Der Schein der Scheine

16. November 2013 in Interview


Der Ökonom Guido Hülsmann über die Folgen des Zwangs einer einheitlichen Währung, die Nachteile nicht-edelmetallischen Geldes und die Gefahren einer bargeldlosen Gesellschaft. Ein Interview von Stefan Frank/Factum.


Angers (kath.net/Factum November 2013)
factum: Sie halten unser Geldsystem für aus christlicher Sicht anfechtbar und ungerecht. Warum?

Guido Hülsmann: Aus zwei wesentlichen Gründen. Zum einen wird den Bürgern das staatliche Geld aufgezwungen. Autos, Kleidung, Ehepartner, Sportvereine usw. dürfen wir frei wählen, aber beim Geld wird uns vorgeschrieben, dass wir nur D-Mark bzw. heute Euros benutzen dürfen. Es gibt für diese Einschränkung der Wahlfreiheit keine haltbare Rechtfertigung.

factum: Die Bibel lehrt, dass der Mensch die Wahl hat und auch haben soll?

Hülsmann: Das ist eine der wichtigsten Botschaften des Neuen Testaments. Der Herr Jesus ist ja nicht mit einem grossen Knüppel gekommen, um uns zum Glauben zu zwingen. Er macht uns ein Angebot, er stellt uns vor die Wahl. Und die gleiche Freiheit haben wir auch in allen anderen wirklich wichtigen Angelegenheiten, z.B. bei der Wahl des Ehepartners und bei der Wahl unserer Freunde. Warum sollte uns diese Freiheit ausgerechnet im Falle eines zweitrangigen Gutes wie dem Geld verwehrt sein?

factum: Und der zweite Grund?

Hülsmann: Es gibt keine gesamtwirtschaftlichen Vorteile, die sich aus diesem Zwang ergeben. Es gibt lediglich einzelwirtschaftliche Vorteile für den Staat und einige Privatinteressen, insbesondere in der Finanzwirtschaft.

factum: Hat die vom Staat bewirkte Vereinheitlichung der Zahlungsmittel aber denn nicht der Industrialisierung einen wichtigen Impuls gegeben? Würde eine Vielzahl an Devisen, die, wie im Mittelalter, auf demselben Marktplatz konkurrieren und verrechnet werden müssen, nicht den Handel lähmen?

Hülsmann: Zunächst einmal ist zu bemerken, dass die Währungsanarchie des Mittelalters auf die ständigen staatlichen Eingriffe in das Münzwesen zurückging. Die Kaufleute haben im Hochmittelalter irgendwann angefangen, ihr eigenes Geld zu schaffen und haben dadurch eine relative Vereinheitlichung des Münzwesens erzielt. Auf einem freien Währungsmarkt würde es auch heute noch solche Bestrebungen geben. Natürlich würde das nicht unbedingt zu einer völligen Vereinheitlichung führen, und eine solche wäre im Übrigen auch nicht besonders erstrebenswert. Verbraucher, Produzenten und Handel können sehr wohl mit einer gewissen Anzahl bewährter Geldarten umgehen. Wir geraten ja schliesslich auch nicht in lähmende Verzweiflung, weil wir von Zürich nach München auf verschiedenen Strassen fahren können oder weil bei den Wahlen zahlreiche Bewerber ihre Dienste feilbieten.

factum: In ihrem Buch „Ethik der Geldproduktion“ sprechen Sie von den „spirituellen Opfern der Geldproduktion“, Inflation mache eine Gesellschaft materialistisch, immer mehr Menschen strebten „auf Kosten ihres persönlichen Glücks nach Geldeinkünften.“ Viele Zeitgenossen teilen diese Ansicht, machen aber entweder „den Kapitalismus“ oder einen diffusen „Zeitgeist“ verantwortlich. Sie sagen, es ist die Inflation. Heisst das, unser krankes Geld macht auch die krank, die es benutzen?

Hülsmann: Ja, so kann man das in aller Kürze sehr wohl ausdrücken. Gregor Hochreiter hat vor kurzem ein sehr schönes Buch geschrieben, dessen Titel genau diesen Gedanken betont: Krankes Geld, kranke Welt. Das bedeutet natürlich nicht, dass man hier in einen Monokausalismus verfallen muss. Es gibt sehr wohl noch andere Ursachen unserer gesellschaftlichen Missstände, beispielsweise der Abfall vom christlichen Glauben. Aber jedenfalls führt auch schlechtes Geld zu einer kranken Welt, und im Gegensatz zu vielen anderen Übeln ist das Übel des Zwangsgeldes kaum bekannt und verdient daher, stärker beachtet zu werden.

factum: Inwiefern führt unser Geldsystem dazu, dass die Menschen auf Kosten dessen, was Ihnen tatsächlich gut tut, nach Geldeinkünften streben?

Hülsmann: In einer natürlichen Währungsordnung gibt es praktisch keinen Wertverfall des Geldes. Ganz im Gegenteil, unter einem Silberstandard oder einem Goldstandard nimmt die Kaufkraft des Geldes tendenziell zu, weil die Preise der nicht-monetären Güter hier üblicherweise sinken. Was bedeutet das für die Marktteilnehmer? Ihr angespartes Geldvermögen erhält seinen Wert bzw. nimmt sogar noch zu. Alle zusätzlichen Geldeinkommen werden daher im Zeitverlauf immer unwichtiger.

Ein junger Mann muss sich Gedanken machen, wie er den Lebensunterhalt seiner Familie verdient, und solange er nicht zum Sparen kommt, kreisen seine Gedanken immer wieder um dieses Problem. Seine Erwerbstätigkeit begrenzt die Zeit, die er im Kreise der Familie verbringen kann oder im Vereinsleben. Aber wenn er erst einmal ein Sparpolster gebildet hat, kann er seine Gedanken zunehmend anderen Fragen zuwenden. Früher oder später gibt er die Jagd nach zusätzlichen Geldeinkommen ganz auf, weil ihm das Angesparte reicht.

Das Problem unseres Geldsystems liegt nun darin, dass dieser Sättigungspunkt nicht bzw. nur sehr viel später erreicht wird. Infolge der übermäßigen Geldproduktion haben wir eine ständige Inflation der Güterpreise, und diese Preisinflation nagt am Wert der Geldvermögen. Es dauert also länger, bis man sich das gewünschte Sparpolster gebildet hat, und der Wert dieser Ersparnisse erhält sich keineswegs ohne weiteres Zutun. Entweder muss der permanente Wertverfall durch fortgesetzte Erwerbstätigkeit immer wieder ausgeglichen werden, oder man muss versuchen, durch besonders geschickte Anlagen einen Ausgleich zu schaffen.

In jedem Fall wird also tendenziell ein grösserer Teil der Lebenszeit mit rein materiellen Angelegenheiten verbracht. Unser Währungssystem verschafft dem Erwerbsleben einen übermässigen Stellenwert. Wer wie ein Hamster im Laufrad ständig dem Geld hinterherrennt, muss alles andere entsprechend vernachlässigen. Es bleibt dann immer weniger Zeit für Gott, Familie, Freundschaft und alle uneigennützigen Aktivitäten. Wie man so schön sagt: Diese Dinge „bringen nichts“.

factum: Gibt es in der Bibel Stellen, die bestimmte Geldsysteme sanktionieren oder verwerfen?

Hülsmann: Wenn in der Bibel von Geld die Rede ist, was bekanntermaßen häufig der Fall ist, wird immer nur auf Edelmetalle Bezug genommen. Alle Abweichungen vom 100prozentigen Metallgeld werden typischerweise als krankhafte beziehungsweise bösartige Abweichungen von der an sich erstrebenswerten Reinheit dargestellt. Das muss für uns heute natürlich nicht unbedingt das letzte Wort sein. Schließlich wurden im Transportwesen und in der Landwirtschaft seit der Antike bedeutende Fortschritte erzielt, die wir durchaus bejahen dürfen und keineswegs zugunsten der biblischen Eselskarren und der Pflugscharen ablehnen sollten. Aber jedenfalls sollte uns das biblische Zeugnis zu denken geben. Es sollte uns Anstoss bleiben, die heutigen Gewohnheiten zu hinterfragen. Das Geld ist da keine Ausnahme.

factum: Unter Berufung auf die Bibel gab es in Europa vom Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Gesetze gegen den „Wucher“, also zum Beispiel von der Obrigkeit festgesetzte Zinsen. Was würden Sie sagen, wenn jemand solche Rezepte als die wahre christliche Wirtschaftslehre preisen würde?

Hülsmann: Zunächst einmal ist hier festzustellen, dass das kanonische Zinsverbot nie widerrufen worden ist. Nach katholischer Lehre sind Einkommen aus der Geldleihe, die ohne irgendeinen zusätzlichen Dienst am Kreditnehmer erzielt werden, nicht statthaft. Der Dienst könnte zum Beispiel darin bestehen, dass der Kapitalgeber einen Teil des Risikos der mit dem geliehenen Geld finanzierten Investition übernimmt. Das ist heute in den meisten praktischen Situation durchaus auch der Fall, und dadurch wird die Anwendung des kanonischen Zinsverbotes in der Praxis meistens hinfällig. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum die katholische Kirche die Wuchergesetze in den letzten hundert Jahren nicht in den Vordergrund der kirchlichen Soziallehre gestellt hat. Um also auf Ihre Frage zurückzukommen, würde ich antworten: Ja, Wuchergesetze sind grundsätzlich auch ein Element der christlichen Wirtschaftslehre, aber nicht jeder Zins und auch nicht jeder hohe Zins ist gleich auch Wucher.

factum: Was macht einen Zins zum Wucherzins?

Hülsmann: Der echte Wucher ist vielleicht da, wo man ihn am wenigsten vermutet. Zum Beispiel ist es eine aus christlicher Sicht durchaus fragwürdige Praxis, dass unsere Zentralbanken das von ihnen geschöpfte Geld kostenpflichtig verleihen. Welches Risiko übernehmen die Zentralbanken dabei eigentlich? Die Herstellung von Giralgeld kostet sie fast nichts, und auch die Herstellung von Papiergeld ist nur mit äußerst geringen Kosten verbunden. Zudem sind die Bürger wie gesagt gezwungen, dieses Geld zu verwenden. Hier scheint mir die Wucherlehre durchaus relevant zu sein.

factum: Reden wir von Europa. Hätte die europäische Währungsunion auch funktionieren können?

Es kommt darauf an, was man unter „funktionieren“ versteht. Sicherlich hätten wir eine Staatsschuldenkrise, wie wir sie momentan erleben, bei strikter Einhaltung der Maastricht-Kriterien heute noch nicht erlebt. Aber man darf sich auch nicht der Illusion hingeben, dass die Maastricht-Regeln uns ewig geschützt hätten.

Das grundsätzliche Problem mit allen Papiergeldwährungen besteht darin, dass sie Anreize zu unverantwortlichem Handeln schaffen. Die Kunden der Zentralbanken – das sind vor allem die Regierungen und die Geschäftsbanken - wissen, dass die Zentralbanken die Macht haben, notfalls unbegrenzte Geldmengen aus dem Nichts zu schöpfen, um grössere Zusammenbrüche zu vermeiden. Das aber führt dazu, dass diese Leute ihre eigene Risikovorsorge zurückfahren und sich mehr und mehr auf die Unterstützung der Zentralbanken verlassen. Genau das ist in den letzten vierzig Jahren geschehen.

Die heutige Staatsschuldenkrise ist nur ein besonders krasser Auswuchs der allgemeinen Schuldenwirtschaft, zu der sich die gesamte entwickelte Welt nach dem Ende des Goldstandards hat hinreissen lassen. Allein aus diesem Grund hätte die Währungsunion letzten Endes nicht funktionieren können. Sie war von vorneherein auf dem dünnen Sand des Papiergeldes gebaut und wäre daher genauso gescheitert wie auch die nationalen Papierwährungen gescheitert wären.

factum: Welche moralische Verantwortung haben die Geschäftsbanken in einem Notenbanksystem, das sie zu rücksichtslosem Verhalten ermuntert und die Vorsichtigen unter ihnen dadurch straft, dass sie niedrigere Renditen erwirtschaften als ihre risikofreudigeren Konkurrenten? Hat die Finanzwirtschaft ihr schlechtes Image trotzdem zurecht?

Hülsmann: Das ist eine schwierige Frage. Es ist richtig, dass die Geschäftsbanken innerhalb eines Systems agieren, das ihnen künstlich hohe Erlöse und künstlich niedrige Kosten verschafft. Sie können nicht moralischer handeln als es das System zulässt. Aber man kann die Geschäftsbanken, insbesondere die grossen Aktiengesellschaften unter ihnen, auch nicht völlig von der Verantwortung lossprechen. Sie sind keineswegs blosse Zahnräder einer grossen Maschine, die ohne ihr Zutun irgendwie ins Leben gesprungen ist.

Erstens sind viele der heutigen Zentralbanksysteme überhaupt erst durch die Initiative von Geschäftsbanken gegründet worden. Die vermeintlichen Zahnräder waren in diesen Fällen auch die Schöpfer der Maschine. Zweitens sind die meisten Geschäftsbanken auch heute noch keineswegs an irgendwelchen grundlegenden Reformen interessiert. Ganz im Gegenteil sind sie die wichtigsten Unterstützer unseres jetzigen Geldsystems. Drittens ist es verwerflich, sich und andere an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds zu bringen, wohlwissend, dass dann die Zentralbanken und der Staat zu Hilfe eilen. Natürlich tragen nicht alle Geschäftsbanken diese Verantwortung in gleichem Maße. Gerade die kleineren, privat geführten Häuser sind häufig durchaus tadellos.

factum: Wie sollte das europäische Geld- und Bankensystem reformiert werden?

Das ist eine weitreichende Frage. In meinen Schriften habe ich mich insbesondere immer wieder für eine Reform des Währungssystems stark gemacht. Ziel muss sein, in diesem Bereich halbwegs wettbewerbliche Bedingungen zu schaffen, damit die Bürger durch eigene Wahl die besten Geldarten zur Geltung bringen.

factum: Dann bewerten Sie die verschiedenen Alternativwährungen positiv? In Spanien etwa gibt es an die 50 privat initiierte regionale Komplementärwährungen. Auch die Goldtafeln mit 1-Gramm-Plättchen zum Herausbrechen währen als Währung denkbar und werden rege nachgefragt. Weltweit wird inzwischen eine nichtstaatliche Internetwährung namens Bitcoin benutzt. Sie ist so erfolgreich, dass sie von Deutschland inzwischen als Währung anerkannt wurde und von einigen Kongressabgeordneten in den USA erbittert bekämpft wird (angeblich, weil sie auch von Kriminellen genutzt wird, die damit anonym Geschäfte tätigen).

Hülsmann: In der Tat, die Regionalwährungen und auch Bitcoin bewerte ich grundsätzlich positiv. Es ist immer gut, auf Alternativen zurückgreifen zu können, insbesondere wenn die Standardlösung – unser jetziges Währungssystem – so offensichtlich schlecht ist. Allerdings erwarte ich nicht, dass diese Initiativen zu besseren Ergebnissen führen als die natürlichen Geldarten Silber und Gold. In einer wettbewerblichen Geldordnung würden auch Bitcoins und Regionalwährungen verwendet werden, aber sie blieben zweitrangig. Im wesentlichen hätten wir einen Umlauf aus Silber- und Goldmünzen, und wir hätten Banken, die metallgedeckte Sichtkonten verwalten, samt dem dazugehörigen giralen Zahlungsverkehr.

factum: Es gibt starke Bestrebungen, das physische Geld ganz abzuschaffen. Der Mensch würde damit für den Staat völlig transparent – und letztlich auch manipulierbar. Die Offenbarung des Johannes warnt vor einem totalitären Reich (Offb. 13, 17), in dem es kein Geld mehr gibt und in dem nur „kaufen und verkaufen“ kann, wer dem Staat opportun ist. Wie bewerten Sie diese Entwicklung aus politischer und christlicher Sicht?

Hülsmann: Die von Ihnen genannten politischen Folgen liegen leider auf der Hand. Vordergründig wird die Abschaffung des Bargelds mit dem Kampf gegen die Geldwäsche und die Steuerflucht begründet. Es gibt auch noch andere Erwägungen, die aber nicht populär genug sind, um sie offen auszusprechen. Zum Beispiel ist es in einer bargeldlosen Wirtschaft sehr viel leichter, von heute auf morgen eine Enteignung der Sparer zu vollziehen. Klar ist jedenfalls, dass der totalitäre Missbrauch, der durch die Abschaffung des Bargelds möglich wird, die Probleme des Drogenhandels, des Waffenschmuggels und der Steuerflucht weitaus in den Schatten stellt.

Es ist falsch, ein vergleichsweise kleineres Übel durch ein grösseres zu bekämpfen. Vor allem ist es auch nicht christlich. Der christliche Weg führt immer von unten nach oben. Er beginnt in den einzelnen Herzen und trägt irgendwann auch seine Früchte in den sichtbaren Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Es liegt auf der Hand, dass der christliche Weg nicht dazu führt, Geldwäsche und Steuerflucht völlig auszumerzen. Aber es gibt nun einmal sehr viel wichtigere Ziele für das menschliche Leben, und diese Ziele sind nur durch individuelle Freiheit zu erreichen.

factum: Wie bewerten Sie die Entwicklung auf europäischer Ebene? Was müsste hier geändert werden?

Hülsmann: Wir müssen uns endlich von der Wahnidee befreien, dass mehr Europa gleichbedeutend ist mit mehr politischer Zentralgewalt in Brüssel oder anderswo. Genau das Gegenteil ist richtig. Wir sollten uns ein Beispiel an der Schweiz nehmen und nicht ständig versuchen, eine neue Sowjetunion zu errichten, in der trügerischen Hoffnung, dass es diesmal klappt. Je weniger zentralisiert unsere politischen Entscheidungen getroffen werden, desto besser ist es für alle Bürger.

factum: Die Deutschen, heisst es häufig, seien weitgehend von der Krise verschont geblieben. Der Export floriert, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, auch das Haushaltsdefizit war schon mal höher. Regen sie sich umsonst auf?

Hülsmann: Dieser Optimismus ist in Deutschland heute in der Tat weit verbreitet. Er gleicht dem Optimismus eines Stürzenden, der seinen Blick nur auf die anderen richtet, die noch vor ihm aufschlagen. Zudem ist die relativ günstige Lage in Deutschland unter anderem gerade auch darauf zurückzuführen, dass es vielen Nachbarländern noch schlechter geht. Wir sind momentan die Nutzniesser der Kapitalflucht aus den maroden Ländern des Südens. Dadurch sind bei uns die Zinsen besonders niedrig, und davon profitieren Unternehmen und Staat. Aber so kann es nicht ewig weitergehen. Deutschland kann auf Dauer keine florierende Wirtschaft haben, wenn es seinen Partnern schlecht geht.

factum: Europa und die USA folgen dem japanischen Beispiel und bekämpfen die Krise mit einer Politik der extrem niedrigen Zinsen. Die Befürworter meinen: Dies berge keine Risiken, da die Inflation niedrig sei und wir uns sowieso in einer Phase der Geldmengenkontraktion befänden, da die Banken die Kreditvergabe scheuen. Stimmt das, und welche sonstigen, unbeachteten Gefahren könnte es vielleicht geben?

Hülsmann: Es stimmt, dass die Preisinflation in den betreffenden Ländern aus diesen Gründen heute noch niedrig ist. Es ist bereits eine ganz andere Frage, wie die Sache mittel- bis langfristig aussieht. Bislang haben die Zentralbanken noch keinen überzeugenden Ausstiegsplan vorgelegt für den Fall, dass die Kreditvergabe bzw. Geldschöpfung durch die Geschäftsbanken wieder zunimmt und die Preise steigen. Vor allem aber schafft diese Niedrigzinspolitik immer grössere Ungleichgewichte. Sie verringert den Zwang zu ausgeglichenen öffentlichen Haushalten, behindert die Abwicklung maroder Betriebe und führt zu einem immer grösseren Wachstum der Finanzwirtschaft gegenüber der sogenannten Realwirtschaft.

Letztlich erstarrt unsere Gesellschaft dadurch zu einem Kastensystem. Die grossen Gewinner sind die staatsnahen Firmen einschliesslich der Finanzwirtschaft und diejenigen Bürger, die bereits vermögend sind. Verlierer sind die eher staatsfernen Wirtschaftszweige und diejenigen Leute, die sich aus eigener Kraft einen gewissen Wohlstand erarbeiten wollen.

factum: Die Schweiz hat schon lange sehr niedrige Leitzinsen, ohne dass dies zu einer Krise wie in Südeuropa geführt hat. Woran liegt das?

Hülsmann: Die niedrigen Zinsen in der Schweiz entspringen nicht wie in Südeuropa der Notenpresse. Sie sind eine Folge des Kapitalimports, mit dem Ausländer aus der ganzen Welt ihr Vertrauen zu Schweizer Banken zum Ausdruck bringen. Das gefällt natürlich vielen Regierungen nicht, denn die in der Schweiz investierten Gelder sind ihrem direkten Zugriff entzogen. Daher der ständige Druck auf die Schweiz, das Bankgeheimnis immer mehr zu lockern. Wenn die Schweiz hier nachgibt, stirbt das Vertrauen und letztlich werden dann auch die Zinsen steigen.

factum: In Ihrem neuen Buch „Krise der Inflationskultur“ stellen Sie der inflationistischen Sicht, wonach Konsum – notfalls auch auf Pump – für Wachstum sorge, eine ganz andere gegenüber: In Wahrheit sei es gerade das Sparen, das langfristig den Wohlstand mehre. Warum ist das so?

Hülsmann: Konsumieren bedeutet Zerstören. Ganz klar ist das im Falle von Lebensmitteln: Wenn ich beispielsweise eine Banane esse, versetze ich sie in einen Zustand, in dem sie für niemanden mehr zu gebrauchen ist. Aber genau so steht es auch bei langlebigeren Gütern. Wenn ich mein Auto fahre, nutze ich es ab, bis es endlich nicht mehr zu gebrauchen ist. Nur wenn ich es in der Garage stehen lasse, mir also seine Nutzwirkung aufspare, wird dieser Zerstörungsprozess vermieden.

Der gesamte Fortschritt der Wirtschaftsentwicklung beruht darauf, dass wir nicht alles verbrauchen, was wir geschaffen haben. Schauen Sie sich in den schönen Schweizer Städten um. Alle Gebäude und Strassen, die Sie dort sehen, verdanken wir einzig und allein der Entscheidung Ihrer Vorfahren, eben nicht alles zu verbrauchen, was sie selber geschaffen haben.

Auch das Geldkapital, das die Firmen ausgeben können, um Angestellte und Zulieferer zu bezahlen, ist nur durch Sparentscheidungen verfügbar. Wenn die Unternehmer sich beispielsweise entschieden, alle Erlöse, die sie durch den Verkauf ihrer Produkte erzielen, für den persönlichen Konsum zu verwenden, dann stünden bald alle Räder still.

Guido Hülsmann ist Universitätsprofessor an der Fakultät für Recht, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Angers in Frankreich.

Foto: (c) SIR


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