Zölibat: Ein Lebensbekenntnis, das provoziert

7. Februar 2011 in Aktuelles


Ohne den Glauben an Gott und das Ewige Leben ist die priesterliche Ehelosigkeit nicht zu verstehen – Die Aggression, mit der bisweilen gegen den Zölibat gekämpft wird, lässt tief blicken. Von Manfred Lütz / Die Tagespost


München (kath.net/DieTagespost)Der Zölibat ist eine Provokation. In einer Welt, die nicht mehr recht an ein Leben nach dem Tod glaubt, ist diese Lebensform der ständige Protest gegen die allgemeine Oberflächlichkeit.

Der Zölibat ist die ständige gelebte Botschaft, dass das Diesseits mit seinen Freuden und Leiden nicht alles ist. Es gibt Menschen, die so etwas wütend macht. Denn da wird das eigene Lebenskonzept massiv in Frage gestellt. Nicht bloß durch einen Text oder ein dahingeworfenes Gespräch, sondern durch eine unübersehbare Lebensentscheidung. Der Zölibat ist kein Lippenbekenntnis, sondern ein Lebensbekenntnis. Zweifellos, wenn mit dem Tod alles aus wäre, dann wäre der Zölibat eine Idiotie. Warum auf die intime Liebe einer Frau verzichten, warum auf die anrührende Begegnung mit den eigenen Kindern, warum auf beglückend gelebte Sexualität? Warum soll man sich selbst der körperlichen Fruchtbarkeit in diesem Leben berauben? Nur wenn das irdische Leben ein Fragment ist, das in der Ewigkeit seine Vollendung finden soll, dann kann diese Lebensform ein helles Licht auf dieses noch ausstehende Leben werfen, dann kündet sie laut von einem Leben in Fülle, das die Sehnsucht der Menschen aller Zeiten erahnt hat, dessen Wirklichkeit aber erst durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und besonders seinen Tod und seine wunderbare Auferstehung allen Menschen offenbar geworden ist. Für unsere Gesellschaft wirkt der Zölibat geradezu wie ein „Stachel im Fleisch“, der immer wieder gelegen oder ungelegen daran erinnert, dass die aufdringlichen Sorgen und Probleme des irdischen Lebens nicht alles sind.

Der Zölibat ist eine unbürgerliche Lebensform, die die scheinbar in sich ruhende bürgerliche Ordnung humorvoll relativiert. Gegner des Zölibats regen nicht selten an, die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen sei ja in einem Kloster weit ab von der Welt nicht zu beanstanden. Aber in den Pfarrgemeinden, in der „Welt“, da solle man „viri probati“ (bewährte verheiratete Männer) als Priester fungieren lassen. Es sind oft die gleichen Menschen, die alle Unterschiede zwischen Profanem und Sakralem fallen lassen möchten, auch den Unterschied zwischen Klerus und Laien, zwischen weltlichen und kirchlichen Themen. Natürlich ist der Glaube daran, dass Gott Mensch geworden ist, ein massiver Einbruch der Sakralität in die Profanität. Die frühen Christen merkten sehr deutlich, dass die alten heidnischen Begriffe von sakral und profan nicht einfach auf das Christentum übertragen werden konnten. Es gab keine schroffe Trennung mehr. Der dreieinige Gott hatte in Jesus Christus auch die ganze Welt an sich gezogen. Doch damit war die Welt nicht vernichtet, der Mensch vor dem ewigen Gott nicht verbrannt, die Zeit nicht in Ewigkeit aufgelöst. Neu spürten die Christen, dass Christentum ein „Unterschied war, der einen Unterschied machte“, wie man in der systemischen Therapie heute sagen würde. Christen machten sich nicht gemein mit der Welt, sie fühlten sich als ecclesia, das heißt ja: herausgerufen aus dem alltäglichen Einerlei. Aber gerade so wirkten sie ohne Berührungsängste in diese Welt hinein.

Abwegig laienhafte psychologische Argumente

Dieser Unterschied, der einen Unterschied machte, drohte aber nach der konstantinischen Wende in Gefahr zu geraten. Plötzlich war Christsein nicht an sich schon provozierend. Plötzlich wurden die leitenden Stellen im Reich mit Christen besetzt. Christsein war, weltlich gesprochen, kein Nachteil mehr, sondern ein Vorteil. Prokopius beschreibt, wie die reich geschmückte Lebedame neben der hageren Bekennergestalt im Gottesdienst steht. Das war auch ein psychologisches Problem. Das Christentum drohte spirituell zu versanden. Und gerade in dieser Zeit begann der Zölibat seinen Siegeszug anzutreten. Wir wissen heute, dass der Zölibat schon apostolische Wurzeln hatte, doch nun wurde er zum geistlichen Rettungsanker einer von Kaiser und Reich geförderten Kirche. In Ägypten waren die Menschen hinaus in die Wüste zu den Mönchen geströmt, um sich im luxuriösen Einerlei des städtischen Lebens wieder tiefer anregen zu lassen. Und als Gemeindeleiter wollte man bald allenthalben zölibatäre Männer. Die Hochschätzung dieser Lebensform zieht sich dann durch die ganze Kirchengeschichte. Die Synode von Elvira im Jahr 305, die gregorianische Reform des 11. Jahrhunderts und die Reformen nach dem Konzil von Trient – sie alle mühten sich darum, den Zölibat wieder zum Leuchten zu bringen. Umgekehrt geriet in Zeiten kirchlicher Schwäche auch der Zölibat in die Krise. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es im heutigen Erzbistum Freiburg eine „Antizölibatsbewegung“ unterstützt von 156 Priestern. Als es dann unerwartet zum Wiederaufstieg der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert kam, erledigte sich die Antizölibatskampagne von selbst. Auch in der Krise nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war es erneut der Zölibat, der in die Schusslinie geriet. Doch gerade in den neu aufblühenden geistlichen Bewegungen erfreut er sich wieder großer Wertschätzung. Dabei ist es psychologisch sehr hilfreich, dass die Priester in lebendigem Kontakt mit engagierten Laien stehen und aus dieser „Normalität“ immer wieder neue vitale Impulse erhalten, aber auch wissen, im Gebet mitgetragen zu werden. Der Unterschied zwischen Priestern und Laien, aber auch der wechselseitige Dienst füreinander können so besonders intensiv gelebt werden.

Der Urvater der modernen Psychologie, Sigmund Freud, kein Freund der Kirche und des Christentums, hat merkwürdigerweise der frühchristlichen Zölibatsbewegung gewisse positive Aspekte abgewinnen können: „In Zeiten, in denen die Liebesbefriedigung keine Schwierigkeiten fand, wie etwa während des Niedergangs der antiken Kulturen, wurde die Liebe wertlos, das Leben leer, und es bedurfte starker Reaktionsbildungen, um die unentbehrlichen Affektwerte wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass die asketische Strömung des Christentums für die Liebe psychische Werte geschaffen hat, die ihr das heidnische Altertum nie verleihen konnte.“

Demgegenüber wurden bei der Zölibatsdiskussion der vergangenen Jahrzehnte immer wieder abwegige laienhafte psychologische Argumente bemüht. So hörte man von weniger erleuchteten Zeitgenossen, auf Sexualität zu „verzichten“ sei doch nicht natürlich. Dem liegt ein völlig abwegiger Naturbegriff zugrunde. Denn was soll das eigentlich heißen? War Mahatma Gandhi unnatürlich, der immerhin ein dem Zölibat entsprechendes Gelübde abgelegt hat? Ist der Dalai Lama unnatürlich? Sind all die Menschen unnatürlich, die mit Absicht oder weil es sich irgendwie so ergeben hat, ehelos leben? Bei den Griechen meinte „die Natur des Menschen“ das Wesen jedes Menschen. Damit wurde der Weg bereitet für die Einsicht in die jedem Menschen als Menschen zukommende Würde, die sich erst durch die monotheistischen Religionen allgemein durchsetzte.

Das, was jedem Menschen von Natur aus zukommt, ist also vor allem die Menschenwürde. Nie wären die Griechen auf der Höhe ihres Denkens auf den Gedanken verfallen, die Natur sei in diesem Sinne nur der körperliche Aspekt des Menschen. Solche naturalistischen Verengungen drängen sich erst viel später in den Vordergrund und sie enden, wie wir alle wissen, konsequent in den rassistischen Definitionen des Menschen, die den eigentlichen Menschen nur in einer ganz bestimmten Rasse verwirklicht sahen. Der Rassebegriff das Nationalsozialismus hatte die praktische Folge, dass die Fortpflanzung dieser Rasse hohe Priorität hatte. Mütter wurden öffentlich für viele Kinder prämiert. Da ist es kein Wunder, dass die Nationalsozialisten im Rahmen ihres konsequenten Kampfes gegen die katholische Kirche den Zölibat als „unnatürlich“ diskriminierten und versuchten in den sogenannten Sittlichkeitsprozessen 1936/37, Priester und Ordensleute als homosexuell oder anderweitig sexuell fehlgeleitet öffentlich zu diskreditieren.

„Sex muss sein“: Die Macho-Version der Zölibatskritik

So kann man sehen, dass der Naturbegriff in der Neuzeit vielfältig ideologisch missbraucht worden ist. „Unnatürlich“ war ein Schlachtruf totalitärer Diktaturen gegen Religion und alles, was damit einherging.

Leider kann man nicht sagen, dass diese geistige Tradition des Vorwurfs „Unnatürlich!“ heute nicht weiterlebt. Das Wort des Schriftstellers Bertold Brecht aus dem Jahr 1955, „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, hat unverminderte Aktualität. Selbstverständlich redet niemand mehr von Rasse, doch der heidnische Körperkult feiert inzwischen wieder fröhliche Urständ. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, über die Gesund- und Fiterhaltung des menschlichen Körpers wollen die Menschen sich so etwas wie ewiges Leben sichern. Der Körper wird zum Symbol der Selbstinszenierung in einer immer narzisstischer werdenden Gesellschaft. Die sexuelle Attraktivität wird dabei zum entscheidenden Kriterium für den eigenen Marktwert. Die sexuelle Beziehung selbst ist dabei von untergeordneter Bedeutung, sie scheitert, wenn der Partner nicht mehr die Bewunderung aufbringt, die das eigene Ego braucht. So produziert der neue Körperkult zwar flächendeckendes millionenfaches Unglück, denn das ganze Projekt muss schon an der banalen Tatsache scheitern, dass jeder Mensch altert. Doch gerade weil der Mensch diese Schattenseite seines emsigen, aber sinnlosen Bemühens verdrängt, ist eine Lebensform wie der Zölibat, der die absurden Dogmen des allgemeinen Körperwahnsinns konsequent konterkariert, eine besondere Provokation.

So greift man, ohne das wirklich zu wissen, auf den alten Trick der Nazis zurück und diskriminiert den Zölibat als „unnatürlich“, was einschließt, dass man sich selbst mit seinen ständig wechselnden, stets unbefriedigenden sexuellen Beziehungen dadurch indirekt für total „natürlich“ erklärt. So ist der aggressive Angriff auf den Zölibat mit dem Kampfbegriff „unnatürlich“ geeignet, die neurotische Unzufriedenheit mit dem eigenen Lebensentwurf auszuagieren. Im Grunde könnte es einem gesunden, in sich ruhenden Menschen völlig egal sein, ob da andere Menschen freiwillig, oder durch Krankheiten oder ähnliches gezwungen, auf Sexualität verzichten. Das wäre doch eigentlich deren Sache. Die massive Aggression, mit der solche Anwürfe bisweilen vorgetragen werden, sind psychologisch aber ein Hinweis darauf, dass der Aggressor selbst irgendein Problem mit dem konkreten Leben seiner Sexualität haben könnte, das er sich nur nicht eingestehen will.

Es gibt aber auch die ganz unneurotische Variante des Vorwurfs von der „Unnatürlichkeit“ des Zölibats. Das ist die „Macho-Version“. Da gibt es Männer, die mit dem Ruf „Sex muss sein!“ auf die Damenwelt losstürzen. Solche ewig unerwachsenen „Herren der Schöpfung“ bestehen darauf, dass, wenn bei ihnen der „natürliche“ Trieb kommt, die Frau zur Verfügung zu stehen hat. Alles andere halten sie für völlig „unnatürlich“. Es ist das Verdienst der internationalen Frauenbewegung, dass „Vergewaltigung in der Ehe“ inzwischen in vielen Ländern der Erde ein Straftatbestand ist. Frauen mit der Begründung, die eigene Natur treibe einen jetzt dazu, zum Sex zu zwingen, verletzt die Würde der Frau und ihre sexuelle Selbstbestimmung. Daher sage ich als Psychotherapeut: „Wer nicht auf Sexualität verzichten kann, ist nicht ehefähig“. Wenn die Frau – oder der Mann – nicht will oder wegen einer Krankheit oder anderem nicht kann, dann muss ein reifer Ehepartner in der Lage sein, zeitweilig auf Sexualität zu verzichten. So etwas können unreife Machos nur schwer.

Menschliche Sexualität funktioniert eben nicht wie ein Dampfdruckkessel, bei dem einfach mithilfe einer Frau sexueller Dampf abgelassen werden kann. Solche unreifen und menschenverachtenden Missverständnisse der Sexualität, die die Frau nur noch als Objekt der eigenen Triebbefriedigung zu sehen vermögen, spielen bei der Zölibatskritik eine große Rolle. Erwachsene Sexualität ist nie bloß urwüchsig „natürlich“. Die Natur des Menschen ist immer schon human kultiviert. In einer reifen Ehe achten die Partner auch auf die Bedürfnisse des andern. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum zeitweilig oder dauerhaft auch in einer Ehe das Ausleben genitaler Sexualität nicht möglich ist, sei es eine zeitweilige Erkrankung, sei es eine dauerhafte Behinderung. Doch eine wirklich tiefe Partnerschaft wird dadurch nicht zerstört, sondern bisweilen sogar bereichert.

Wenn das geistliche Leben vertrocknet, droht die Krise

Unnatürlich wird das Zölibatsleben nur dann, wenn das Alleinsein zum abgeschlossenen Egoismus wird oder zur narzisstischen Selbstinszenierung. Vor solcher der Natur des Menschen widersprechenden „incurvatio in seipsum“ ist aber auch der Verheiratete nicht gefeit. So sollte auch die Befassung mit dem Zölibat sich nicht bloß auf die Fragen der genitalen Sexualität konzentrieren, sondern man sollte den Zölibat als eine bestimmte Beziehungsform sehen, die eine tiefe Beziehung mit Gott mit einer guten Beziehung zu den dem Priester anvertrauten Menschen verbindet.

Die Psychoanalytikerin Eva Jäggi hat in ihrem Buch über das „Single-Dasein“ den selbstbewusst allein lebenden Menschen als besonders wichtig auch für alle in Partnerschaft lebenden Menschen bezeichnet, da er auch diesen Menschen deutlich mache, dass sie nicht bloß Funktion einer Beziehung sind, sondern einen eigenen Wert haben. Bei aus welchen Gründen auch immer endenden Beziehungen ist nicht selten für den allein gelassenen Menschen die Einsamkeit besonders bedrückend. Dann zu wissen, dass es Menschen gibt, die diesen Zustand freiwillig gewählt haben, gibt in solchen Situationen Kraft und macht Mut. Im übrigen wirkte sich auch historisch die Hochschätzung der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen für Frauen emanzipatorisch aus, denn sie konnten so einen eigenen Weg gehen, waren nicht mehr bloß gesellschaftlich anerkannt, wenn sie sich als Frau einem Ehemann unterordneten.

Als ich für die Päpstliche Akademie für das Leben 2003 einen Kongress im Vatikan über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester und Ordensleute organisierte, kam es zu berührenden Erlebnissen. Die eingeladenen international bedeutenden Fachleute waren durchweg nicht katholisch. Als bei der Frage der Risikoabschätzung das Kriterium „Intimitätsdefizite“ auftauchte, kam aus dem Publikum die Frage auf, ob nicht dann der Zölibat ein Problem sei. Da meldete sich Bill Marshall, einer der weltweit bedeutendsten Tätertherapeuten, bekennender Atheist mit viel Sympathie für die Kirche: Das sei ein Missverständnis. Er gehe davon aus, dass ein katholischer Priester eine intime Beziehung zu Gott habe. Und als ein in der Priestertherapie erfahrener katholischer Therapeut anmerkte, um den Zölibat zu leben, müsse man den Priesterkandidaten mehr über Sexualität beibringen, meldete sich der international wohl bedeutendste Fachmann für Risikoabschätzung, Karl Hanson aus Kanada: Er glaube, um den Zölibat zu leben, müsse man eher seine Spiritualität vertiefen.

Aus meiner therapeutischen Erfahrung kann ich nur bestätigen, dass das Vertrocknen des geistlichen Lebens oft der „Zölibatskrise“ vorangeht. Wenn ein Priester nicht mehr regelmäßig betet, wenn er selbst nicht mehr beichtet, wenn er also keine vitale Beziehung zu Gott mehr hat, dann ist er als Priester nicht mehr fruchtbar. Denn die Menschen merken, dass von diesem Mann Gottes keine Kraft das Geistes Gottes mehr ausgeht. Das allein schon führt zusätzlich beim betroffenen Priester zu Frustration und Unzufriedenheit mit dem Priesterberuf. Wenn sich dann in einer solchen Situation eine Außenbeziehung anbietet, dann ist der Priester höchst gefährdet, die ohnehin schon morschen Dämme einreißen zu lassen. Umgekehrt aber ist ein vitaler Priester, der seinen Glauben überzeugend lebt und vorlebt, ein fruchtbarer Seelsorger, der so auch die Freude an der Seelsorge erleben kann. Wichtig ist für Priester auch das Beichtehören, das einen existenziellen Kontakt mit Menschen bedeutet. Der Zölibat macht den Priester frei für intensive seelsorgliche Kontakte. Aber diese Freiheit für die Menschen muss der Priester dann auch nutzen. Ein Zölibat bloß für den Schreibtisch oder ein Funktionärsleben, der die Beziehungsebene vernachlässigt, ist psychologisch schwerer lebbar.

Mehr Lebenserfahrung als mancher Verheiratete

Ein eifriger Seelsorger hat sogar mehr Lebenserfahrung als mancher Verheiratete. Es stimmt nicht, was man manchmal hören kann, dass ein verheirateter Seelsorger Eheleute besser begleiten könnte. Ein verheirateter Seelsorger oder Therapeut läuft immer Gefahr, die Erfahrungen seiner eigenen Ehe unbewusst im vorliegenden Fall wiederzuerleben und auszuagieren. Daher braucht er in der Regel Supervision, um so etwas zu vermeiden. Dagegen hat ein guter Seelsorger reiche existenzielle Erfahrung mit ganz vielen Ehen. Und daraus kann er dann schöpfen für gewisse schwierige Fälle. Das erklärt die frappante Fruchtbarkeit der Schriften des Seelsorgspapstes Johannes Pauls II. über die Ehe.

Darüber hinaus sind auch ganz normale Freundschaften wichtig, um geerdet zu bleiben. Der Zölibat soll kein Einsiedlertum bewirken. Der heilige Augustinus hat es für empfehlenswert gehalten, wenn zölibatäre Priester gemeinsam in einem Haus leben. Das wird heute vielerorts wieder aufgegriffen. Eine solche Hausgemeinschaft, die auch eine geistliche Gemeinschaft ist, ermöglicht besser die notwendige correctio fraterna, die wohlmeinende Kritik, die auch in einer Ehe dafür sorgt, dass man nicht abhebt. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Zölibat nicht wirklich Einsamkeit bedeutet, sondern Freisein für Menschen und für eine besondere Aufgabe. Gewiss, einem Priester sind für seine Vitalität manche Betätigungsfelder versagt. Er wird keine Fertigkeiten entwickeln, bei kleinen Kindern die Windeln zu wechseln, die Unberechenbarkeiten pubertärer Sprösslinge zu bewältigen und die Intensität der Zuwendung zu zeigen, die eine Ehe prägt. Daher ist es wichtig, dass er seine Vitalität auf geistigem Gebiet fruchtbar werden lässt. Früher war oft der Pfarrer der einzige Akademiker weit und breit. Seine Bildung strahlte in sein unmittelbares Umfeld aus. Priester, die ein geistig angeregtes Leben führen, sich nach Möglichkeit für Kunst und Kultur öffnen und sich niveauvoll an den geistigen Debatten der Zeit beteiligen, können den Zölibat auch als Quelle besonderer geistiger Regsamkeit erleben. So ist der Zölibat freilich nichts für schwache und blasse Charaktere. Vor allem aber ist er nichts für Narzissten, die sich psychisch nur um sich selbst drehen und für sich selbst interessieren. Nicht eventuelle sexuelle Abnormitäten sind das häufigste Problem bei der Auswahl neuer Priester, sondern der Narzissmus. Denn der Priesterberuf ist für Narzissten eine fast unwiderstehliche Versuchung. Mit feierlichen Gewändern bekleidet anderen Menschen Predigten zu halten, denen nicht widersprochen wird, das ist für den Narzissten geradezu die Erfüllung aller Sehnsüchte. Doch echte Befriedigung bleibt wie bei allen süchtigen Bedürfnissen aus. Ein Priester aber muss geradezu eine gegenteilige Mentalität haben. Er muss sich vor allem für andere Menschen und ihre Nöte interessieren und hinter dem Glanz der eigenen Worte den Glanz Gottes sichtbar machen und nicht die eigene spärliche Beleuchtung.

Um solche Eigenarten zu erkennen ist besser als alle psychologischen Tests die sorgfältige Beobachtung im Seminar. Kann sich ein Priesterkandidat in andere Menschen einfühlen? Nimmt er mit einer gewissen Herzenswärme Anteil am Leben und Leiden anderer? Oder kreist er nur um sich selbst und benutzt andere manipulativ zum eigenen Vorteil? Und zeigt er sich bei Kritik übertrieben verletzt, vielleicht sogar mit eruptiver maßloser „narzisstischer Wut“?

Schließlich sei noch eine soziologische Überlegung hinzugefügt, aus der einschneidende psychologische Probleme entstehen. Das Projekt der Lebensabschnittspartnerschaften hat inzwischen in Mitteleuropa dazu geführt, dass es immer mehr sogenannte Singles gibt. Der höchste „Marktwert“ besteht zwischen 18 und 29, danach bemüht man sich, noch eine gewisse künstliche Jugendlichkeit an den Tag zu legen. Und schließlich bleibt man nach zahlreichen gescheiterten Beziehungen allein und vom Leben enttäuscht zurück. Auf diese Weise produziert unsere Wellnessgesellschaft wohl gewiss kein Glück. Allerdings muss man sich nicht einbilden, dass früher da alles anders gewesen sei. Die Ehe hat eigentlich nur in den vergangenen hundert Jahren Hochkonjunktur gehabt. Vor 250 Jahren waren nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung verheiratet, da man nur heiraten konnte, wenn die entsprechenden ökonomischen Voraussetzungen gegeben waren. Lehrer und Lehrerinnen waren zumeist unverheiratet, Offiziere auch. So war der Zölibat damals keineswegs so fremd wie in einer maximal verheirateten Gesellschaft. Heute nähert sich die Situation wieder früheren Verhältnissen. Nur dass die Singles früher intensiv am Gemeindeleben teilnahmen. Demgegenüber ist das Problem der heute einsam in kleinen Stadtwohnungen vor sich hinlebenden Singles inzwischen erkannt. Es geht um eine sinnvolle Kultur des Singledaseins. Und da greift man wohl mal gerne auf die guten Erfahrungen zurück, die Zölibatäre in Jahrhunderten mit dem ehelosen Leben um des Himmelreiches willen gemacht haben. Auch die Benediktsregel ist für jeden geistig wachen Psychotherapeuten eine Schatzkammer kluger Hinweise dafür, wie das Alleinsein des Mönches mit dem In-Gemeinschaft-Sein in Ausgleich gebracht werden kann.

Die Singlegesellschaft und der Respekt vor dem Zölibat

So ist Respekt für den Zölibat in einer versingleten Gesellschaft geradezu ein Zeichen für die Humanität und Liberalität dieser Gesellschaft. Mahatma Gandhi, der selbst ein „Zölibatsgelübde“ abgelegt und bis ans Ende seines Lebens ehelos und ganz seiner Sendung gelebt hat, hat gesagt, eine Gesellschaft, die solche Männer nicht habe, sei eine arme Gesellschaft. Der Zölibat bedeutet nach wie vor für psychisch gesunde Männer die Chance auf ein geistlich aufregendes Leben voll geistiger Fruchtbarkeit. Und für die Kirche ein kostbares Geschenk Gottes an sie – um das wir freilich immer wieder beten müssen.

Manfred Lütz, Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln, ist Psychiater und Theologe sowie Autor zahlreicher Bestseller.

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