12. Mai 2012 in Chronik
'Der Unfall hat mich von hundert auf null gebremst.' Querschnittsgelähmter konfessionsloser Soldat fährt nach Lourdes: 'Woher ich die Kraft hier habe ist unbeschreiblich.' Von Kerstin Kotterba (KNA)
Lourdes (kath.net/KNA) Mehr als 600 Mal springt Andre Wetter aus dem Flugzeug und gleitet mit seinem Schirm dem Boden entgegen. Perfektion, die Kontrolle und die Verantwortung für sich selbst faszinieren den jungen Soldaten am Fallschirmspringen. Mehr als 600 Sprünge geht alles gut. Dann passiert es - ein Unfall, der sein Leben komplett verändert. Bei der internationalen Soldatenwallfahrt in Lourdes versucht Wetter aus dem Alltag als Querschnittsgelähmter auszubrechen.
Es war an einem Donnerstagabend, kurz vor Feierabend, der sechste Sprung an diesem Tag auf einem Übungsgelände der Kaserne Seedorf. «Eigentlich wollte ich gar nicht mehr raus, noch etwas Bürokram erledigen», erinnert sich Wetter. Seinen Kollegen zuliebe stieg er noch einmal in das Flugzeug, schließlich war er der Mannschaftsführer. Beim Landeflug habe er nur noch die Kieferkrone vor sich gesehen. «An den genauen Sprung kann ich mich heute nicht mehr erinnern». Der Fallschirmspringer stürzte acht Meter tief und landete mit dem Rücken auf den Boden.
Es folgten mehrere Reanimationen im Krankenwagen, eine sieben Stunden lange OP, drei Tage Koma, eine Woche Intensivstation, neun Monate Krankenhausaufhalt. Die Diagnose: Querschnittslähmung ab dem dritten Halswirbel, der fünfte und sechste Wirbel vollständig zertrümmert. Lediglich seinen Kopf und den rechten Arm kann der Soldat heute noch bewegen.
«Der Unfall hat mich von hundert auf null gebremst, auf einmal muss man ein anderer Mensch sein», erzählt Wetter. Bis zum Unfall führte er ein Leben unter Vollgas, quälte sich im Sport und nachher in der Bundeswehr oft bis zur eigenen Belastungsgrenze.
«Ich habe immer viel von mir und meinen Untergebenen verlangt», sagt der 36-Jährige rückblickend. Als ihm seine Vorgesetzen die Möglichkeit anboten, auch dienstlich Fallschirm zu springen, sagte er ohne zu zögern zu. «Ich war immer mit Leib und Seele Soldat. Das ist nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung für mich gewesen.»
Schon oft habe er sich seitdem gefragt, ob er noch weiterleben wolle. «Vor allem dann, wenn man vor Schmerzen nicht schlafen kann, wenn nichts mehr funktioniert, wenn spastische Anfälle hinzukommen», sagt Wetter. Ohne seine Familie und Freunde, ist er sich heute ganz sicher, hätte er sicherlich schon längst aufgegeben.
Wetter selbst beschreibt sich als konfessionslos. Bis zu seiner Bundeswehrzeit hatte er nichts mit der Kirche zu tun. Der erste Kontakt zur katholischen Kirche und zum Glauben entstand durch den Militärpfarrer seiner Einheit. Auch nach dem Unglück suchte er weiter das Gespräch mit dem Seelsorger. «Wir haben immer wieder über meine Zukunft geredet, wie mein Leben weitergehen kann», so der Soldat.
2011, neun Monate nach dem Unfall, nahmen ihn seine Kollegen schließlich zum ersten Mal mit nach Lourdes. «Ich war skeptisch, wusste nicht, was da auf mich zukommt. Und ich hatte Angst, ob ich das alles überstehe», sagt der 36-Jährige. Vorher habe er manchmal nur ein paar Stunden in seinem Rollstuhl sitzen können, in Lourdes schaffe er mehr als zwölf Stunden am Stück. «Woher ich die Kraft hier habe ist unbeschreiblich».
An dem Pilgerort habe er noch einmal besonders die Gemeinschaft und den Zusammenhalt unter den Soldaten schätzen gelernt. «Die Anteilnahme, die Kameradschaft, die einem zuteil wird, ist gigantisch», sagt Wetter. Aus diesem Grund wollte er auch in diesem Jahr unbedingt wieder mitfahren.
Seine Lourdes-Erfahrungen will er vor allem an kranke und verwundete Kameraden weitergeben und vielen Mut machen, die Reise zu wagen. «Faszinierend an Lourdes finde ich, dass es etwas gibt, was Menschen unabhängig von Schichten, Alter und Aussehen hier zusammenbringt.»
Für ihn selbst sind die Tage in Lourdes körperlich «tierisch anstrengend, aber ich kann hier einfach den Akku aufladen und komme raus aus meinem Alltag.» Auch Pläne für die Zukunft hat er bereits. «Fortschritte mache ich zwar nur millimeterweiße, aber es geht voran.» Derzeit prüft die Bundeswehr, ob und wie sie den Soldaten in Zukunft einsetzen kann.
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