Patriarch Sako: 'Das ist die dunkelste Stunde des Irak'

2. Juli 2014 in Interview


Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche fürchtet christlichen Exodus im Irak: „In zehn Jahren wird es vielleicht noch 50.000 Christen geben. Vor 2003 waren wir etwa 1,2 Millionen." Interview mit "Kirche in Not"


Ankawa (kath.net/KIN) Die Abwanderung der Christen aus dem Irak wird sich stark beschleunigen. Diese Ansicht vertritt das Oberhaupt der chaldäisch-katholischen Kirche, Patriarch Louis Raphael I. Sako (Foto). „In zehn Jahren wird es vielleicht noch 50.000 Christen geben. Vor 2003 waren wir etwa 1,2 Millionen. Innerhalb von zehn Jahren sind wir auf vielleicht vier- bis fünfhunderttausend Gläubige geschrumpft“. Wörtlich betonte der Patriarch bei einem Gespräch mit dem internationalen katholischen Hilfswerk KIRCHE IN NOT (am Samstag, 28.6.2014 in Ankawa bei Erbil): „Als ich kürzlich in der Türkei war, kamen dort zehn christliche Familien aus Mossul an. Und Alkosh, einen zur Gänze christlichen Ort unweit von Mossul, haben in nur einer Woche zwanzig Familien verlassen. Das ist sehr ernst. Wir verlieren unsere Gemeinde. Wenn das christliche Leben im Irak endet, dann ist unsere Geschichte unterbrochen.“

Kirche in Not: Haben Sie Hoffnung, dass der Irak als Gesamtstaat erhalten bleibt?

Patriarch Louis Rafael I. Sako: „Nein. Vielleicht wird eine symbolische Einheit und der Name Irak weiterhin bestehen. Aber de facto wird es drei unabhängige Zonen mit eigenen Haushalten und Armeen geben.“

Kirche in Not: Welche Folgen hat dieser Staatszerfall für die Christen des Irak?

Patriarch Sako: „Das ist die Frage. Ehrlich gesagt sind wir Bischöfe zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas ratlos. Möglicherweise liegt die Zukunft in Kurdistan. Viele Christen leben ja schon dort. Aber es gibt auch viele, die in Bagdad leben, manche auch in Basra im schiitischen Süden. Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten.“

Kirche in Not: Am Freitag ist die Synode der chaldäischen Kirche in Erbil zu Ende gegangen. Haben Sie Massnahmen beschlossen angesichts der christlichen Flüchtlingskrise aus von ISIS besetzten oder bedrohten Gebieten?

Patriarch Sako: „Wir haben uns damit intensiv befasst. Wir haben auch eine Kommission von fünf Bischöfen der betroffenen Gebiete eingesetzt, die sich um die erste Hilfe für die Flüchtlinge kümmern soll. Der amerikanische und der französischen Konsul waren hier, um uns zu helfen und eine Vision zu entwickeln. Die Dinge sind aber noch im Fluss. Ich bin mit anderen Bischöfen der Meinung, dass sich die Lage verschlimmern wird. Es gibt derzeit ja drei Fragmente des Irak, einen sunnitischen, kurdischen und schiitischen Teil. Die Kurden haben ohnehin schon die Autonomie. Die Schiiten quasi auch. Die Sunniten folgen jetzt. Der Irak wird also geteilt werden. Wenn das so ist, dann ist es besser, sich zusammenzusetzen und einen Konsens zu finden, um weitere Kämpfe und den Verlust von Menschenleben zu vermeiden.“

Kirche in Not: Ist das die dunkelste Stunde der irakischen Christenheit?

Patriarch Sako: „Es ist die dunkelste Stunde für alle. Es gibt ja keine Christenverfolgung. Es sind viel mehr Muslime aus Mossul und Umgebung geflüchtet. Aber was uns grosse Sorge bereitet, ist, dass die Abwanderung der Christen aus dem Irak zunehmen wird. Als ich kürzlich in der Türkei war, kamen zehn christliche Familien aus Mossul dort an. Und Alkosh, einen zur Gänze christlichen Ort unweit von Mossul, haben in nur einer Woche zwanzig Familien verlassen. Das ist sehr ernst. Wir verlieren unsere Gemeinde. Wenn das christliche Leben im Irak endet, dann ist unsere Geschichte unterbrochen. Unsere Identität ist bedroht.“

Kirche in Not: Sollen westliche Länder irakischen Christen Visa geben oder nicht?

Patriarch Sako: „Die Tragödie ist, dass die Familien geteilt sind. Viele sind schon im Westen. Die Kinder fragen ihre Eltern ständig, warum sie noch immer dableiben und nicht nachkommen. Diesen Trend kann man nicht stoppen. Das ist unmöglich.“

Kirche in Not: Es gibt also keine Hoffnung?

Patriarch Sako: „Vielleicht werden die Älteren zurückkommen, wenn sich die Lage stabilisiert. Aber die Jungen werden im Ausland bleiben. In zehn Jahren wird es vielleicht noch 50.000 Christen im Irak geben. Vor 2003 waren wir etwa 1,2 Millionen. Innerhalb von zehn Jahren sind wir auf vielleicht vier- bis fünfhunderttausend Gläubige geschrumpft. Genaue Zahlen haben wir aber keine.“

Kirche in Not: Was können wir Christen im Westen tun?

Patriarch Sako: „Die Christen im Westen sind sehr schwach. Es gibt dort gute Christen, die uns mit ihrem Gebet und auch materiell unterstützen. Aber ihr Einfluss ist gering. Insgesamt tut der Westen überhaupt nichts. Wir sind sehr enttäuscht. Sie schauen unbeteiligt zu. Fussball interessiert dort mehr als die Lage hier oder in Syrien. Die westliche Politik folgt nur wirtschaftlichen Interessen. Die internationale Gemeinschaft sollte Druck auf irakische Politiker ausüben, damit sie eine politische Lösung finden und eine Regierung der nationalen Einheit bilden.“

Kirche in Not: Was kann „Kirche in Not“ für die Christen des Irak tun?

Patriarch Sako: „Beten Sie für uns. Wir werden in Zukunft auch Hilfe brauchen, um eine christliche Infrastruktur zu schaffen, wenn sich die Lage stabilisiert hat. Wir werden neue Häuser brauchen, Fabriken und die Landwirtschaft wieder aufbauen müssen. Die verbliebenen christlichen Orte müssen modernisiert werden. Für all das sind wir auf die Hilfe von aussen angewiesen.“

Kirche in Not: Können Sie als Unbeteiligter eine Vermittlerrolle in der gegenwärtigen Situation spielen? Als Sie noch Erzbischof der zwischen Arabern und Kurden umstrittenen Stadt Kirkuk waren, stand Ihr Haus auch allen Parteien offen.

Patriarch Sako: „Ich habe das in Bagdad fortgesetzt. Dort sitzen ja alle wichtigen Entscheidungsträger. Ich habe beispielsweise den Parlamentspräsidenten besucht. Aber jetzt ist die Zeit dafür vorbei. Die Spaltung ist viel schlimmer geworden. Wie soll ich nach Falludscha in der sunnitischen Anbar-Provinz gehen? Das Problem ist ja, dass die Sunniten keinen echten Führer in Bagdad haben, der für sie sprechen kann.“

Kirche in Not: Glauben Sie, dass die Mehrheit der arabischen Sunniten ISIS unterstützt?

Patriarch Sako: „Ja. Eindeutig. Sie teilen nicht unbedingt ihre Ideologie. Aber sie unterstützen das politische Ziel, das Regime zu wechseln und ihren eigenen Staat zu gründen. ISIS will einen islamischen Staat mit Ölquellen gründen, um die Welt zu islamisieren.“

Kirche in Not: Das ist auch eine Gefahr für den Westen?

Patriarch Sako: „Ich denke, das ist eine Gefahr für alle.“

Kirche in Not: Es gibt Rufe nach einer amerikanischen Intervention, um den Vormarsch von ISIS zu stoppen. Was meinen Sie?

Patriarch Sako: „Nein. Ich sehe das nicht so. Die Amerikaner waren hier und haben viele Fehler gemacht. Die jetzige Lage ist ihre Schuld. Warum ein Regime durch ein schlimmere Lage ersetzen? Das ist nach 2003 geschehen. Die Amerikaner haben einen Diktator abgesetzt. Aber wenigstens hatten wir damals unter Saddam Hussein Sicherheit und Arbeit. Und was haben wir jetzt? Konfusion, Anarchie und Chaos. Dasselbe ist in Libyen und Syrien geschehen. Wenn man eine Änderung der Situation hier will, dann muss man die Menschen in den Schulen, Medien und Moscheen zu Freiheit, Demokratie und dem Aufbau des eigenen Landes erziehen. Eine Demokratie nach westlichem Vorbild kann hier unmöglich eingesetzt werden. Unter dem alten Regime vor 2003 hatten wir keine konfessionellen Probleme. Wir waren alle Iraker. Jetzt sprechen wir von Sunniten, Schiiten, Christen, Arabern und Kurden.“

Kirche in Not: Aber war das nicht nur so, weil Saddam die verschiedenen Gruppen mit eiserner Faust zusammenhielt?

Patriarch Sako: „Vielleicht brauchen wir im Nahen Osten in dem gegenwärtigen Kontext einen starken Führer, der aber gleichzeitig gerecht ist und nicht nur nach seiner Familie oder seinem Stamm schaut.“

Kirche in Not: Diesen starken Führer gibt es derzeit nicht. Sehen Sie dennoch eine Chance, den Zerfall des Irak aufzuhalten und eine politische Lösung zu finden?

Patriarch Sako: „Die Möglichkeit besteht dann noch, wenn der Westen und unsere Nachbarn wie Iran, die Türkei, Katar und Saudi-Arabien das wollen.“

KIRCHE IN NOT ist ein internationales katholisches Hilfswerk päpstlichen Rechts, das vor mehr als 65 Jahren von Pater Werenfried van Straaten (Speckpater) als „Ostpriesterhilfe“ gegründet wurde. Es steht mit Hilfsaktionen, Informationstätigkeit und Gebet für bedrängte und Not leidende Christen in rund 140 Ländern ein. Seine Projekte sind ausschliesslich privat finanziert. Das Hilfswerk wird von der Schweizer Bischofskonferenz für Spenden empfohlen.

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