Sind manche Menschen prädestiniert, gläubig zu sein?

6. April 2015 in Familie


NEUE KATH.NET-SERIE: Sie fragen, Psychiater Raphael Bonelli beantwortet auf kath.net Grenzfragen zwischen Psychiatrie und Religion - Sie schreiben, der Psychiater antwortet. Heute Frage 4 über Glaube und Psyche


Wien (kath.net)
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Sehr geehrter Herr Professor,
ich habe den Eindruck, dass manche Menschen (mich eingeschlossen) besonders sensibel und offen für religiöse, existentielle Fragen sind, andere hingegen eben nicht. Ich kann dies an meinen neun Geschwistern beobachten, die alle dieselbe katholische Erziehung der Eltern erhalten haben, aber dennoch - scheinbar ihrer Natur wegen - unterschiedlich den Glauben an sich heranlassen.

Mein zweiter Eindruck ist jedoch, dass die Offenheit für ebensolche Fragen und das dringende Bedürfnis nach Antwort Voraussetzung ist, einen tiefen und überzeugten Glauben zu entwickeln. Bedeutet das dann nicht, dass manche Menschen prädestiniert sind gläubig zu sein, andere aber nicht? Hier meine konkrete Frage: Wie stark ist der Zusammenhang zwischen bestimmten psychischen Gegebenheiten und Gläubigkeit? Wo beginnt Glaube, wo hört Psyche auf? XY

Sehr geehrter Herr XY,

danke für Ihre interessanten Fragen und Eindrücke, die uns wirklich in den Grenzbereich zwischen Psychologie und Spiritualität führen. Ja, Ihren Eindruck habe ich auch: Nämlich, dass manche Menschen mehr für Religion „begabt“ sind als andere. In der Psychologie nennen wir diese Begabung „Religiosität“. Das ist ein Talent, vergleichbar mit Empathie, also Einfühlungsvermögen. Empathie ist die Beziehungsfähigkeit mit dem Mitmenschen, Religiosität die Beziehungsfähigkeit mit Gott. Nach wissenschaftlicher Statistik sind übrigens bei beiden Eigenschaften Frauen im Durchschnitt höher begabt als Männer. Aber das bedeutet nicht, dass Menschen mit weniger Empathie nicht genauso schöne und gute Beziehungen haben können – sie müssen aber mehr an sich arbeiten und sich diese nützliche Eigenschaft aktiv aneignen. Und genau dasselbe gilt für die religiöse Begabung: jeder kann eine lebendige Gottesbeziehung erreichen, aber der eine muss halt mehr „Beziehungsarbeit“ investieren als andere. Dem einen wurden also zehn Talente mitgegeben, dem anderen nur eins. Das hat aber nichts mit „Prädestination“ zu tun. Denn niemand hat keine Begabung, keine Empathiefähigkeit, keine Religiosität, kein Talent mitbekommen. Nur manche lassen ihre diesbezüglichen Talente brach liegen.

Und damit bin ich schon bei Ihrem zweiten Eindruck und bei Ihrer Frage: nein, eine angeborene Prädestination gibt es nicht. Wichtig ist, dass die gesunde und lebendige Gottesbeziehung immer eine freie Entscheidung des Menschen ist, unabhängig von seiner religiösen Begabung.

Daneben gibt es natürlich noch die theologische Ebene des Geschenkes: Glaube ist (wie die Hoffnung und die Liebe) immer auch ein unverdientes Geschenk von Gott, eine sogenannte „göttliche Tugend“, um die wir demütig bitten müssen. Die Psyche ist also beim gesunden Menschen auf Gott hingerichtet (Religiosität) – wie sehr er diese natürliche Gerichtetheit dann in ein aktives Glaubensleben und eine innige Gottesbeziehung umsetzt, es ungenützt lässt oder sogar aggressiv abwehrt ist Entscheidung und Verantwortung des Einzelnen.

Manche psychologische Grundeigenschaften des Menschen (zum Beispiel das Persönlichkeitsmerkmal „Gewissenhaftigkeit“) sind rein statistisch mit einem glücklicheren Leben assoziiert. Ebenso zeigt sich die gelebte (nicht die angeborene) Religiosität in den wissenschaftlichen Studien der letzten Jahrzehnte mit mehr psychischer Gesundheit vergesellschaftet: je religiöser umso psychisch gesünder.

Ihr RM Bonelli

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