Kein holländischer Revoluzzer

3. Februar 2011 in Chronik


Professor Joseph Ratzinger und die Debatte um die priesterliche Ehelosigkeit: Zur Entstehung und Wirkung des Memorandums von 1970. Von Michael Karger / Die Tagespost


München (kath.net/Die Tagespost) In der Süddeutschen Zeitung vom 28. Januar schreibt Rudolf Neumaier, dass 1970 der damalige Professor für Dogmatik in Regensburg Joseph Ratzinger ein Memorandum mit unterzeichnet habe, das von den deutschen Bischöfen eine „Überprüfung des Zölibatsgesetzes“ gefordert habe. Nach einundvierzig Jahren sei dieses Papier nun erstmals bekannt geworden. Über seine Quelle schreibt der Verfasser: „Das bislang öffentlich nicht zugängliche Schreiben soll damals ein Mitarbeiter Rahners einem vertrauten Geistlichen übermittelt haben, der dem kleruskritischen Aktionskreis Regensburg (AKR) angehörte. Es wurde diskret archiviert. In der neuen Ausgabe seiner Vereinszeitschrift ,Pipeline‘ aber hat es der AKR nun abgedruckt, angeblich vollständig im Wortlaut.“

Was müssen das 1970 für brave Regensburger Revoluzzer gewesen sein, die die Aufforderung von Deutschlands bedeutendsten Theologen, den Zölibat für Weltpriester zu lockern, in Händen hielten und sie dann „diskret archiviert“ haben. Zufällig zu dem Zeitpunkt, da einige CDU-Politiker das Thema Zölibat im Vorfeld des Papstbesuches in Deutschland aufwärmen, wird der Text nun wiederentdeckt und soll als Munition dienen, um den Papst mit seinen eigenen ehemaligen Thesen beschießen zu können. Dabei folgt man der von Hans Küng propagierten biografischen Zweiteilung in Ratzinger I und Ratzinger II: „Immer wieder wird darüber gerätselt, wie ein so begabter, freundlicher, offener Theologe wie Joseph Ratzinger eine solche Wandlung durchmachen konnte: Vom fortschrittlichen Tübinger Theologen zum römischen Großinquisitor“ (Hans Küng: „Erkämpfte Freiheit“, 2004).

Enthüllungspathos und Uninformiertheit

Das Enthüllungspathos des Artikels basiert allerdings auf Uninformiertheit: Weder trifft es zu, dass der Text bisher nicht veröffentlicht worden ist, noch war es bisher verborgen geblieben, dass er von Professor Ratzinger unterzeichnet worden ist. Ohne Wissen und Zustimmung der Unterzeichner wurde der Text nämlich bereits im Frühjahr 1970 in der vom Jesuitenorden herausgegebenen Zeitschrift „Orientierung“ (Jg. 34, S. 69–72) publiziert. Über die Entstehungsgeschichte des Textes und seine Wirkungsgeschichte informiert die von Daniel Deckers verfasste Biografie über einen anderen Mitunterzeichner: „Der Kardinal. Karl Lehmann – eine Biografie“ (München 2002). In dieser von Kardinal Lehmann „autorisierten“ Biografie erfährt man, dass neun von zwölf Beratern der „Kommission für Fragen des Glaubens- und der Sittenlehre der Deutschen Bischofskonferenz“ ein am 9. Februar 1970 unterzeichnetes „Memorandum zur Zölibatsdiskussion“ an alle deutschen Bischöfe gesandt haben. Verfasser des Textes waren Karl Rahner und sein ehemaliger Assistent Karl Lehmann, seit dem Wintersemester 1968/69 Dogmatikprofessor in Mainz. Mitunterzeichner waren die anderen Konsultoren Ludwig Berg, Alfons Deissler, Richard Egenter, Walter Kasper, Joseph Ratzinger, Rudolf Schnackenburg und Otto Semmelroth.

Seit 1969 war der Bischof von Mainz und ehemalige Dogmatikprofessor Hermann Volk der Vorsitzende der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Volk berief die neuen Konsultoren Leo Scheffczyk, Heinrich Schlier, Walter Kasper und Karl Lehmann. Die Professoren sehen die „Notwendigkeit einer eindringlichen Überprüfung und differenzierten Betrachtung des Zölibatsgesetzes der lateinischen Kirche“ durch die Oberhirten. Es handle sich dabei um „keine Forderung von Gegnern des priesterlichen Zölibats“. Eine deutliche Relativierung erfahren die Thesen des Papiers durch die Aussage: „Die Unterzeichneten haben sich bis jetzt auch gar nicht zu einer gemeinsamen Absicht darüber verständigt, was sie über die Sachfrage selbst im Einzelnen meinen.“ Im Klartext bedeutet dies doch, dass über die Forderung nach einer ergebnisoffenen Überprüfung hinaus keinerlei Konsens unter den Konsultoren in der Zölibatsfrage besteht. Diese Einschränkung gilt es bei der Bewertung der einzelnen Unterschriften zu beachten. Gegenüber der „Verbindung von frei gewählter Ehelosigkeit und priesterlichem Amt“ haben die Theologen keine grundsätzlichen Vorbehalte. Sie schließen dann aber eine unsichere Zukunftsprognose an, wenn sie behaupten, „dass unbeschadet des Ausgangs der Diskussion das ehelose Priestertum eine wesentliche Form des Priestertums in der lateinischen Kirche bleiben wird“. Wenn sie dann aber feststellen, dass das ehelose Priestertum bloß „als echte und reale Möglichkeit bestehen bleiben muss“ wird diese Erwartung doch gleich wieder deutlich eingeschränkt. Keinesfalls wollen die Initiatoren mit der „Lösung dieser Frage in Holland“ identifiziert werden. Das Memorandum trägt das Datum vom 9. Februar 1970, vier Wochen zuvor hatte das nationale holländische Pastoralkonzil (1968–1970) am 7. Januar 1970 in seiner Vollversammlung Papst Paul VI. mehrheitlich aufgefordert, Verheiratete zum Priesteramt zuzulassen.

Unmittelbar darauf schloss sich der Primas von Belgien Kardinal Leon Suenens dieser Forderung an. Am 3. Februar forderte der Papst die niederländischen Bischöfe auf, ihre Haltung zu revidieren. Kardinal Döpfner, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, bezeichnete den Zölibat am 7. Februar als eine „biblisch fundierte Lebensform“. Für Hans Küng hatte Kardinal Döpfner damit die Holländer im Stich gelassen. In seinen Erinnerungen „Umstrittene Wahrheit“ (2007) schreibt er rückblickend: „Statt wie im Zweiten Vatikanum zusammen mit den Niederländern und Belgiern die Avantgarde der nachkonziliaren Erfüllung des Konzils zu bilden, lassen die deutschen und französischen Bischöfe die Niederländer im Stich, und dies gerade in der ersten entscheidenden Auseinandersetzung über den Kurs der katholischen Kirche nach dem Konzil, über Zölibatsgesetz und Priesternachwuchs, bischöfliche Kollegialität und römischen Zentralismus. Sie tragen somit die Hauptschuld daran, dass das autoritäre vorkonziliare römische System von der Kurie ohne großen Widerstand des Episkopats restauriert werden kann.“

Zum zeitgeschichtlichen Entstehungszusammenhang des Memorandums gehören auch die seit Ende 1968 laufenden Planungen für eine Synode der deutschen Bistümer, die dann von 1971 bis 1975 in Würzburg tagte, und für die Römische Bischofssynode zum Thema Priestertum, die im Herbst 1971 stattfand. Ein theologisches Argument, man kann es das Charisma-Argument nennen, spielt seit der damaligen Diskussion eine besondere Rolle. Es kommt auch im Memorandum vor. Dort heißt es: Wer behaupte, dass mit der Entkoppelung von Ehelosigkeit und Zulassung zum Priesteramt das „ehelose Priestertum aussterben würde“, hat für die Unterzeichner „wenig Glauben an die Kraft dieser Empfehlung des Evangeliums und an die Gnade Gottes“, von der er dann „an anderer Stelle wieder behauptet, sie – also nicht das bloße ,Gesetz‘ – wirke diese Gnadengabe Christi“.

Auch in der damaligen Argumentation Hans Küngs gegen den „Pflichtzölibat“ spielte der Charisma-Gedanke die zentrale Rolle: man dürfe nicht „den Unterschied zwischen Ehelosigkeit als Charisma (freie Berufung zu einem besonderen Dienst) und als Gesetz (als vorgeschriebene, unter Umständen mit Sanktionen belegte Verpflichtung)“ außer acht lassen. Die Kirchenleitung habe kein Recht, „aus dem Charisma (,wer es fassen kann, der fasse es!‘ Mt 19, 12) ein Gesetz für den gesamten Klerus zu machen (,auch wer es nicht fassen kann, der muss es fassen!‘)“.

In der damals so emotional aufgeheizten Situation warnen die Wissenschaftler davor, das Thema den Massenmedien zu überlassen, sie befürchten „öffentliche Abstimmungen“ zum Schaden der Autorität der Oberhirten, kollektiven Ungehorsam, „Massenaustritte von Priestern“. Deutliche Kritik übt das Memorandum an der Enzyklika „Sacerdotalis Coelibatus“ (1967). Darin werde „über vieles nichts gesagt, worüber hätte gesprochen werden müssen, und dass sie in manchem sogar hinter der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückbleibt (ganz abgesehen von der gewählten Sprachform)“. Die Enzyklika sei „höchst ineffizient geblieben“, außerdem hätten junge Priester den Eindruck, dass es sich beim päpstlichen Rundschreiben zur Verteidigung des Zölibats um ein „Rückzugsgefecht der amtlichen Kirche“ handle, wie man es in den „verschiedenen Phasen der Liturgiereform erlebt habe“.

Abgesehen davon, dass der Begriff „Amtskirche“ hier verwendet wird, muss man den Verfassern dahingehend Recht geben, dass in der damaligen Situation die Einstellung verbreitet war, dass, seit die Form der Messfeier zur Disposition gestellt wurde, scheinbar die gesamte kirchliche Praxis, Disziplin und Glaubenswelt in Frage gestellt werden könnten.

Ausgesprochen apodiktisch vertreten die Verfasser eine These zum Priestermangel und überschreiten damit erneut ihre Vorgabe, nur eine „Überprüfung“ anzuraten: „Wenn ohne Modifikation der Zölibatsgesetzgebung ein genügend großer Priesternachwuchs nicht zu gewinnen ist, ... dann hat die Kirche einfach die Pflicht, eine gewisse Modifizierung vorzunehmen.“ Zugleich will die Petition ausdrücklich „kein Präjudiz für eine negative Lösung der Frage“ sein. An dieser Stelle wird die innere Widersprüchlichkeit der Erklärung offenkundig und belegt eine offensichtliche Spannung unter den Unterzeichnern. Unter Berufung auf die notwendige kollegiale Zusammenarbeit des Weltepiskopats fordert das Memorandum eine Intervention der Bischöfe bei Paul VI. für eine „ernsthafte Überprüfung der Zölibatsgesetzgebung“.

Die Reaktion der Bischöfe auf das Memorandum bestand darin, dass zwei von achtundfünfzig Mitgliedern der Bischofskonferenz den Eingang bestätigten und alle anderen schwiegen. Auf die Tagesordnung der Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz wurde das Thema auch nicht aufgenommen. Karl Rahner, der Kardinal Döpfner das Memorandum vor der Versendung persönlich erläutert hatte, war darüber besonders empört. Am 18. März 1970 fand in der Katholischen Akademie in München der Festakt zur Verleihung des neu geschaffenen Romano-Guardini-Preises an Karl Rahner statt. Der Geehrte nutzte die Gelegenheit zu einem „kalkulierten Wutausbruch“ vor zahlreichen Bischöfen, darunter Kardinal Döpfner und Bischof Volk. Rahner sagte: „Wenn man sich heute und ganz gewiss nicht immer und überall zu Unrecht über Respektlosigkeit gegenüber kirchlichen Gesetzen, über Willkürlichkeit und Selbstherrlichkeit, über Mangel an Respekt gegenüber der kirchlichen Autorität beklagt, dann darf man dabei nicht vergessen, dass solche Missstände nicht daher kommen, dass es heute zu viel Freiheit und zu wenig Manipulation in der Kirche gibt, sondern dass man noch nicht gelernt hat, die größere Freiheit verantwortungsvoll zu gebrauchen“ Dafür machte Rahner die Bischöfe verantwortlich. Ihre „institutionalisierte Mentalität“ sei insgesamt „feudalistisch, unhöflich und paternalistisch“.

Ausdrücklich nannte Rahner das Schweigen der Bischöfe zum „Memorandum zur Zölibatsdiskussion“ als eklatantes Beispiel. Im Anschluss ging Kardinal Döpfner wütend auf Rahner los und Bischof Volk gab den Beleidigten. Durch diesen – von Rahner unklug provozierten – Eklat war auch das Memorandum zunächst einmal gestorben. Wenige Jahre zuvor auf dem Konzil hatten sich die Kardinäle und Bischöfe um den Rat eines Rahner oder Ratzinger gerissen. Im Deutschland von 1970 wurde eine von den beiden unterschriebene Denkschrift zu einer Frage, in der sich die Kirche in Europa gerade zu spalten drohte, nicht zur Kenntnis genommen, obwohl sie von offiziell bestellten Konsultoren vorgetragen wurde.

Wenige Monate nach seiner Bischofsweihe antwortete der neue Erzbischof von München und Freising, Joseph Ratzinger, in einem offenen Brief in der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ auf einen dort im September 1977 erschienenen Artikel „Erwägungen zum Pflichtzölibat“ des Münchner Moraltheologen Prälat Richard Egenter. Ratzinger und Egenter waren beide 1970 Unterzeichner des Memorandums gewesen. Ratzinger widerlegt die Erwartung von Egenter, die auch im Memorandum angeführt wurde, dass ein partieller „freiwilliger“ Zölibat der Weltpriester zu verwirklichen sei. Ebenso wenig wie es in der Reformation möglich gewesen sei, „einem Zölibat ohne institutionelle Verankerung Lebenskraft zu geben“, werde dies heute gelingen. „Wenn der Zölibat der Weltpriester nicht eine gemeinschaftliche kirchliche Form ist, sondern eine private Entscheidung, dann verliert er seinen wesentlichen theologischen Gehalt und seine entscheidende persönliche Fundierung, denn dann hört er auf, ein von der Kirche getragenes Zeichen zu sein und wird zur privaten Absonderlichkeit. Dann ist er nicht mehr zeichenhafter Verzicht um des im Glauben übernommenen Dienstes willen, sondern Eigenbrödlerei, die deshalb mit gutem Grund verschwindet.“

Sodann geht Ratzinger auf das von Egenter erneut vorgetragene und auch im Memorandum genannte Charisma-Argument ein. Er nennt es einen falschen Begriff von Charisma, wenn es wie eine „naturale Angelegenheit“ betrachtet werde. Auch das Charisma bedarf des Wachstums und des Ringens um seine Verwirklichung, das Charisma könne auch zerbrechen. „Deswegen ist es so wichtig, was in der Kirche zu diesem Thema gesagt oder verschwiegen wird; dies gehört in das Charisma des Einzelnen hinein, das ein kirchliches und nicht ein naturales Ereignis ist – kirchlich, weil die Gemeinschaft der Kirche die Stätte der Vermittlung zum Geist hin und vom Geist her zu uns ist.

Wider den falschen Begriff von Charisma

Weil es so ist, kann das Zutrauen zum Zölibat in den jungen Menschen zerredet werden und das beweist dann nicht, dass sie kein ,Charisma‘ haben, sondern dass dem Charisma der Raum verbaut worden ist.“ Erschwerend kommt für Kardinal Ratzinger dann noch hinzu: „Wie soll sich ein junger Mensch für das eschatologische Abenteuer Zölibat entscheiden können, wenn die Kirche selbst nicht mehr zu wissen scheint, ob sie es noch wollen soll?“

Abschließend geht der Münchener Erzbischof auf seine Beweggründe für diesen offenen Brief ein und sagt: „Aber es ist mir doch wichtig, sichtbar zu machen, dass auch heute nicht nur Borniertheit und Ängstlichkeit für den Zölibat stehen, sondern Gewichte, die nicht zufällig die Jahrhunderte überdauert haben.“ Nachzulesen ist der offene Brief im zwölften Band der Werkausgabe von Joseph Ratzinger: „Künder des Wortes und Diener eurer Freude“ (2010). In diesem offensiven und argumentativen Vorgehen tut Kardinal Ratzinger 1977 das, was er 1970 bei den Bischöfen vermisst hat. Damals fehlte ihm eine episkopale Führung, die nicht unreflektiert handelt und nicht unter Niveau argumentiert, ein bischöfliches Lehramt, das seine Berater anhört und das Lehramt entschieden ausübt. Von heute aus gesehen gibt es keinen Grund, warum Professor Ratzinger das Memorandum damals nicht hätte unterschreiben sollen. Ganz abgesehen von den vielen Loyalitätsbekundungen bestand der Konsens der Unterzeichner nur in der Forderung nach einer theologisch informierten und unvoreingenommenen Prüfung der bisherigen Praxis. Das Memorandum ist nicht das Arbeitsergebnis der Unterzeichner. Seine inneren Widersprüche zeigen, dass die Autoren Rahner und Lehmann möglicherweise mehr damit erreichen wollten, als der Konsens der Unterzeichner hergab. Die Verfasser selbst bestätigen diesen Eindruck, wenn sie abschließend schreiben: „Unsere Stellungnahme wird man vielleicht mit dem Urteil der Zwiespältigkeit oder gar Widersprüchlichkeit belegen oder übergehen.“ Angesichts der damaligen epochalen gesamtkirchlichen Krisensituation waren die Forderungen allerdings weitgehend moderat und die Behandlung der Unterzeichner durch die deutschen Bischöfe unangemessen.

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