Mitläufer, Mittäter – oder Held des Widerstands?

25. September 2014 in Jugend


Die Welt ist voller Gewalt und Brutalität. Wir stehen daneben, sprach- und tatenlos. Dabei zeigen nicht nur Themen wie Abtreibung und Sterbehilfe, dass Grausamkeit schon zum „gewöhnlichen Alltag“ gehört. Und nun? Von Rudolf Gehrig (f1rstlife)


Köln (kath.net/f1rstlife.de) Ich kann nicht hinsehen. Ich schließe die Augen. Aber ich höre. Und was ich da höre, ist ein schreckliches Geräusch. Es ist ein kurzes, kreischendes Schleifen, das sich mit einem Schrei vermischt und plötzlich wieder verstummt. Als ich meine Augen öffne, liegt da ein blutiger Körper, regungslos und ohne Kopf. Darüber steht ein Mann mit einem scharfen Schwert, der das abgetrennte Haupt nun in die Kamera hält. Ich schlucke und sehe schnell weg. Als wieder Musik einsetzt und die Szene wechselt, atme ich tief durch und schaue wieder auf den Bildschirm. Es ist nur ein Film, sage ich mir. Stell dich nicht so an.

Dann tauchten vor einigen Wochen die ersten Videos im Internet auf, in denen Angehörige der IS-Terrormiliz Menschen vor laufender Kamera enthaupteten. Diesmal: Keine Tricks, keine Technik, kein Blue-Screen, keine Musik. Diesmal war es kein Kino. Es war real. Die Erschütterung war groß. Wie alle anderen auch, schloss ich die Augen und sah nicht hin. In einer Zeit, in der Kinder nach einer kleinen Schulhof-Schlägerei sofort zum Aggressionsbewältigungstraining geschickt werden oder Politiker über das Gewaltpotential von Ballerspielen diskutieren und Verbote fordern, bleiben wir erstaunlich sprach- und tatenlos, wenn uns über das Fernsehen und das Internet tödliche Gewalt frei Haus geliefert wird. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal erschrocken aufhorchte, als im Radio ein weiterer Bombenanschlag gemeldet wurde. Selbst, als am Jahrestag von 9/11 erneut die Bilder von den einstürzenden Twin Towers in New York gezeigt wurde, blieb der fröstelnde Schauer diesmal aus. Ist Gewalt Gewohnheitssache?

Abtreibung: „So normal wie ein Besuch beim Zahnarzt“

Vor allem bin ich verzweifelt. Das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht, zusehen zu müssen und nichts tun zu können, ist grausam. Dabei ist es nicht nur die Gewalt im Nahen Osten, die mich erschreckt, sondern auch das, was direkt vor unserer Haustüre passiert. Seit einigen Jahrzehnten ist es in Deutschland bis in die 12. Schwangerschaftswoche möglich, ein ungeborenes Kind zu töten. „Abtreibung“ nennen wir das, oder – noch verlogener – „Schwangerschaftsunterbrechung“. Als man diesen Vorgang vor Jahren noch „Kindstötung im Mutterleib“ nannte, tobte eine hitzige Debatte darüber, was eigentlich spätestens seit Ende des Nazi-Regimes bei uns selbstverständlich sein sollte: Dass jeder Mensch das Recht hat zu leben. Doch als man begann, das Lebensrecht zur Diskussion zu stellen, war der Weg zu seinem Untergang bereits eingeläutet. Seitdem wird Abtreibung gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und ist laut einer Feministin „so normal wie ein Besuch beim Zahnarzt“.

Als nächstes werden dann vermutlich unsere Alten daran glauben müssen. Während die sogenannte „Sterbehilfe“ in Staaten wie den Niederlanden längst erlaubt ist, gibt es auch bei uns immer mehr Stimmen, die laut darüber nachdenken, ob es nicht legitim sein sollte, unter bestimmten Umstän-den „den Stecker zu ziehen“. Während sich die Befürworter mit den Gegnern streiten, die Zeitun-gen darüber schreiben und das Fernsehen berichtet, stehe ich irgendwo mittendrin und weiß nicht, was ich tun soll. Es sieht alles so hoffnungslos aus. Generationen vor mir haben schon für den Schutz des menschlichen Lebens gekämpft, haben Artikel verfasst, Diskussionen geführt, Demos organisiert. Und trotzdem wird es immer schlimmer. So scheint es zumindest. Alles umsonst?

Der Kampf für das menschliche Leben – aussichtslos?

Ich bin im September 2014 wieder in Berlin beim „Marsch fürs Leben“ gewesen. Unter der Organi-sation des Bundesverbandes für Lebensrecht (BvL) hatten sich dort etwa 6.000 Menschen versammelt, um in einem Schweigemarsch friedlich für den Schutz des menschlichen Lebens vom Mutterleib bis zu seinem natürlichen Ende zu demonstrieren. Die große Anzahl der jungen und motivierten Gesichter war beeindruckend. Und dennoch war es nicht ungefährlich. In geplanten Störaktionen beleidigten hauptsächlich linksradikale Gruppen die Teilnehmer mit Sprechchören, warfen vereinzelt mit Farbbeuteln, zerstörten Transparente oder sorgten mit Sitzblockaden für Verzöge-rungen. Ich fragte mich: Warum tue ich mir das an? Ich kann die verbreitete Abtreibungspraxis nicht stoppen, kann keine Gesetze ändern und wenn ich für meine Meinung auf die Straße gehe, werde ich behandelt wie der letzte Idiot und Schwerverbrecher. Warum lasse ich das nicht einfach bleiben?

Es ist eine feste Überzeugung, die mich immer wieder aufrichtet und stärker ist als jede Resignation: Diese Gesellschaft, die ihre eigenen Kinder tötet, weil sie behindert sind, nicht in den Zeitplan passen oder einfach nicht gewollt waren, die ihre Alten umbringt, weil sie lästig oder teuer werden und in der der Rest ratlos daneben steht und zusieht, wie die Humanität vor die Hunde geht, diese Gesellschaft frisst sich selbst. Das kann nicht lange gutgehen. Aber wenn die Menschheit eines Tages aufwacht und sich entsetzt fragt: „Wie konnte das nur passieren?“, dann möchte ich nicht derjenige sein, den man in der Rückschau als „Mitläufer“ oder gar als „Mittäter“ einstufen wird. Doch bis dieser Zeitpunkt da ist, werde ich mit meinen wenigen Mitstreitern diesen scheinbar aussichts-losen Windmühlenkampf für das Leben weiterführen müssen, damit das Erwachen umso schneller kommt. Am besten, bevor noch mehr Menschen sterben müssen.

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EWTN Reporter - Rudolf Gehrig, Jugend für das Leben, auf dem Marsch für das Leben


Foto Rudolf Gehrig


Foto Gehrig (c) Rudolf Gehrig


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