Zurück zum Naturrecht

17. November 2012 in Interview


Kritiker nennen es „katholische Scharia“. Ein Gesetz, das in die Natur des Menschen eingeschrieben ist. Ein Gespräch mit dem Philosophen Armin Schwibach von Guido Horst/Vatican-Magazin


Rom (kath.net/www.vatican-magazin.de)
Vor über einem Jahr hat Papst Benedikt im Deutschen Bundestag das Naturrecht thematisiert. Kritiker sagten damals, der Papst wolle eine Art „katholischer Scharia“ wieder einführen. Ist das Naturrecht eine katholische Angelegenheit?

Nein, das Naturrecht hat nichts mit der katholischen Kirche und die zitierte Scharia hat nichts mit Naturrecht zu tun. Sie ist im Endeffekt sogar dessen Verleugnung. Das Naturrecht ist, wie Benedikt XVI. dies auch früher schon sagte, „die Quelle, aus der zusammen mit Grundrechten auch sittliche Gebote entspringen, deren Einhaltung verpflichtend ist“.

Der Gedanke des Naturrechtes geht also von einem Gesetz aus, das in die Natur des Menschen eingeschrieben ist und aus dem heraus sich die positiven Gesetze der Gesetzgebungen ergeben müssen. Er geht zurück auf die Zeit der Griechen und wurde vor allem von der Philosophenschule der Stoa ausgearbeitet.

Was heißt das denn: „...in die Natur des Menschen eingeschrieben“?

Die Natur des Menschen – sein Sein – ist so geordnet, dass sich durch die Vernunft im Sein selbst ein Gesetz erfassen lässt, wenn wir das für das Handeln des Menschen Maßgebliche erkennen wollen. Dieses „Gesetz der Natur“ – die lex naturalis oder das ungeschriebene Gesetz – bringt die Natur des Menschen zum Ausdruck. Es ist also nichts Nachträgliches. Es ist auch keine Erfindung. Es gehört zu seinem Wesen.

Nochmals zu den Griechen, weil wir ja nicht mehr so klassisch gebildet sind. Wie haben die Griechen erkannt und ausgearbeitet, dass es gleichsam natürliche Gesetze gibt, Gesetze also, die der Natur schon eingeschrieben wurden und dadurch von der Vernunft zu erkennen sind?

Denken Sie zum Beispiel an Sophokles’ Tragödie „Antigone“, die die Menschen seit über 2400 Jahren immer wieder neu beschäftigt. Antigone widersetzt sich – einem scharfen Konfrontationskurs folgend – dem Willen des Tyrannen von Theben, Kreon, da sie ein von ihm erlassenes Gesetz im Widerspruch zu den „ungeschriebenen und gültigen Bräuchen (Normen, Regeln) der Götter“ sieht. Der Tyrann hatte verboten, ihren Bruder Polyneikes zu bestatten, weil der gegen seinen Bruder Eteokles und seine Heimatstadt gekämpft hatte. Damit aber verwehrte Kreon seinem Neffen die Möglichkeit, in den Hades einzugehen und so die Totenruhe zu finden. Dieses willkürlich erlassene – oder „positive“ – Gesetz des Kreon steht für Antigone im Widerspruch zu der von den Göttern gegebenen universalen Regel, dem Maß allen Tuns, das von absoluter Gültigkeit ist. Es entspricht der Natur des Menschen und bestimmt sie. Somit stellt Antigone die göttliche Norm – die kein Gebot ist – über das Gesetz des Staates. Dafür setzt sie sogar ihr Leben ein. In diesem Sinn vollzog sich seit Bestehen des Gesetzesbegriffs im griechischen Denken eine intensive Auseinandersetzung mit dem Problem der Rechtmäßigkeit der Gesetze – sowie der Grundlegung der endlichen Gesetze in den von den Göttern gegebenen Gesetzen des Seins.

Wollte der Papst im Deutschen Bundestag eine Rückkehr zu den alten Griechen?

Der Papst hat uns mit seiner Frage „Was ist Recht?“ aufgefordert und daran erinnert, dass man darüber nachdenken muss, was die Grundlagen der Rechtsprechung sind. Worin das Wesen der Gesetze besteht. Und dass Gesetz und Vernunft nicht auseinanderdividiert werden können. Damit hat er uns auch daran erinnert, dass es somit unmöglich ist, „Gesetze“ allein als ein selbst gesetztes Regelwerk positiver, regulierender Gesetze zu erfassen.

Gesetze werden dennoch von Menschen gemacht. Aber Sie sagen, es gibt Gesetze, die sind dem Menschen angeblich vorgegeben und der Natur, das heißt den „Herzen eingeschrieben“?

Ein Gesetz ist ein Maßstab. Das heißt, es ist eine Richtschnur für menschliches Handeln. Diese Richtschnur kann, was etwa Gesetzbücher betrifft, von Menschen geschaffen werden. Dies sollte allerdings nur auf der Grundlage von etwas geschehen, was diese Richtschnur auch als Richtschnur vernünftig erkennbar werden lässt.

Das Gesetz ist immer grundlegend auf die Vernunft verwiesen. Man könnte schlagwortartig sagen, dass das Gesetz von der Vernunft erkannt und freigelegt wird. Geschaffen wird es also, insofern die Vernunft für ihren Schöpferakt von einem vorgegebenen schon existierenden Gesetz ihre Richtung erhält.

Das Gesetz also wird von der Vernunft geschaffen. Dann ist es also doch nicht „in das Herz eingeschrieben“?

Dass es von der Vernunft geschaffen wird, heißt: Die Vernunft ist das Maß des Handelns. Die Norm des Handelns besteht in der vernunftmäßigen Wesensstruktur des menschlichen Seins. Gesetz und Vernunft sind somit aufeinander verwiesen. Bildhaft gesprochen: Wenn die Vernunft sich auf etwas zubewegt, ist sie in der Lage, die Struktur des Gegenstandes wahrzunehmen und zu erkennen, auf wen sie sich zubewegt. Wenn wir also vom Gesetz sprechen, haben wir es auf der einen Seite mit einem von der Vernunft „geschaffenen“ Gesetz zu tun. Dieses Gesetz aber kristallisiert sich heraus, indem sich die Vernunft auf das Sein zubewegt, in dem sie das eingeschriebene Gesetz als wahrnehmbar und erkennbar vorfindet.

Von dem Naturrechtler Hugo Grothius (1583-1645) stammt der Satz: „Etiamsi daremus non esse Deum“, also gewisse Prinzipien des Naturrechts gelten auch dann, wenn Gott nicht existieren würde. Wie geht das denn? Wie kann man aus der Natur Prinzipien ableiten?

Man muss zunächst erklären, was mit Natur gemeint ist. Dabei geht es nicht um jene Natur, die Gegenstand der naturwissenschaftlichen Untersuchung ist. Wenn man von Natur und Naturgesetzen spricht, haben wir es in der Rechtsphilosophie nicht mit Naturgesetzen zu tun, so wie sie von den positiven Wissenschaften wie Physik oder Chemie als Modelle der Interpretation der Wirklichkeit herausgearbeitet werden. Natur im Bereich des Naturrechtsdenkens ist die Gesamtheit des gegebenen Seins, innerhalb dessen die Vernunft Gesetze ausmachen kann, die einen für das menschliche Handeln absoluten und nicht von ihm hervorgebrachten Charakter haben.

Und was wollte Grothius mit seinem Diktum nun sagen?

Grothius wollte darauf hinweisen, dass es nicht notwendig ist, aus einer religiösen Dimension heraus den Naturrechtsgedanken zu formulieren, sondern dass es in der Natur des Menschen und in der den Menschen umgebenden Welt selbst Gesetze gibt, die für den Menschen zunächst Verpflichtungen darstellen und auf der anderen Seite Rechte gewährleisten.

Ziehen wir ein erstes Fazit: Was also ist Recht und wie kann der Mensch Recht oder Rechte definieren, um dann im Konflikt-Fall Recht zu sprechen?

Recht beziehungsweise das Gesamt der verschiedenen Rechte ergibt sich dadurch, dass die Vernunft die sie umgebende Wirklichkeit durchdringt und innerhalb dieser Wirklichkeit vernünftig erkennbare Maßstäbe und Richtlinien findet, die in das Sein selbst eingelassen sind. Das Recht ist also etwas, was die Vernunft des Menschen zu erkennen vermag – und zwar aufgrund ihrer eigenen Aktivität und andererseits aufgrund dessen, was sie in der erkennbaren, realen Welt vorfindet.

Könnten Sie dafür ein Beispiel nennen? Welches Recht kann man aus der Natur ableiten?

Ein konkretes Recht ist das Recht auf Leben und verbunden damit, dass anderes Leben nicht ausgelöscht werden darf, weil damit das Recht der Natur des Menschen verletzt würde und dies dann Konsequenzen für die Selbstbestimmung desjenigen hat, der eine derartige Tat begeht.

Sie sprachen eben vom Sein. Sind wir da bei der Metaphysik? Was ist Metaphysik?

Ist die Frage ernst gemeint? Wie viele Bände an Antwort wollen Sie haben? Aber Scherz beiseite: Das gesamte abendländische Denken vollzieht sich in einem Horizont, der nach Aristoteles „metaphysisch“ genannt werden kann. Es geht um das Sein, darum, „Was“ und „Wie“ etwas ist oder da ist, und um das ihm Zukommende, was es strukturiert, wie dies geschieht, welchen Sinn von Sein die Vernunft erarbeiten kann, was daraus an Verbindlichem für die Stellung des Menschen in der Welt „sub specie aeternitatis“ folgt.

Das Christentum ist eine gelebte Metaphysik und kann die auf die Praxis bezogene „theoretische“ Dimension sehr schön veranschaulichen. Zum Beispiel kann man den ersten Satz des Glaubensbekenntnisses „Credo in unum Deum“ nicht einfach nur sprechen oder konventionell wiederholen oder in seiner Grammatik analysieren. Die Tatsache, dass Gott in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist, drängt den Gläubigen dazu, sich selbst, die Gemeinschaft, zu der er gehört, und die Welt hinsichtlich dessen zu hinterfragen, was aus der Anwesenheit Gottes folgt, um dann danach handeln und in der Welt sein zu können.

Was ist der Unterschied zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre?

Der Unterschied besteht in der Grundlage der Rechtsfindung und des daraus folgenden Normensystems. Für die Naturrechtslehre besteht die Grundlage der Rechtsfindung in einer Ordnung, die im Sein selbst verankert ist, das die menschliche Vernunft erkennen kann und das durch die Vernunft anschließend so ausgefaltet wird, dass positive Gesetze, die gerecht sind, nachfolgen können.

Wohingegen bei einer rechtspositivistischen Konzeption der wesentliche Akzent auf der Kodifizierung liegt, die sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Situationen bezieht. Der Rechtspositivismus fragt bei dieser Kodifizierung nicht danach, was ein Recht ist, sondern ob etwas funktioniert und wie die verschiedenen Funktionsweisen aufeinander bezogen werden können.

Was ist die Folge des Rechtspositivismus?

Der Rechtspositivismus begleitet eine relativistisch organisierte Form der Gesellschaft und eine relativistische Interpretation der gesellschaftlichen Bezüge und versucht, diese so zu regulieren, dass es innerhalb einer Gesellschaft zu keinen Diskriminierungen von einzelnen Gruppen kommt.

Der Anspruch des Gesetzes ergibt sich dabei allein aus dem Willen des Souveräns, der keiner weiteren (ontologischen) Grundlegung bedarf und sich auf nichts über ihn Hinausgehendes bezieht. Oder – wie dies Papst Benedikt XVI. einmal ausdrückte: „Die Folge ist, dass die Gesetzgebung häufig lediglich zu einem Kompromiss zwischen verschiedenen Interessen wird: Man versucht, private Interessen oder Wüsche, die den aus der sozialen Verantwortung erwachsenden Verpflichtungen zuwiderlaufen, in Rechte umzuwandeln.“

Somit ist es nicht übertrieben, gravierenden Machtmissbrauch bis hin zum Totalitarismus als schwerste Folge des Rechtspositivismus zu sehen.

Armin Schwibach lehrt Neuzeitliche Philosophie, Metaphysik und andere philosophische Disziplinen an der Päpstlichen Hochschule „Regina Apostolorum“ in Rom und ist Rom-Korrespondent von kath.net.


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