Bereichen des Gesundheitswesens, des Sports und des Erziehungswesens arbeiten. Ich bin überzeugt, dass die respektvolle Zusammenarbeit mit den Volksbewegungen diese Bemühungen stärken und die Wandlungsprozesse unterstützen kann.

Halten wir immer die Jungfrau Maria in unserem Herzen, ein einfaches Mädchen aus einem kleinen, abgelegenen Dorf am Rande eines großen Kaiserreiches, eine obdachlose Mutter, die es verstand, eine Grotte für die Tiere in das Haus Jesu zu verwandeln – mit ein paar Windeln und einem Überschwang an zärtlicher Liebe. Maria ist ein Zeichen der Hoffnung für die Bevölkerungsgruppen, die „Geburtswehen“ erleiden, bis die Gerechtigkeit zum Durchbruch kommt. Ich bete zur Jungfrau vom Berge Karmel, der Patronin Boliviens, damit sie ermöglicht, dass diese unsere Begegnung ein Ferment des Wandels sei.

3. Als Letztes möchte ich, dass wir gemeinsam nachdenken über einige wichtige Aufgaben für diesen historischen Moment, denn wir wollen eine positive Veränderung zum Wohl aller unserer Brüder und Schwestern, das ist klar. Wir wollen eine Veränderung, die durch die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, den Volksbewegungen und anderen sozialen Kräften bereichert wird, auch das ist klar. Doch es ist nicht so leicht, den Inhalt der Veränderung, sozusagen das soziale Programm zu bestimmen, das diesen Plan der Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit, die wir erhoffen, widerspiegelt. In diesem Sinn erwarten Sie bitte kein Rezept von diesem Papst. Weder der Papst, noch die Kirche besitzen das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit, und sie haben auch keine Lösungsvorschläge für die gegenwärtigen Probleme. Ich wage zu behaupten, dass es gar kein Rezept gibt. Die Geschichte wird von den aufeinander folgenden Generationen aufgebaut im Rahmen von Völkern, die auf der Suche nach ihrem eigenen Weg sind und die Werte achten, die Gott ihnen ins Herz gelegt hat.

Dennoch möchte ich drei große Aufgaben vorschlagen, die den entscheidenden Beitrag der Gesamtheit der Volksbewegungen erfordern:

3.1. Die erste Aufgabe ist, die Wirtschaft in den Dienst der Völker zu stellen: Die Menschen und die Natur dürfen nicht im Dienst des Geldes stehen. Wir sagen Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der sozialen Ungerechtigkeit, wo das Geld regiert, anstatt zu dienen. Diese Wirtschaft tötet. Diese Wirtschaft schließt aus. Diese Wirtschaft zerstört die Mutter Erde.

Die Wirtschaft dürfte nicht ein Mechanismus zur Anhäufung sein, sondern die geeignete Verwaltung des gemeinsamen Hauses. Das beinhaltet, das Haus sehr bedacht zu pflegen und die Güter angemessen unter allen zu verteilen. Ihr Zweck besteht nicht allein darin, die Nahrung bzw. einen „anständigen Lebensunterhalt“ zu sichern. Nicht einmal darin, den Zugang zu den „drei T“ zu gewährleisten, für den Sie kämpfen, auch wenn das schon ein großer Schritt wäre. Eine wirklich gemeinschaftliche Wirtschaft – eine christlich inspirierte Wirtschaft, würde ich sagen – muss den Völkern Würde garantieren, „Wohlstand in seinen vielfältigen Aspekten“1. Das schließt die „drei T“ ein, aber auch den Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, zur Innovation, zu künstlerischen und kulturellen Darbietungen, zum Kommunikationswesen sowie zu Sport und Erholung. Eine gerechte Wirtschaft muss die Bedingungen dafür schaffen, dass jeder Mensch eine Kindheit ohne Entbehrungen genießen, während der Jugend seine Talente entfalten, in den Jahren der Aktivität einer rechtlich gesicherten Arbeit nachgehen und im Alter zu einer würdigen Rente gelangen kann. Es ist eine Wirtschaft, in der der Mensch im Einklang mit der Natur das gesamte System von Produktion und Distribution so gestaltet, dass die Fähigkeiten und die Bedürfnisse jedes Einzelnen einen angemessenen Rahmen im Gemeinwesen finden. Sie – und auch andere Volksgruppen – fassen diese Sehnsucht auf einfache und schöne Weise in dem Ausdruck „gut leben“ zusammen.

Diese Wirtschaft ist nicht nur wünschenswert und notwendig, sondern auch möglich. Sie ist weder Utopie, noch Fantasie. Sie ist eine äußerst realistische Perspektive. Wir können sie erreichen. Die in der Welt verfügbaren Ressourcen – eine Frucht der generationsübergreifenden Arbeit der Völker und der Gaben der Schöpfung – sind mehr als ausreichend für die ganzheitliche Entwicklung eines jeden Menschen und des ganzen Menschen2. Das Problem ist hingegen ein anderes. Es existiert ein System mit anderen Zielen. Ein System, das trotz der unverantwortlichen Beschleunigung der Produktionsrhythmen, trotz der Einführung von Methoden in Industrie und Landwirtschaft, welche um der „Produktivität“ willen die Mutter Erde schädigen, weiterhin Milliarden unserer Brüder und Schwestern die elementarsten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verweigert. Dieses System verstößt gegen den Plan Jesu.

Die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit ist keine bloße Philanthropie. Es ist eine moralische Pflicht. Für die Christen ist die Verpflichtung noch stärker: Es ist ein Gebot. Es geht darum, den Armen und den Völkern das zurückzugeben, was ihnen gehört. Die universale Bestimmung der Güter ist nicht eine wortgewandte Ausschmückung der Soziallehre der Kirche. Es ist eine Wirklichkeit, die dem Privateigentum vorausgeht. Der Besitz – ganz besonders wenn er die natürlichen Ressourcen betrifft – muss immer den Bedürfnissen der Völker zugeordnet sein. Und diese Bedürfnisse beschränken sich nicht auf den Konsum. Es reicht nicht, ein paar Tropfen fallen zu lassen, wenn die Armen diesen Becher schütteln, der niemals von sich aus etwas ausgießt. Die Hilfspläne, die gewisse Dringlichkeiten versorgen, müssten nur als vorübergehende Antworten gedacht werden. Niemals werden sie die wahre Einbeziehung ersetzen können: die, welche die würdige, freie, kreative, beteiligte und solidarische Arbeit gibt.

Auf diesem Weg spielen die Volksbewegungen eine wesentliche Rolle, nicht nur indem sie fordern und anmahnen, sondern grundsätzlich, indem sie schöpferisch tätig sind. Sie sind soziale Poeten: Arbeitsbeschaffer, Wohnungsbauer, Lebensmittelproduzenten – vor allem für diejenigen, die vom Weltmarkt ausgeschlossen sind.

Ich habe aus der Nähe verschiedene Experimente kennen gelernt, in denen es den in Genossenschaften und anderen gemeinschaftlichen Organisationen zusammengeschlossenen Arbeitern gelungen ist, Arbeit zu schaffen, wo es nur Abfälle der götzendienerischen Wirtschaft gab. Die sanierten Unternehmen, die kleinen freien Märkte und die Kooperativen der Cartoneros sind Beispiele dieser volksnahen Wirtschaft, die aus der Ausschließung hervorgeht und allmählich, mit Einsatz und Geduld, solidarische Formen annimmt, die ihr Würde verleihen. Welch ein Unterschied dazu, dass die Ausgeschlossenen durch den offiziellen Markt wie Sklaven ausgebeutet werden!

Die Regierungen, die sich die Aufgabe zu Eigen machen, die Wirtschaft in den Dienst des Volkes zu stellen, müssen die Stärkung, die Verbesserung, die Koordinierung und die Ausbreitung dieser Formen von volksnaher Wirtschaft und Gemeinschaftsproduktion fördern. Das beinhaltet, die Arbeitsprozesse zu verbessern, für eine geeignete Infrastruktur zu sorgen und den Arbeitern dieses alternativen Sektors volle Rechte zu garantieren. Wenn Staat und soziale Organisationen gemeinsam die Aufgabe der „drei T“ übernehmen, kommen die Grundsätze von Solidarität und Subsidiarität zum Tragen und ermöglichen, das Gemeinwohl in einer vollkommenen und partizipativen Demokratie aufzubauen.

3.2. Die zweite Aufgabe ist, unsere Völker auf dem Weg des Friedens und der Gerechtigkeit zu vereinen.

Die Völker der Welt wollen ihr Schicksal selbst bestimmen. Sie wollen in Frieden ihren Weg zur Gerechtigkeit gehen. Sie wollen weder Bevormundung noch Einmischung, wo der Stärkere den Schwächeren unterordnet. Sie wollen, dass ihre Kultur, ihre Sprache, ihre gesellschaftlichen Prozesse und ihre religiösen Traditionen respektiert werden. Keine faktische oder konstituierte Macht hat das Recht, den armen Ländern die volle Ausübung ihrer Souveränität abzuerkennen, und wenn es dennoch geschieht, sehen wir neue Formen von Kolonialismus, welche die Möglichkeiten zu Frieden und Gerechtigkeit ernsthaft schädigen, denn „Grundlagen des Friedens sind nicht nur die Achtung der Menschenrechte, sondern auch der Respekt vor den Rechten der Völker, insbesondere dem Recht auf Unabhängigkeit“3.

Die Völker Lateinamerikas haben ihre politische Unabhängigkeit unter Schmerzen geboren und seitdem fast zwei Jahrhunderte einer dramatischen Geschichte voller Widersprüche erlebt, in dem Versuch, die volle Unabhängigkeit zu erlangen.

Nach viel Entfremdung konnten in diesen letzten Jahren zahlreiche lateinamerikanische Länder eine Zunahme an Geschwisterlichkeit unter ihren Völkern beobachten. Die Regierungen der Region haben ihre Kräfte vereint, um dafür zu sorgen, dass ihre Souveränität respektiert wird, und zwar die eines jeden Landes und die der Region im Ganzen, die sie – wie einst unsere Väter – mit dem schönen Namen die „Große Heimat“ bezeichnen. Ich bitte Sie, liebe Brüder und Schwestern aus den Volksbewegungen, diese Einheit zu hüten und auszubauen. Angesichts aller Spaltungsversuche ist es notwendig, die Einheit zu bewahren, damit die Region in Frieden und Gerechtigkeit wächst.

Trotz dieser Fortschritte gibt es immer noch Faktoren, die diese gerechte menschliche Entwicklung untergraben und die Souveränität der Länder der „Großen Heimat“ und anderer Regionen einschränken. Der neue Kolonialismus nimmt verschiedene Gestalten an. Manchmal ist es die anonyme Macht des Götzen Geld: Körperschaften, Kreditvermittler, einige sogenannte „Freihandelsabkommen“ und die Auferlegung von „Sparmaßnahmen“, die immer den Gürtel der Arbeiter und der Armen enger schnallen. Die lateinamerikanischen Bischöfe prangern das im Dokument von Aparecida in aller Deutlichkeit an, wenn sie sagen: „Finanzinstitutionen und transnationale Konzerne entwickeln eine solche Macht, dass sie sich die jeweilige lokale Wirtschaft untertan machen, vor allem aber die Staaten schwächen, die kaum noch die Macht haben, Entwicklungsprojekte zugunsten ihrer Bevölkerungen voranzubringen.“4 In anderen Fällen sehen wir, dass unter dem edlen Mantel des Kampfes gegen Korruption, Drogenhandel und Terrorismus – schwerwiegende Übel unserer Zeiten, die ein koordiniertes internationales Eingreifen erfordern – den Staaten Maßnahmen auferlegt werden, die wenig mit der Lösung dieser Problemkreise zu tun haben und oftmals die Dinge verschlimmern.

In gleicher Weise ist die monopolistische Konzentration der sozialen Kommunikationsmittel, die entfremdende Konsummodelle und eine gewisse kulturelle Uniformität durchzusetzen versucht, eine weitere Gestalt, die der neue Kolonialismus annimmt. Es ist der ideologische Kolonialismus. Wie die Bischöfe von Afrika sagen, wird oft versucht, die armen Länder zu „Rädern eines Mechanismus, zu Teilen einer gewaltigen Maschinerie“5 zu machen.

Man muss erkennen, dass keines der schweren Probleme der Menschheit gelöst werden kann ohne Interaktion zwischen den Staaten und Völkern auf internationaler Ebene. Jede Handlung von einer gewissen Tragweite, die in einem Teil des Planeten durchgeführt wird, wirkt sich in wirtschaftlichem, ökologischem, sozialem und kulturellem Sinn auf das Ganze aus. Sogar das Verbrechen und die Gewalt haben sich globalisiert. Deshalb kann sich keine Regierung bei ihrem Handeln einer allgemeinen Verantwortung entziehen. Wenn wir wirklich eine positive Veränderung wollen, müssen wir demütig unsere wechselseitige Abhängigkeit akzeptieren. Interaktion ist aber nicht gleichbedeutend mit Auferlegung, es ist keine Unterordnung der einen zugunsten der Interessen der anderen. Der neue wie der alte Kolonialismus, der die armen Länder zu bloßen Rohstofflieferanten und Zulieferern kostengünstiger Arbeit herabwürdigt, erzeugt Gewalt, Elend, Zwangsmigrationen und all die Übel, die wir vor Augen haben… und zwar aus dem einfachen Grund, weil er dadurch, dass er die Peripherie vom Zentrum abhängig macht, ihr das Recht auf eine ganzheitliche Entwicklung verweigert. Das ist soziale Ungerechtigkeit, und die erzeugt eine Gewalt, die weder mit polizeilichen, noch mit militärischen oder geheimdienstlichen Mitteln aufgehalten werden kann.

Wir sagen Nein zu den alten und neuen Formen der Kolonialisierung. Wir sagen Ja zur Begegnung von Völkern und Kulturen. Selig, die für den Frieden arbeiten.

Und hier möchte ich bei einem wichtigen Thema innehalten. Es könnte nämlich jemand mit Recht sagen: „Wenn der Papst von Kolonialismus redet, vergisst er gewisse Handlungen der Kirche.“ Ich sage Ihnen mit Bedauern: Im Namen Gottes sind viele und schwere Sünden gegen die Ureinwohner Amerikas begangen worden. Das haben meine Vorgänger eingestanden, das hat die CELAM gesagt, und auch ich möchte es sagen. Wie Johannes Paul II. bitte ich, dass die Kirche „vor Gott niederkniet und von ihm Vergebung für die Sünden ihrer Kinder aus Vergangenheit und Gegenwart erfleht“6. Ich will Ihnen sagen – und ich möchte dabei ganz freimütig sein, wie es der heilige Johannes Paul II. war –: Ich bitte demütig um Vergebung, nicht nur für die von der eigenen Kirche begangenen Sünden, sondern für die Verbrechen gegen die Urbevölkerungen während der sogenannten Eroberung Amerikas.

Desgleichen bitte ich Sie alle – Gläubige und Nichtgläubige –, sich an die vielen Bischöfe, Priester und Laien zu erinnern, welche die Frohe Botschaft Jesu mutig und sanftmütig, respektvoll und friedlich verkündet haben und verkünden; die auf ihrem Weg durch dieses Leben bewegende Werke der menschlichen Förderung und der Liebe hinterlassen haben, oft gemeinsam mit den einheimischen Bevölkerungen oder indem sie deren Volksbewegungen begleiteten, sogar bis zum Martyrium. Die Kirche, ihre Söhne und Töchter, sind ein Teil der Identität der Völker Lateinamerikas – einer Identität, die einige Mächte hier wie in anderen Ländern unbedingt auslöschen wollen, manchmal weil unser Glaube revolutionär ist, weil unser Glaube der Tyrannei des Götzen Geld die Stirn bietet. Heute sehen wir mit Grauen, wie im Nahen Osten oder an anderen Orten der Welt viele unserer Brüder und Schwestern um ihres Glaubens an Jesus willen verfolgt, gefoltert und ermordet werden. Und wir müssen es auch anprangern: In diesem dritten Weltkrieg „in Raten“, den wir erleben, ist eine Art Völkermord im Gange, der aufhören muss.

Lassen Sie mich den Brüdern und Schwestern der lateinamerikanischen Eingeborenenbewegung meine zutiefst empfundene Zuneigung ausdrücken und sie beglückwünschen zu ihrem Versuch, ihre Völker und Kulturen zu vereinen. Es ist das, was ich „Polyeder“ nenne: eine Form des Zusammenlebens, in der die einzelnen Teile ihre Identität bewahren und gemeinsam eine Pluralität aufbauen, welche die Einheit nicht gefährdet, sondern stärkt. Ihre Suche nach diesem Miteinander in der Multikulturalität, welche die erneute Bekräftigung der Rechte der Urbevölkerungen mit der Achtung gegenüber der territorialen Ungeteiltheit der Staaten verbindet, bereichert und stärkt uns alle.

3.3 Die dritte, vielleicht wichtigste Aufgabe, die wir übernehmen müssen, ist die Verteidigung der Mutter Erde.

Unser aller gemeinsames Haus wird ungestraft ausgeplündert, verwüstet und misshandelt. Die Feigheit bei ihrer Verteidigung ist eine schwere Sünde. Mit zunehmender Enttäuschung sehen wir, wie ein internationales Gipfeltreffen dem anderen folgt ohne irgendein bedeutendes Ergebnis. Es gibt ein klares, definitives und unaufschiebbares ethisches Gebot, zu handeln, das nicht befolgt wird. Man darf nicht zulassen, dass gewisse Interessen – die globalen aber nicht universalen Charakters sind – sich durchsetzen, die Staaten und die internationalen Organisationen unterwerfen und fortfahren, die Schöpfung zu zerstören. Die Völker und ihre Bewegungen sind berufen, ihre Stimme zu erheben, sich zu mobilisieren und friedlich aber hartnäckig zu fordern, dass unverzüglich geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Ich bitte Sie im Namen Gottes, die Mutter Erde zu verteidigen. Zu diesem Thema habe ich mich in der Enzyklika Laudato si‘ gebührend geäußert.

4. Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einmal sagen: Die Zukunft der Menschheit liegt nicht allein in den Händen der großen Verantwortungsträger, der bedeutenden Mächte und der Eliten. Sie liegt grundsätzlich in den Händen der Völker; in ihrer Organisationsfähigkeit und auch in ihren Händen, die in Demut und mit Überzeugung diesen Wandlungsprozess „begießen“. Ich begleite Sie. Sprechen wir gemeinsam aus vollem Herzen: keine Familie ohne Wohnung, kein Campesino ohne Grund und Boden, kein Arbeiter ohne Rechte, kein Volk ohne Souveränität, kein Mensch ohne Würde, kein Kind ohne Kindheit, kein Jugendlicher ohne Möglichkeiten, kein alter Mensch ohne ein ehrwürdiges Alter. Fahren Sie fort in Ihrem Kampf und, bitte, sorgen Sie sehr für die Mutter Erde! Ich bete für Sie, ich bete mit Ihnen, und ich möchte Gott, unseren Vater, bitten, Sie zu begleiten und zu segnen, Sie mit seiner Liebe zu erfüllen und auf Ihrem Weg zu verteidigen, indem er Ihnen reichlich jene Kraft verleiht, die uns auf den Beinen hält: Diese Kraft ist die Hoffnung, die Hoffnung, die nicht enttäuscht. Danke. Und bitte beten Sie für mich!

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1 Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Mater et Magister (15. Mai 1961), 3: AAS 53 (1961), 402.
2 Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, (16. März 1967), 14: AAS 59 (1967), 264.
3 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, 157.
4 V. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, Dokument von Aparecida (29. Juni 2007), 66.
5 Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Africa (14. September 1995), 52: AAS 88 (1996), 32-33; Ders., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), 22: AAS 80 (1988), 539.
6 Verkündigungsbulle des Großen Jubiläums des Jahres 2000 Incarnationis mysterium (29. November 1998), 11: AAS 91 (1999), 140.

Papst Franziskus beim zweiten weltweiten Kongress der Volksbewegungen in Santa Cruz/Bolivia (in voller Länge ohne Überrsetzung)



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