Es gibt etwas Größeres

23. Februar 2011 in Spirituelles


Die bräutliche Beziehung der Seele zu Gott soll im Zölibat, in der völligen Ausrichtung auf Gott, jetzt schon gelebt werden – Ein bemerkenswertes Zeugnis über den Zölibat von Pfarrer Richard Kocher, Programmdirektor von Radio Horeb


Balderschwang (kath.net/Radio Horeb) „Das erste, was sich mir spontan aufdrängt, wenn ich das 'Sch’ma Israel' höre, ist die Frage: Wie kann da, wenn man versucht, dieses erste und fundamentale Gebot zu leben, noch eine andere Liebe bestehen? Immer soll man an die Liebe zu Gott denken.“ Eine bemerkenswerte Predigt über den Zölibat hielt Pfarrer Dr. Richard Kocher beim Gottesdienst in der Kapelle „St. Canisius“ in Balderschwang am 27. Januar 2011, die auch auf Radio Horeb übertragen wurde.

Die Predigt im Wortlaut:

Liebe Zuhörer unseres Radios, liebe Brüder und Schwestern im Herrn,
im Zusammenhang mit den Missbrauchsskandalen wurde von einigen die These vertreten, dass die Priester ihre verdrängte Sexualität an den Kindern auslassen würden.

Auch wenn das so nicht haltbar ist, so wurde doch auf jeden Fall über den Zölibat diskutiert. Sie haben mitbekommen, dass sechs CDU-Politiker, darunter auch ehemalige Ministerpräsidenten, dieses Thema wieder auf das Tablett gebracht haben. Deshalb gehe ich heute auch darauf ein.

Es bewegt immer wieder die Menschen, die Medien; es wird darüber diskutiert. Ich kann natürlich an dieser Stelle dieses schwierige und komplexe Thema nicht umfassend abhandeln. Es sind einige persönliche Beobachtungen, Dinge, die ich aus meiner Erfahrung, aus meinem Leben einbringen möchte. Ich versuche Fragmente einer Antwort zu geben.

Es mag Menschen geben, die despektierlich auf den Priester schauen und denken: So ein armer Kerl, der ist ja nur ein halber Mensch, ein „Dauerverdränger“, verdammt zu einer freudlosen Existenz. Ihm fehlt das Wesentliche. Das ist das eine.

Mir sind eher die anderen begegnet, die Ehrfurcht und Respekt hatten für eine glaubwürdig praktizierte Lebensform. Ich erinnere mich an jemand, der am Tag soviel verdient hat, wie Sie vielleicht im Monat und sogar noch mehr. Er hat nie eine Honorarforderung an mich gestellt, nur aus dem Grund, weil er mich näher kennen lernen wollte, um herauszubekommen, was mich bewegt, so zu leben. Die Sexualität war für ihn ein Höchstwert und er konnte es kaum nachvollziehen, dass ihm in mir jemand begegnet, der zufrieden, glücklich ist, ein gelungenes Leben führt, obwohl ihm „das Eine“ abgeht.

Jeden Samstag betet der Priester beim Stundengebet das „Sch’ma Israel“, das „Höre, Israel“, welches die gläubigen Juden bis heute täglich beten: „Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst“ (Dtn 6, 4-7).

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn, das erste, was sich mir spontan aufdrängt, wenn ich das höre, ist die Frage: Wie kann da, wenn man versucht, dieses erste und fundamentale Gebot zu leben, noch eine andere Liebe bestehen? Kein Bereich des Lebens bleibt ausgespart. Immer soll man an die Liebe zu Gott denken. Es soll am Morgen der erste und abends der letzte Gedanke sein.

Das ist ein unglaublicher Anspruch! Das Leben gibt uns einige Anschauungsbeispiele, wie man sich das praktisch vorstellen soll: Denken Sie nur an Menschen, die auf die Vermehrung ihres Vermögens aus sind, von der Habgier getrieben sind. Der erste Gedanke beim Aufwachen gilt dem Geschäft und der Vermehrung des Wohlstands. Es ist auch der letzte am Abend. „Wie kann ich Geld verdienen?“, das treibt ihn um. Es erinnert mich an Dagobert Duck, der manchmal in den Comics von Walt Disney mit Dollarzeichen in den Augen zu sehen war. Er sieht nur durch diese Brille in die Welt. Die Geschäfte gehen ihm so nach, dass er deshalb manchmal nicht einschlafen kann.

Spitzensportler berichten, dass sie wie besessen sind – das Wort „besessen“ meint auch „besetzt sein“, völlig von einer Sache in Anspruch genommen – von dem Gedanken, unbedingt, unter allen Umständen gewinnen zu müssen.

Wenn jemand verliebt ist, dann kann er nur mehr daran denken. Er sieht die Welt durch eine rosarote Brille. Das ist uns bekannt, das kommt in unserem Leben vor, dass man ganz und gar von etwas in Beschlag genommen ist.

So sollte es mit unserer Beziehung zu Gott sein, dass wir ganz und gar von ihm erfüllt sind. Sie spüren, dass wir da oft recht weit weg sind, dass uns andere Dinge viel wichtiger sind. Natürlich will ich nicht alle in den Zölibat überführen. Es gibt ja auch noch das Gebot des Herrn, dass wir fruchtbar sein und uns vermehren sollen (vgl. Gen 1,28). Und die eheliche Vereinigung ist auch ein Zeichen für die Liebe des Herrn zu seiner Kirche (vgl. Eph 5,32).

Warum hat das erste Gebot nicht schon im Alten Testament zu einer zölibatären Lebensweise geführt? Nun, wenn das Fortleben nach dem Tod nicht feststeht, wenn das noch unsicher ist, dann ist natürlich die ganze Hoffnung auf die irdische Existenz gesetzt. Zum anderen ist Abraham der Stammvater des Glaubens. In der Verheißung, die Gott ihm gibt, geht es um Land und Nachkommenschaft. Der Messias wird aus seinem Geschlecht hervorgehen. Dann hat die Sexualität, die Fortpflanzung nochmals einen ganz anderen Stellenwert.

In unserer Zeit ist die Verheißung an Abraham erfüllt. Das Land Israel wurde von Gott geschenkt, wie auch der Nachkomme, der letztlich unser Herr Jesus Christus ist. Deshalb kann das erste Gebot, auch durch die Weisung des Herrn, eine neue Zeichenhaftigkeit und Ausdruckfähigkeit bekommen.

Im Streitgespräch mit den Sadduzäern sagt der Herr, dass wir in der Ewigkeit nicht mehr heiraten und wie die Engel sein werden (vgl. Mt 22,30). In der künftigen Welt wird nicht geheiratet. Wir werden nicht beziehungslos sein, aber wir werden keine Vereinigung mit einem Menschen anderen Geschlechts mehr eingehen.

Gott wird alles in allem sein. Der Mensch, die menschliche Seele, wird völlige Erfüllung in Gott finden. Deshalb hat jede Seele, ob Mann oder Frau, bräutlichen Charakter; das heißt, sie hat eine Offenheit, eine Empfangbarkeit auf Gott hin. Er wird sie mit seinem Frieden, seinem Licht, seiner Freude und seiner Gegenwart erfüllen. Im Neuen Testament wird das an einigen Stellen im Bild von Christus als dem Bräutigam der Kirche ausgedrückt. Die Kirche besteht ja aus lauter einzelnen Personen, sie besteht aus uns.

Die bräutliche Beziehung des einzelnen, der Seele zu Gott, soll in der zölibatären Lebensweise, in der völligen Ausrichtung auf Gott, jetzt schon vorweggenommen und gelebt werden.

Dafür soll das Leben des Priesters ein Zeichen sein. Und es ist ein starkes Zeichen. „Gott allein genügt“, hat die Heilige Theresa von Avila gesagt.

Das Erfülltsein durch Gott, die Freude und der Friede im Heiligen Geist, sollen sich dann natürlich auch im Leben des zölibatär Lebenden widerspiegeln. Wenn es dann solche gibt, die gefrustet sind in ihrem Zölibat und die es ganz schön fänden, mit einem Partner durchs Leben zu gehen, dann ist natürlich diese Existenzweise verfehlt. Im Französischen gibt es den Ausdruck „vieux garçon“, „alter Knabe“. Damit ist jemand gemeint, der schrullig und eigen geworden ist, dem das Alleinsein nicht gut getan hat. Er hat seinem Leben eine eigene, manchmal seltsame Ausprägung gegeben. Im Deutschen kennen wir den Ausdruck von der „alten Jungfer“, die streitsüchtig ist, unzufrieden mit sich und der Welt, weil sich niemand für sie interessiert hat. Sie hat keinen Mann bekommen; das hat sie nicht verarbeitet. Es gibt diese Ausdrücke, die belegen, dass das Nicht-Verheiratetsein einem Menschen nicht bekommen hat.

Das kann auch im Leben eines Priesters vorkommen. Wenn so jemand nach reichlicher Prüfung feststellt, dass er zwar ein Versprechen abgelegt hat, es aber nicht mehr sinnvoll leben und halten kann, dann sollte die Kirche großzügig sein. Das ist meine persönliche Meinung.

Wir sollen den Frieden, die Freude, die wir vom Herrn empfangen, auch ausstrahlen. Dann hat diese Lebensform eine enorme Strahlkraft. So wie Paulus es schreibt, als er im Gefängnis sitzt: „Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4). Oder im ersten Petrusbrief: „Ihr … jubelt in unsagbarer, von himmlischer Herrlichkeit verklärter Freude …“ (1 Petr 1,8). Das heißt nicht, dass man ständig Halleluja singend durch die Gegend laufen muss, aber der Grundakkord der Freude sollte immer mitschwingen. Das Erlöstsein sollte man gerade dem ehelos Lebenden anmerken.

Was geschieht in einer glaubensschwachen Zeit, die wir zweifellos durchleben, in der viele sich vom Evangelium abwenden? Das Jenseits hört auf, zu existieren, die Sinnhaftigkeit wird im Diesseits gesucht. Damit wird auch der Verweis auf die Ewigkeit durch den Zölibat sinnlos. Das Kommende gibt es nicht und so wird der Zölibat zum Ärgernis und Anstoß.

Sexualität ist nicht ein Letztwert

Deshalb geht es gar nicht so sehr darum, den vom Zwangszölibat geknechteten Priester zu befreien, sondern man möchte sich diesen „Stachel im Fleisch“ ziehen. Aus vielen Umfragen wissen wir, dass die Sexualität für viele Menschen ein Höchstwert, ein Letztwert ist. Da muss man vom Evangelium her sagen: Das stimmt nicht. Der letzte Wert ist das Reich Gottes. Ein letzter Wert ist die Nachfolge des Herrn, das Ja zu seinem Willen. Ein letzter Wert ist das, was in der Ewigkeit auf uns zukommt, die ewige Seligkeit.

Von daher relativieren sich auch Ehe und Familie. Christus hat sich die Freiheit herausgenommen, Simon Petrus aus seiner Ehe herauszurufen. Er war verheiratet. Petrus sagt: „Du weißt, wir haben alles verlassen“. Das heißt, auch Ehe und Familie. Ob er Kinder hatte, wissen wir nicht. „Was werden wir dafür bekommen?“ „Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen“ (Mk 10,29).

Christus sagt ausdrücklich: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37). Es geht um eine völlige Vorordnung der Liebe zu Gott vor jedem anderen Wert, so groß er auch sein mag. Gott sei Dank ist die Zeit vorbei, in der wir Ehe und Sexualität schlecht geredet haben in der Kirche. Das hat es phasenweise auch gegeben. Aber das ändert nichts daran, dass das Reich Gottes der erste Wert ist und dass ihm nichts anderes vorgezogen werden darf.

Vielleicht sollten wir vor diesem Hintergrund das erste Gebot meditieren: „Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte“, heißt es dort. Es ist eine Verpflichtung in der einen oder anderen Weise. „Du sollst sie auf dein Herz schreiben“, wie mit einem Diamantgriffel auf die Innenseite deines Herzens eingravieren. „Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen.“ Weil das so wichtig ist, sollst nicht nur du das so leben, sondern es auch deinen Söhnen weitergeben. Unser ganzes Leben soll davon geprägt sein.

Der dänische Religionsphilosoph Søren Kierkegaard hat einmal gesagt: „Niemand wird so sehr gehasst wie jemand, der anders lebt, der sich nicht in dem Bereich aufhält, wo andere Menschen sich natürlicherweise aufhalten.“ Da ist schon etwas dran.

Der Zölibat ist für viele eine Infragestellung ihrer Werte, ihrer Hierarchien in den Werten. Was für sie ein Letztwert ist, ist es für den Priester nicht. Es gibt etwas Größeres und darauf ist die zölibatäre Lebensweise ein Hinweis, ein Zeichen. Ein Zeichen, das verstanden und gelebt werden soll, aber natürlich auch ein Zeichen, dem widersprochen wird.

Papst Johannes XXIII., der große Konzilspapst, hat einmal gesagt: „Ich könnte den Zölibat streichen. Ich habe die Macht dazu.“ Er war der Papst. Und der Zölibat ist kein göttliches Gebot. Die Kirche unterscheidet zwischen göttlichen Geboten und Geboten der Kirche. Göttliche Gebote kann niemand außer Kraft setzen – auch der Papst nicht.

Was Christus angeordnet hat, ist für die Kirche verbindlich. Wir stehen unter dem Wort. Das müsste man vielleicht auch unseren evangelischen Geschwistern noch deutlicher sagen, die oft meinen, der Papst hätte eine unumschränkte Vollmacht. Das ist nicht richtig.

Es handelt sich hier um einen Rat des Herrn, keine göttliche Anordnung. Insofern kann der Papst die Verpflichtung zum Zölibat mit einem Federstrich beseitigen. Nachdenklich fügte Papst Johannes XXIII. nach einer längeren Pause hinzu: „Ich kann es nicht.“ Offensichtlich darf er es nicht, weil er es irgendwie spürt, dass es vom Herrn so gewollt ist, wie es ist. Amen.

Die Predigt als Audiodatei: www.horeb.org

Foto: (c) Radio Horeb



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