Zählen Hühner mehr als ungeborene Kinder?

7. Mai 2012 in Kommentar


In den Kirchen wird gegen Schlachthöfe protestiert, aber selten gegen Abtreibung. Von Sebastian Moll / idea


Wetzlar (kath.net/idea) Gutmenschen setzen sich für den Erhalt der Schöpfung ein. Vielleicht nicht unbedingt für Zecken oder Streptokokken, aber doch für flauschige Kaninchen und grüne Bäume. So ähnlich muss auch der hannoversche Landesbischof Ralf Meister gedacht haben, als er im Rahmen des „Ökumenischen Kreuzweges der Schöpfung“ gegen die exzessive Hühnermast protestierte.

Sicherlich stellen viele moderne Tierzuchtmethoden eine Perversion des von Gott geplanten Mensch-Tier-Verhältnisses dar – und es ist gut und richtig, wenn sich die Kirche dagegen ausspricht. Gleichzeitig verwundert es aber doch, warum evangelische Würdenträger beim Erhalt der Schöpfung anscheinend heute oft zuerst an die Tiere denken. Warum traut sich kaum einer von ihnen, beim jährlich stattfindenden „Marsch für das Leben“ in Berlin mit aufzutreten, bei dem der jedes Jahr über 100.000 im Mutterleib getöteten Kinder in Deutschland gedacht wird? Warum war auch bei der gerade zu Ende gegangenen kirchlichen „Woche für das Leben“ kaum noch von Abtreibung die Rede, obwohl man diese Veranstaltungsreihe vor fast 20 Jahren initiiert hatte, um auf dieses Unrecht immer wieder aufmerksam zu machen?

Sind Tiere die besseren Menschen?

Die Volksweisheit, dass Tiere angeblich die besseren Menschen seien, gewinnt auch in akademischen Kreisen mehr und mehr an Zustimmung. Einige Philosophen behaupten mittlerweile sogar, das Überlegenheitsgefühl der Menschen gegenüber den Tieren sei letztlich nichts anderes, als wenn sich Weiße gegenüber Schwarzen oder Männer gegenüber Frauen überheblich zeigten. Mit einem derartigen Vorwurf lässt sich ohne Zweifel Eindruck schinden: Wer möchte schon gern mit Rassisten und Sexisten in eine Ecke gestellt werden?

Der entscheidende Denkfehler

Doch liegt genau in dieser Gleichsetzung der entscheidende Denkfehler: Rassismus und Sexismus sind ja nicht deswegen verwerflich, weil sie auf biologische Unterschiede hinweisen, sondern, weil ihre Schlussfolgerungen falsch sind! Wir empfinden es als sexistisch, wenn Frauen das Recht auf Bildung oder gesellschaftliche Teilnahme vorenthalten wird – aber niemand hält es für verwerflich, wenn wir Männer und Frauen (etwa beim Fußball) in verschiedene Mannschaften stecken, da sich ihre sportliche Leistungsfähigkeit offensichtlich deutlich unterscheidet. Wo also Unterschiede bestehen, ist es auch sinnvoll, sie entsprechend geltend zu machen. Sicherlich verdienen Tiere jenen Respekt, den uns die Ehrfurcht vor allem Leben gebietet. Aber auf die Idee, Tieren das Wahlrecht zuzusprechen, ist (zumindest bisher) zum Glück noch niemand gekommen.

Umwelt – das sind auch die Nachbarn!

Jenseits aller Lächerlichkeiten liegt in solchen Gedanken aber auch eine ernsthafte Gefahr: Wer die Schöpfung nur noch in Form der sogenannten Umwelt wahrnimmt – aber nicht mehr in Gestalt des Menschen –, der verliert den Glauben an seinen Schöpfer! Und letztlich kommt ihm auch der Glaube an sich selbst abhanden. Wäre es daher so abwegig, hier eine der Ursachen für die immer weiter um sich greifende Depression unserer Gesellschaft zu sehen? Auch wenn es manchmal schwerfällt zu glauben: Wir Menschen haben die Verheißung, das Licht der Welt zu sein. Vielleicht sollten wir beim Stichwort Umwelt künftig einfach mal an unsere unmittelbare Umwelt denken: an unsere Nachbarn.

Der Autor, Dr. theol. Sebastian Moll (31), ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchen- und Dogmengeschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Uni Mainz. Sein Buch „Jesus war kein Vegetarier“ hat für viel Wirbel gesorgt.


Foto: © Sebastian Moll (mit freundlicher Erlaubnis)


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