Kampf um Leben und Tod

13. Dezember 2013 in Kommentar


Mia Sophie ist neun Monate alt und kämpft nach einer Herz-OP im Krankenhaus ums Überleben. Gleichzeitig demonstrieren hunderte Menschen vor dem EU-Parlament in Straßburg gegen den „Estrela-Report“. Gibt es einen Zusammenhang? Von Rudolf Gehrig


Bonn (kath.net/f1stlife) Mia Sophie ist das süßeste Baby der Welt. Sagen ihre Eltern. Sie hat drollige Augen, putzige Händchen und ein hübsches Lächeln. Mia-Sophie ist neun Monate alt. Sie hat das Down-Syndrom. Trotzdem lebt sie gerne und fühlt sich sehr wohl bei ihrer Familie. Es scheint ihr egal zu sein, dass sie ein Chromosom mehr hat. Und einen Herzfehler. Denn Mia Sophie hat Spaß am Leben. Ihr Papa ist ein guter Freund von mir. Er und seine Frau lieben ihre Tochter über alles. Aber sie machen sich Sorgen wegen des Herzfehlers. Deswegen bat er mich, vor ihrer schweren Operation an sie zu denken und für sie zu beten. Es stehe einiges auf dem Spiel und man wisse nicht, wie es ausgeht. Der Schicksalstag war der 9. Dezember 2013.

An diesem Montag war ich mit meinem Kollegen auf dem Weg nach Straßburg. Wir arbeiten für den katholischen Fernsehsender EWTN (Eternal Word Televison Network) und sollten dort mit der Kamera ein paar Bilder von einer Kundgebung einfangen, die vor dem EU-Parlament stattfand. Besorgte Bürger hatten sich dort versammelt, um gegen den „Estrela-Report“ zu protestieren, der am Folgetag zur Abstimmung ins Parlament gebracht werden sollte. Mit Plakaten, Schildern und Transparenten standen etwa 150 Menschen vor dem EU-Gebäude und skandierten laut: „Estrela: No!“ Damit versuchten sie, den ankommenden Parlamentariern klarzumachen, dass der von der portugiesischen EU-Politikerin Edite Estrela vorgelegte Bericht ihrer Meinung nach europäischem Recht widerspreche. „Dieser Estrela-Report ist ein Skandal“, sagte eine Demonstrantin, „und dass es Politiker gibt, die da mitspielen, halte ich für unverantwortlich.“

Der Estrela-Report: „Entwurf einer Entschließung des Parlaments zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und den damit verbundenen Rechten“

Der Estrela-Bericht wurde entworfen, um einen Gesetzentwurf vorzubereiten, der die „sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte“ in allen EU-Mitgliedstaaten durchsetzt. Unter „sexueller und reproduktiver Gesundheit“ wird beispielsweise auch künstliche Verhütung und Abtreibung verstanden, die nach dem Willen Edite Estrelas zum Menschenrecht erklärt werden soll. Außerdem fordert sie, dass Kinder bereits im Grundschul- oder Kindergartenalter durch staatliche Stellen sexuell aufgeklärt werden sollen, während die Eltern in dieser Angelegenheit eine nebensächliche Rolle spielen („other stakeholders“). Diese sollen künftig auch nicht mehr informiert werden müssen, wenn ihre minderjährige Tochter abtreiben will. Ein weiterer Punkt ist die Aufforderung, Abtreibungsorganisationen staatlich zu finanzieren und die Gewissensfreiheit der Ärzte abzuschaffen, die dadurch bisher noch die Durchführung eines „Schwangerschaftsabbruchs“ verweigern konnten.

Am 22. Oktober 2013 wurde dieser Entwurf nach turbulenten Debatten im EU-Parlament zur Überarbeitung in den Frauenausschuss zurückverwiesen, da es im Vorfeld zu einigen Unstimmigkeiten kam. Angelika Niebler, Europaabgeordnete der CSU, kritisierte zum Beispiel, dass den Parlamentariern mit Brachialgewalt ein Bericht aufgezwängt werde, ohne dass Zeit bliebe, darüber zu diskutieren. So etwas habe sie in ihren 13 Jahren in Brüssel noch nicht erlebt. Für Aufruhr sorgte auch eine Passage, in der angedacht war, dass Eltern ihre Kinder bereits im Kleinkindalter zur Masturbation animieren sollten. Daraufhin organisierte sich eine Gruppe von besorgten Lebensschützern zu einer Spontan-Demonstration vor dem Parlament und sorgte dafür, dass der Estrela-Bericht bis zur Fertigstellung einer überarbeiteten Fassung von der Tagesordnung gestrichen wurde.

Abtreibung als Menschenrecht

Am 10. Dezember war es dann so weit. Es sollte erneut über den Bericht abgestimmt werden. Vorab stellte sich heraus: Inhaltlich „überarbeitet“ wurde der Estrela-Report kaum. Zwar war die Stelle zur Kinder-Masturbation gestrichen, im Großen und Ganzen blieben die Forderungen allerdings die gleichen, auch wenn sie in klausulierte Formeln gepackt wurden: „Die SRHR-Politik [Sexual and Reproductive Health and Rights] in der EU im Allgemeinen fordert die EU nachdrücklich auf, mit besonderem Augenmerk auf Familienplanungsdiensten, einem sicheren Schwangerschaftsabbruch, Verhütungsmitteln, (…), dafür zu sorgen, dass bei der europäischen Entwicklungszusammenarbeit ein auf Menschenrechten basierender Ansatz verfolgt wird und sie die SRHR als starken und ausdrücklichen Schwerpunkt hat und konkrete Ziele im Bereich der SRHR verfolgt.“ (Estrela-Report, § 76)

Diese „konkreten Ziele“ sind bereits ausgelotet: Abtreibung soll Menschenrecht werden („Menschenrecht“ der Frau und nicht des ungeborenen Kindes, versteht sich) und wird als wichtiger Punkt in der „Entwicklungshilfe“ angesehen. Das rief die Lebensschützer auf den Plan, die den Schutz des menschlichen Lebens ab der Empfängnis fordern. Doch auch andere sind nach Straßburg gekommen, um zu demonstrieren. Zum Beispiel eine Frauenärztin: „Bisher musste ich keine Abtreibungen durchführen, wenn ich das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren konnte.“ Diese Gewissensfreiheit will Edite Estrela streichen, da ihrer Meinung nach jede Frau ein Recht auf Abtreibung habe, unabhängig davon, ob der Arzt das mit seinem Gewissen vereinbaren kann oder nicht. „Wenn sich das durchsetzt, müsste ich aufhören, Ärztin zu sein“, so die empörte Gynäkologin.

Estrela-Bericht: Eine Gefahr für die Demokratie?

Mechthild Löhr, die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), sieht noch ein weiteres Problem. Sie ist seit vielen Jahren politisch sehr aktiv und fürchtet, dass der Estrela-Report die gesetzlich verankerte Subsidiarität aushebeln will. „Der Subsidiaritätsgrundsatz hat bisher jedem europäischen Land die Freiheit der Gestaltung einer kultur- und sozialpolitisch akzeptierten Sexualerziehung und Reproduktionsgesundheit ermöglicht.“ Die Gesetzgebung bei Sexual- und Gesundheitsfragen war also Sache der einzelnen Länder. Jetzt, so Löhr, versuche man, jedem Mitgliedsstaat Estrelas Ansichten „aufzuoktroyieren“. „Das hat dann nichts mehr mit Demokratie zu tun.“ Thomas Schührer, Gründer und Vorsitzender von „Durchblick e.V.“, sieht im Estrela-Bericht außerdem eine Gefahr für die Rechte der Eltern. Als Hauptverantwortliche für die Entwicklung ihrer Kinder müssten sie die Erziehung zum Großteil an den Staat abgeben.

Auch Jugendliche waren an diesem Montag in Straßburg vertreten. Eine 13-jährige Schülerin erzählte mir, dass sie an viele Abgeordnete geschrieben hatte, um sie zu bitten, gegen den Estrela-Report zu stimmen. Deswegen stehe sie jetzt vor dem EU-Parlament. „Hast du dafür Schule geschwänzt?“, fragte ich sie. Als Antwort huschte ihr ein verschämtes Lächeln über das Gesicht. Kai (19) aus Sachsen dagegen hat für die Demo eine Unterrichtsbefreiung bekommen. Sieben Stunden Zugfahrt hat er hinter sich. „Es gibt viele, die denken, dass ich eine Macke habe. Aber das ist meine Meinung und dazu stehe ich.“ Dann kriegen wir noch Ewald Stadler vor die Kamera. Der Österreicher ist fraktionsloses Mitglied des EU-Parlaments und hält die Bezeichnung „reproduktive Gesundheit“, unter die auch die Abtreibung fällt, für „nackten Zynismus“. Warnend blickt er in die Zukunft und findet deutliche Worte: „Irgendwann wird man uns fragen, was wir gegen diesen Massenmord getan haben.“

Der Estrela-Report und Mia-Sophie

Während ich mit dem Kollegen in Straßburg nach dem letzten Interview das Auto für die Rück-fahrt belud, kämpfte die kleine Mia-Sophie im Krankenhaus in Deutschland um ihr Leben. Die Operation lief nicht wie geplant, zeitweise fürchteten die Ärzte, dass sie auf dem Tisch liegen bleibt. Am späten Abend durften die Eltern endlich wieder zu ihrer Tochter, wenn auch nur kurz. “Unser Sonnenschein ist auf jeden Fall eine Kämpferin und beweist immer wieder, dass sie leben will”, sagen sie. Per SMS teilt mir mein Freund mit, dass er seine Tochter notgetauft hat. Die Katholische Kirche hat ein Mitglied mehr. Und ich eine weitere Glaubensschwester. “Sie darf noch nicht gehen”, schreibt der junge Vater und ringt mit Gott, dass Er das irdische Visum seiner Tochter noch einmal verlängern möge.

Am nächsten Tag kommt es in Straßburg zur Entscheidung. Das EU-Parlament soll über den Estrela-Bericht abstimmen. Ich fühle eine innere Spannung, da mir beim Studium des Dokuments bewusst geworden ist, dass es dort nicht nur um ein paar Gesetze oder die finanzielle Unterstützung dubioser Abtreibungsorganisationen geht. Nein. Dort geht es auch um – Mia-Sophie. Die Parlamentarierin Estrela gibt vor, die Gesundheit der EU-Bürger verbessern zu wollen, indem sie das Problem ungewollter Schwangerschaften mit dem Recht auf Abtreibung und Verhütung “löst”. Kinder sollen nur noch leben dürfen, wenn sie erwünscht sind. Und: wenn sie gesund sind. Heißt das, dass Menschen mit Behinderung keine lebenswertes Leben haben? Müssen sich mein Freund und seine Frau dafür rechtfertigen, Mia Sophie auf die Welt gebracht zu haben? Muss sich Mia Sophie dafür entschuldigen, weil sie trotz Trisomie 21 leben will?

Der Kampf geht weiter

Kurz vor halb Zwei Uhr Nachmittag ist die Entscheidung gefallen. Mit einem denkbar knappen Ergebnis von 334 zu 327 Stimmen lehnt das EU-Parlament den Estrela-Report ab. Edite Estrela, so berichten Parlamentsangehörige, schäumt vor Wut und beschimpft ihre politischen Gegner. “Sie tobte wie Rumpelstilzchen”, berichtet jemand. Auf Seiten der Lebensschützer wiederum herrscht große Erleichterung. “Die Verhinderung des Estrela-Entwurfes war ein wichtiger Etappensieg im großen Kulturkampf der in Europa über die Themen Abtreibung und Sexualerziehung tobt”, sagt Hedwig von Beverfoerde, Sprecherin der Initiative Lebensschutz. Und Thomas Schührer merkt an: “Die Kampagne gegen den Estrela-Bericht berührt selbst erfahrene und hartgesottene Politiker aus unserem Lager emotional. Es wird offenkundig, dass die Lebensrechtarbeit eine neue Qualität bekommen hat.”

Emotional war es auch für meinen Freund. “Wir mussten uns zwangsläufig mit dem Gedanken befassen, sie loszulassen. Das war hart.” Mia-Sophie geht es jetzt etwas besser, auch wenn die Sache noch nicht überstanden ist. Doch genau wie die Straßburg-Demonstranten hat auch er neuen Mut gefasst. Aber der Kampf um Leben und Tod geht weiter: Für die Lebensschützer – und für Mia Sophie.

Gigi - der fröhliche Botschafter für Trisomie 21 (Down-Syndrom)



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