Die Kibbuzim in Israel: sozialistisch und unrealistisch?

10. Dezember 2010 in Aktuelles


Mehr säkulare als religiöse Kibbuzim – Die meisten leiden inzwischen unter Überalterung – Privatbesitz ist inzwischen selbstverständlich - Ein Bericht von Johannes Gerloff


Jerusalem (kath.net/idea) Sie haben besonders in den Jahren nach der 68er Studentenrebellion auch viele Christen fasziniert: die meist sozialistischen Kibbuzim in Israel, ein Modell, gemeinschaftlich zu leben, wie es das sonst kaum gab. Was ist aus der vor 100 Jahren begonnenen Bewegung geworden?

Die Gründer des modernen Staates Israel kamen nicht ins Heilige Land, um die Voraussagen der biblischen Propheten zu erfüllen. Viele standen stattdessen der Ideologie des Sozialismus viel näher als der Bibel. Ein Zeugnis dafür ist die Kibbuzbewegung, die in diesen Wochen ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Am 28. Oktober 1910 hatte eine Gruppe von Juden aus Weißrussland den ersten Kibbuz am Südende des Sees Genezareth gegründet: den Kibbuz „Degania Aleph“. Das hebräische Wort „Kibbuz“ heißt wörtlich übersetzt „Sammlung“. Die biblisch begründete Tradition hofft bis heute auf eine vollständige „Kibbuz Galujot“ – „Sammlung der Zerstreuten“ – des Volkes Israel aus aller Welt, genau wie es der Prophet Jeremia vorausgesagt hatte: „Der Israel zerstreut hat, der wird’s auch wieder sammeln …“ (Jeremia 31,10-11).

Das Eigentum war allen gemeinsam

Doch so sehr der biblische Wortlaut mitschwingt, unter „Kibbuz“ versteht man seit dem letzten Jahrhundert gemeinhin eine ländliche Kollektivsiedlung: Gemeinsames Eigentum und basisdemokratische Strukturen waren die prägenden Prinzipien der Gründerzeit. So wurden ursprünglich alle wichtigen Entscheidungen in der Mitgliederversammlung getroffen. Für Führungsämter galt ebenso das Prinzip der Rotation wie für die Besetzung der Arbeitsplätze. Für die Kleidung wurde zentral gesorgt, im Speisesaal gemeinsam gegessen, selbst die Kindererziehung war zentralisiert, so dass Eltern ihre Kinder nur zu bestimmten Besuchszeiten zu sehen bekamen.

270 säkulare und 16 religiöse Kibbuzim

In der säkularen Kibbuzbewegung Israels sind heute noch 270 Kibbuzim zusammengeschlossen. 16 Gemeinschaftssiedlungen gehören zur religiösen Kibbuzbewegung. Etwa 400 weitere Dörfer sind als genossenschaftliches Moschav organisiert, in dem die Produktionsgüter – wie etwa Fabriken, Stallungen, Felder – Gemeingut sind. Dagegen besitzen einzelne Mitglieder durchaus Privateigentum wie Häuser, Autos und anderes. In der Nähe von Sichron Jaakov am Südrand des Karmelgebirges liegt der christliche Kibbuz Bet-El, den schwäbische Christen 1963 gegründet haben. Der Kibbuz Jad Hanna – unweit der palästinensischen Autonomiestadt Tulkarem gelegen und nach der berühmten jüdischen Widerstandskämpferin Hannah Szenes (1921-1944) benannt – ist der einzige Kibbuz Israels, der der Kommunistischen Partei verbunden ist.

Anfangsjahre Israels sind ohne „Kibbuzniks“ nicht denkbar

Die Kibbuzbewegung entstand, weil Juden einen jüdischen Arbeiterstaat und eine klassenlose Gesellschaft aufbauen wollten. Als Wehrsiedlungen spielten die Kibbuzim bei der jüdischen Besiedlung Palästinas eine entscheidende Rolle. Manche Kibbuzim wurden als „Turm und Palisaden“ über Nacht gebaut. Die schweren Anfangsjahre des 1948 gegründeten jüdischen Staates sind ohne den selbstlosen Einsatz der Kibbuzniks undenkbar. Heute ist der Kibbuz aber nicht mehr das, was er in den Gründungsjahren des jüdischen Staates war. Moderne Israelis sind individuell und kapitalistisch geprägt. Die freie Marktwirtschaft imponiert ihnen weit mehr als das Ideal, dass jeder gibt, was er kann und hat, um dafür zu bekommen, was er braucht – wie sich das Karl Marx einst gedacht hatte.

Kibbuzbewegung leidet an Überalterung

Aus rein praktischen Gründen wurde die Kernfamilie gegenüber dem Kollektiv wieder wichtiger. Man kehrte vielfach zur traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zurück. Wirtschaftliche Zwänge erforderten neue Wege, etwa in der Industrie oder im Tourismus. In vielen Fällen arbeiten Kibbuzmitglieder heute – beispielsweise als Ärzte oder Wissenschaftler – außerhalb der Ortschaft und erwerben sich ihre Rechte in der Gemeinschaft, etwa auf die kollektive Krankenversicherung und Altersvorsorge, indem sie einen Teil ihres Gehalts abliefern. Da eine moderne Gesellschaft zunehmend Spezialisierungen fordert, verblassen auch die basisdemokratischen Elemente. Ämterrotation wird kaum noch praktiziert. In den vergangenen Jahrzehnten haben viele junge Israelis den Gemeinschaftssiedlungen den Rücken gekehrt und sind in die Städte gezogen. Die Kibbuzbewegung leidet an Überalterung. Lebten vor einem halben Jahrhundert zur Hochblüte der Bewegung 8 % der Israelis im Kibbuz, so sind es heute kaum noch 2 %. Die verbleibenden Kibbuzim experimentieren mit neuen gemeinschaftlichen Lebensformen, Privatbesitz ist selbstverständlich, Mitglieder werden nach Leistung bezahlt.

Gästehäuser haben sich zu modernen Hotels gemausert

Menschen aus aller Welt haben bereits seit dem Unabhängigkeitskrieg Israels 1948/1949 die Kibbuzim als Volontäre kennengelernt und einige Monate oder gar Jahre in einer Gemeinschaftssiedlung mitgearbeitet. Israelreisende kennen die Kibbuzgästehäuser, die sich zu modernen Hotels gemausert haben, wie etwa im Kibbuz Lavi oberhalb des Sees Genezareth, in Ramat Rachel mit Blick auf Bethlehem und die Hirtenfelder oder im Kibbuz Maale HaChamischah in den Bergen von Judäa. Der Kibbuz Gescher ist bekannt für seine historischen Brücken über den Jordan, sei das die römische Brücke oder die Eisenbahnbrücke aus osmanischer und britischer Zeit. „Gescher“ bedeutet „Brücke“. Als vor zwei Jahrzehnten im See Genezareth ein sehr gut erhaltenes Boot aus dem 2. Jahrhundert nach Christus im Schlamm gefunden wurde, erlangte der Kibbuz Ginossar Berühmtheit für sein „Jesus-Boot“.

Ein Kibbuz produziert legendäre Kosmetikprodukte

Der Kibbuz Mizpe Schalem in der judäischen Wüste ist bekannt für seine legendären Kosmetik-Produkte der Marke „Ahava“. Seine Strandanlage „Mineral“ lädt Touristen und Einheimische zum Baden im Toten Meer oder in heißen Schwefelquellen ein. Im Kibbuz Nir David am Fuße des Gilboa-Gebirges wurden „Turm und Palisadenzaun“ für den historisch interessierten Besucher nachgebaut. Israelische Kinder kennen Nir David aber eher wegen seiner Reitturniere und vor allem wegen seines „Gan Guru“, eines Parks, in dem der Besucher die Tierwelt Australiens, darunter Kängurus und Koalas, bestaunen kann. Weniger zugänglich, eher geheimnisumwittert ist der Kibbuz Palmachim, in dessen unmittelbarer Umgebung einer der größten Luftwaffenstützpunkte der israelischen Armee und das Raketenversuchsgelände der israelischen Raumfahrtbehörde liegen. Von hier aus starten die Schavit-Raketen mit den Ofek-Satelliten in den Weltraum, aber auch die Hubschrauberstaffeln der Luftwaffe zum nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Gazastreifen.

Einziges sozialistisches Modell, das ohne Gewalt existierte

Der Kibbuz ist heute so vielfältig und modern wie die israelische Gesellschaft und für den Außenstehenden kaum noch als Gemeinschaftssiedlung mit sozialistischen Idealen erkennbar. Einige Kibbuzim haben verstanden, dass sich finanzielle Löcher, die idealistische Utopien gerissen haben, durch den Verkauf von wertvollem Boden als lukratives Bauland stopfen lassen. So betätigt sich ein Kollektiv, das einst mit kommunistischen Vorsätzen gegründet wurde, heute nicht selten als Spekulant auf dem Immobilienmarkt des modernen Kapitalismus. Bemerkenswert ist, dass die Idee des israelischen Kibbuz eines der wenigen Modelle real existierenden Sozialismus im 20. Jahrhundert war, das ohne Gewaltanwendung gegen seine eigenen Mitglieder einige Jahrzehnte lang durchaus erfolgreich zu existieren vermochte.

Johannes Gerloff (Jerusalem), Nahostkorrespondent des Christlichen Medienverbundes KEP


© 2010 www.kath.net