Die Klänge des Windes

30. April 2014 in Chronik


Ein niederbayerischer Pfarrer musiziert mit fliegenden Tauben. Von Michael Merten (KNA)


Grainet (kath.net/KNA) Still ist es in der Idylle des 600-Einwohner-Dorfs Grainet im Bayerischen Wald. Nur ein paar Hühner gackern auf dem Hof von Pfarrer Michael Gnan, ab und zu hört man ein Auto passieren. Doch das ändert sich binnen Sekunden: Mit schnellen Handbewegungen öffnet der Geistliche eine Klappe seines Stalls. Sofort fliegt ein Dutzend Tauben in die Höhe. Wo immer die Tiere durch die Luft kreisen, erklingt ein faszinierendes Pfeifen.

Gnan hat eine jahrhundertealte kirchenmusikalische Tradition wiederbelebt. Seine Zöglinge tragen klingende, bis zu 20 Gramm leichte chinesische Schellen in ihrem Gefieder. Wenn sie alle zusammen aufsteigen, geben sie einen kaum definierbaren Ton ab. Doch Gnan vermag es, sie wie ein Orchester zu dirigieren. Einzeln, nacheinander, in kleinen Gruppen - auf seinen Wink hin steigen sie in Kirchenräumen in die Höhe. Dank der verschiedenen Schellen macht er mit den Tieren die Musik des Windes.

Seit elf Jahren ist Gnan Pfarrer des Ortes im Landkreis Freyung-Grafenau. In einem Stall hinter dem Pfarramt hat er etwa 80 Tauben aufgezogen; die Älteste zählt sieben Lenze. Dass er mit den Tieren auch Musik machen kann, war ihm lange Zeit nicht bewusst.

Nach seiner theologischen Promotion über ein Thema aus dem Alten Testament 1994 arbeitete er mit Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. Er lernte Arabisch, stellte eine arabische Haushälterin ein. Einige Asylbewerber halfen ihm beim Taubenzüchten und brachten ihn auf die Idee, einmal den Schellenflug auszuprobieren. Als Gnan 1995 seinen ersten Test machte, dachten die Nachbarn, das Geräusch sei eine Störung, die von den damals neuen Satellitenschüsseln herrühre.

Der heute 60-jährige Geistliche hielt die hierzulande weitgehend unbekannte Taubenmusik zunächst für eine rein orientalische Praxis. Später entdeckte er bei einer China-Reise, dass es sie auch dort gibt. «Ich habe damals überall nach Pfeifen geforscht und Exemplare gekauft.»

Dann stieß der Pfarrer auf eine Tischrede Martin Luthers aus dem Jahr 1532. Darin schrieb der Reformator über das Brauchtum, Gott «mit tauben schellen» zu loben. Für Gnan steht heute fest, dass es sich beim Schellenflug um eine im Mittelalter weit verbreitete kirchliche Tradition handelt, die schlicht in Vergessenheit geraten ist.

Gnan trainiert mit den Tauben, baut langsam Vertrauen zu ihnen auf, dressiert sie so, dass sie je nach Wunsch auf dem blauen oder roten Kasten landen. Mit einem kleinen Futterbecher lockt er die Tauben auf seinen Arm und lässt sie wieder fliegen, nachdem sie sich drei Körner herausgepickt haben.

In seinen drei Pfarreien kommen die Tiere an Feiertagen wie Ostern zum Einsatz. Dann lässt Gnan eine Taube fliegen, welche die Seele Jesu symbolisiert. Ganze Geschichten kann er mit den Tieren erzählen - wie einst in den Kirchen des Mittelalters.

Das kommt bei den Gläubigen gut an. Gnans Taubenmusik erklingt bei Kommunionen und Firmungen, bei Hochzeiten und anderen Feiern. Auch für Blinde ist der Flug ein Erlebnis, da sie nicht nur der Musik lauschen, sondern auch die Dimensionen von Kirchenräumen besser erfassen können. «Mit schwer erziehbaren Kindern habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie sich sehr auf die handzahmen Tauben einlassen können», berichtet der Geistliche.

Gnan, der neben Tauben und Hühnern auch Bienen züchtet, will die Menschen für die Tiere und ihren Schutz sensibilisieren. Drei Amtstierärzte haben ihm bescheinigt, dass der Schellenflug einer artgerechten Tierhaltung entspricht. Den Ende Mai stattfindenden Deutschen Katholikentag in Regensburg will der Pfarrer dafür nutzen, diese liturgische Übung wieder bekannter zu machen. Bei zwei Vespergottesdiensten wird die Musik des Windes zu einer Orchestersinfonie von Antonin Dvorak erklingen. Und ein großes Publikum wird die Botschaft Gnans hören: «Das Tier hat seinen Platz in der Schöpfung, Gott hat Mensch und Tier gleichberechtigt erschaffen.»

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