Das letzte Gefecht

16. September 2010 in Chronik


Wie ein deutscher Artillerieoffizier in päpstlichen Diensten den 20. September 1870 erlebte - Von Ulrich Nersinger


Rom (kath.net)
Das Ende des alten Kirchenstaates nahte im Spätsommer des Jahres 1870. Durch den deutsch-französischen Krieg in Bedrängnis geraten, musste Paris seine Unterstützungstruppen aus Rom abziehen (5. – 19. August). Nach dem Sieg der deutschen Heere bei Sedan und dem Sturz des zweiten französischen Kaiserreiches nutzte der italienische König die Gunst der Stunde; er erklärte die „Septemberkonvention“ von 1864 für nichtig und ließ am 11. September seine Truppen in den Kirchenstaat einmarschieren. Der 13.000 Mann starken Armee des Papstes stand eine Übermacht von 50.000 – 60.000 Italienern gegenüber.

Der Vormarsch des Feindes ließ sich nicht mehr aufhalten. Innerhalb weniger Tage waren sämtliche Provinzstädte eingenommen, und auch Civitavecchia, die einzige Hafenstadt des Kirchenstaates, musste kapitulieren. Im Laufe des 18. und 19. Septembers standen die Piemontesen vor Rom; am Morgen des 20. Septembers erhielten sie den Befehl zum Angriff auf die Ewige Stadt.

Das berühmteste und heftigste Gefecht der letzten militärischen Auseinandersetzung um den Kirchenstaat fand an der Porta Pia statt. Hier sollten auch die meisten Toten und Verwundeten zu beklagen sein. Aber auch an vielen anderen Stadttoren kämpften die päpstlichen Einheiten gegen die heranstürmenden piemontesischen Truppen. Die Ereignisse bei der Porta San Giovanni, dem Tor unweit der Lateranbasilika, sind in den Aufzeichnungen eines deutschen Offiziers in päpstlichen Diensten, Klemens August Eickholt, bestens dokumentiert (Roms letzte Tage unter der Tiara, 1917). Eickholt, ein Jurastudent aus dem Westfälischen, war im Februar des Jahres 1868 in die Armee des Kirchenstaates, in das Päpstliche Artillerieregiment, eingetreten. Der angehende Jurist konnte bei seinem Eintritt militärische Erfahrungen vorweisen; während seines Studiums in Wien hatte er sich als Freiwilliger bei den Tiroler Schützen gemeldet und war mit ihnen 1866 gegen Garibaldi in den Kampf gezogen).

Für den frühen Morgen des 20. Septembers 1870 notierte Klemens Eickholt:

„Um 5 ¼ Uhr eröffneten vierzehn Geschütze der Division Angioletti das Feuer gegen die Porta San Giovanni. Die päpstliche Artillerie, die das Tor verteidigte, bestand aus zwei Feldgeschützen unter dem Kommando des Leutnants Graf Macchi. Das Tor San Giovanni war durch ein vorgelegtes Erdwerk in Verteidigungszustand gesetzt, und in diesen Schanzen hatte Macchi anfänglich seine Geschütze aufgestellt.

Trotz der Überlegenheit der Zahl 14 gegen 2 und trotz des größeren Kalibers des Feindes, der Sechzehnpfünder gegen Sechspfünder aufführen ließ, wurde Macchi seinem Gegner doch so unangenehm, dass dieser zweimal die Stellung wechselte. Dann gelang es aber der schweren feindlichen Artillerie, die schwachen, zum Notbehelf angelegten Schanzen so gründlich zu zerstören, dass Macchi sich durch das Tor hinter die Mauer zurückziehen musste. Er stellte darauf seine Geschütze rechts und links neben dem Tore auf.

Jetzt war der Augenblick gekommen, wo wir das Glück und die Ehre hatten, in das Gefecht eingreifen zu können. Wir lagerten auf dem Monte Citorio. Pferde und Maultiere standen gesattelt, die Mannschaften hatten umgeschnallt und waren bereit. Da fällt bei San Giovanni der erste Kanonenschuss.

Alles springt auf. Der Hauptmann ruft Leutnant Rospigliosi und mir zu: ’Lassen Sie anspannen, ich melde dem Generalkommando, dass wir nach San Giovanni abmarschieren’. In wenigen Minuten ist angespannt, die Tragtiere sind beladen, die Sektion ist zum Abmarsch bereit.

Wir marschierten den Korso entlang. Alles ist noch still in den Straßen. An vielen Häusern, in denen Fremde wohnen, sehen wir Flaggen der betreffenden Nationen. Besonders häufig waren die englischen und die amerikanischen Farben vertreten. Der stärker werdende Kanonendonner weckt die Schläfer. Gar manch ängstliches Gesicht schaut aus den geöffneten Fenster.

Wir kommen zum Lateran. ‚Sektion halt!’ Der Hauptmann sprengt voraus auf dem Platz vor der Kirche San Giovanni, um zu sehen, wo wir uns aufstellen können.
Er ist bald zurück, ‚Sezione avanti, marcia!’ (‚Sektion vor, Marsch!’). Wir biegen um die Ecke des Lateranpalastes. Im selben Augenblick trifft eine Granate die Mauer vor uns. Sie platzt. Sprengstücke und Ziegelbrocken fliegen auseinander. Wir haben die erste feindliche Granate ‚gesehen’.

‚Erstes Geschütz links, zweites Geschütz rechts!’ lautet die kurze Weisung des Hauptmanns. Schnell sind wir aufgefahren unter den heute noch dort stehenden Ölbäumen und Pinien vor der Kirche des Lateran. Rechts von uns war hinter dem höheren Teil der Mauer für die Reservemannschaft, die Pferde, die Tragtiere mit der Munition sowie einem Zug Legion, unsere Geschützbedeckung, eine gute Deckung.

Das Kommando des Hauptmanns erschallt: ‚In batteria! Comminciate il fuoco!’ (‘In Batterie! Beginnt das Feuer!’). Die Mannschaft fliegt ans Geschütz. Auf das Kommando: ‘A braccio in avanti!’ (‘Geschütz einführen!’) wird es von der Bedienung an die passende Stelle zum Feuern gebracht.
Da saust unmittelbar über unsere Köpfe eine Granate, die hinter uns einschlägt. Wir haben die erste Granate ‚gehört’ – ein eigenartiges, unheimliches Rauschen, wer es gehört, vergisst es nie. Alle machen unwillkürlich eine tiefe Verbeugung, tiefer als vor dem mächtigsten Herrscher. Für einen Augenblick stockt die Bewegung. Mit dumpfem Schlag fällt die Lafette auf den Boden. ‚Vorwärts!’ Es war ein Augenblick verzeihlicher Schwäche, aber rasch sind alle Hände wieder am Geschütz. Es steht richtig.

Ruhig beobachtend steht der Hauptmann in der Batterie. ‚Haben Sie eine Karte zur Angabe der Entfernung?’ fragte ich ihn. ‚Leider nein’ war die Antwort. Also hieß es Distanz schätzen und sich einschießen. Beim dritten Schuss habe ich 1.500 Meter richtig. Ein Volltreffer in der feindlichen Batterie. An beiden Geschützen arbeiten Leute vortrefflich. Schuss folgt auf Schuss!
Der Feind hat seinen neuen Gegner entdeckt. Er bringt eine schwere Batterie von acht Geschützen gegen uns in Stellung. ‚Alle zu Boden!’ höre ich den Hauptmann rufen. Er bekräftigt bei mir die Mahnung noch durch einen freundlichen Rippenstoß. Wir liegen auf der Erde. Fünf Schritte von mir entdecke ich die sprühende Granate. Wie wird’s ausgehen?

Ein Knall, Sprengstücke heulen durch die Luft, Sand und Steine überschütten uns. Es hat gut gegangen. Schnell ans Geschütz und dem Feind für den freundlichen Gruß die Antwort geschickt. Alles springt auf, und hurtig wird geladen. Doch wer liegt denn da? Einer aus der Geschützreserve namens Jansen war törichterweise nicht in die Deckung geeilt. Da hat ihm nun ein Granatsplitter den Fuß zerschlagen.

Es ist etwas Eigenartiges um ein Artilleriegefecht. Hier konnte man es ein Artillerieduell nennen. Aber ein Duell mit ungleichen Waffen: acht gegen zwei; schwerste Feldartillerie gegen kleine Gebirgsgeschütze.
Meine Kanoniere arbeiten wie auf dem Exerzierplatze. Die Anstrengungen des Schnellfeuers treiben perlende Schweißtropfen auf die bleichen Gesichter. Der Pulverdampf und der Pulverschleim schwärzt sie. Jeder ist bestrebt, seinen Posten auf vollkommenste auszufüllen. Kein Geschrei, wie beim Vorstoß stürmender Infanterie, kein Hurrah und Waffenklirren wie beim Heranbrausen der Kavallerie. An die Stelle gebannt, lautlos seinen Dienst verrichtend, scharfen Auges hinüberspähend, kaltblütig richtend steht der Artillerist an seinem Geschütz und entsendet das Tod und Verderben bringende Geschoss. Ein stilles Gebet schwebt auf mancher Lippe.

Auch den Feind verhüllt bald eine Dampfwolke. Das Mündungsfeuer von acht Rohren bildet das Ziel für den Richtkanonier. Die Granaten rauschen heran. Den Boden erzittern lassend, prallen sie teils vor uns gegen die Mauer, teils schlagen sie über uns wegsausend hinter der Stellung ein.
Die Kirche San Giovanni hatte ihre Tore weit geöffnet. Da fährt eine Granate durch ein Fenster, und wir hören den dumpfen Knall der Explosion aus der Kirche schallen. Das war aber meinem wackeren Richtkanonier Diana, einen lebhaften Neapolitaner, doch zu arg. Guarda, San Giovanni! rief er aus, queste bestie ti ruinano tua chiesa! (‘Schau, hl. Johannes! Diese Bestien zerstören dir deine Kirche!’) und treuherzig fügte er hinzu: ‚Da hilf doch uns, deinen Christen, daß wir’s den Hunden ordentlich heimzahlen!’

Das Feuergefecht war sehr heftig geworden. Hüben wie drüben gab das Mündungsfeuer die Richtpunkte. Die heißgewordenen Rohre mußten mit Wasser gekühlt werden. Gerade knie ich am Geschütz, um die Richtung zu prüfen, da ruft mein Richtkanonier, der hinter mir stand: ‚Rechts avanciert eine feindliche Batterie!’

Richtig, eine bespannte Batterie versucht in dem schwierigen Gelände vorzurücken. Schnell reiße ich das leichte Gebirgsgeschütz herum und halte auf das Geschütz am Flügel. Dann rufe ich dem Leutnant, der bei dem anderen Geschütz steht, zu: ‚Rospigliosi, rechts auf die avancierende Batterie!’ Er hatte wegen des Dampfes die Batterie noch nicht bemerkt, winkt mir aber sofort zu, daß er mich verstanden habe.

‚Kinder, schnell, schnell geladen, jedoch die Granate vorsichtig temperieren!’ Die feindliche Batterie war durch unsern ersten Schuss zum Stehen gekommen. Ich richte auf das mittlere Geschütz. ‚Feuer!’ Die Granate brachte einen Volltreffer. Das Geschütz Rospigliosis erzielt ebenfalls einen solchen. Die Batterie macht kehrt. In der Freude des Erfolgs schicke ich ihr einen Jauchzer nach und schwenke das Käppi (Später brachte ich in Erfahrung, dass unsere Schüsse der feindlichen Batterie acht Mann Verluste verursacht hatten).

Ein Schnellfeuer stellt keine geringen Anforderungen an die Bedienungsmannschaft. Rohrrücklauf kannte man damals nicht. Trotz Hemmseile waren Rückstoß und Rücklauf besonders bei unseren leichten Geschützen beträchtlich. Nach jedem Schuss musste das Geschütz vorgeschoben, gewischt und neu gerichtet werden. Alles das ermüdete sehr. Zwei Mann der Bedienung hatte ich wegen Übermüdung auswechseln müssen, einer war leicht verwundet.

Eben knie ich wieder am Geschütz, ein schwarzer Schein trifft mein Auge, hart am Kopf rauscht es vorbei. Ein Knall – ich höre den Schrei: ‚Oh Sant’ Antonio son’ morto!’ Mich umwendend, erblicke ich meinen Richtkanonier Diana, an den hinter uns stehenden Ölbaum geklammert. Die berstende Granate hat seinen Oberschenkel zerrissen. In Strängen hängen Sehnen und Arterien bloß, das Beinkleid brennt, ein schwarzer Blutstrom fließt aus der Wunde. Ein schrecklicher Anblick!

Indes hat unsere wackere Infanterie den Vorfall bemerkt; zwei Soldaten eilen mit einer Tragbahre herbei und bringen den Verwundeten zum Verbandplatze. Solch eine schwere Verwundung macht einen niederschmetternden Eindruck. Dazu wurde der Unteroffizier Rattaz bei den Munitionstragtieren ebenfalls verwundet.

Die Mannschaft war erschöpft. Ich stand allein bei dem geladenen Geschütz; ‚Freiwillige will ich haben’, dachte ich, feuerte den Schuss ab und machte mich daran, ganz allein zu laden. Doch da eilten vier wackere Burschen heran, ein Deutscher, ein Schweizer und zwei Italiener. ‚Darauf haben wir nur gewartet’, rief der Schweizer, Wiedmer mit Namen.

Bald krachte wieder Schuss auf Schuss. ‚Sie müssen die Stellung wechseln, der Feind ist zu gut auf Sie eingeschossen’, meinte der Hauptmann. ‚Ich auf ihn auch’, entgegnete ich, ‚darum möchte ich bleiben, wo ich bin.’ Allein der Hauptmann bestand auf dem Wechsel. Also mehr nach links! Dort stand eine Pinie im Wege. ‚Lass eine Granate schief gehen’, dachte ich und richtete so, dass das Geschoss den Baum stark streifte. Mein Plan glückte, die Pinie fiel auf die Seite; Stamm und Krone – in der schnell eine Lücke gehauen wurde – bildeten eine vorzügliche Deckung. Der Hauptmann war unser Retter. Die feindlichen Granaten durchpflückten förmlich die Stelle, wo wir gestanden hatten.

‚Kamerad, ich schicke Ihnen zu trinken’, hörte ich den Leutnant der Legion rufen und sehe, wie er einem seiner Leute einen Blechbecher voll Wein einschenkt. Der kommt herzugelaufen und sagt auf deutsch: ‚Wohl bekomm’s, Herr Leutnant, Sie haben einen Trunk verdient.’ Dankend nehme ich den Becher und mahne ihn: ‚Schnell, gehen Sie in die Deckung zurück!’ Es wäre mir höchst unangenehm gewesen, wenn der Brave bei seinem Liebesdienst einer feindlichen Granate zum Opfer gefallen wäre.

Doch der stellt sich breit bei mir hin: ‚Die schwarzen Dinger kenne ich, die tun niemanden etwas, der nicht für sie bestimmt ist. Ich warte bis Sie ausgetrunken haben’, lautete seine ruhige, schier fatalistische Antwort. Als ich dann schnell trank, um den Wackeren, der bei mir stand, aus der Gefahr zu bringen, sagte er: ‚Bitte trinken Sie nicht so schnell, das ist nicht bekömmlich; ich habe Zeit.’ Solche Kaltblütigkeit musste ich bewundern. ‚Wenn Sie Durst haben, winken Sie nur, dann komme ich wieder.’ Mit diesen Worten zog er mit dem leeren Becher ab.

Das Gefecht geht weiter. Eine andere feindliche Batterie wird vorgeschoben. Wir schießen auf 1.200 Meter Distanz. Die Batterie stand zwischen zwei Winzerhäuschen. Es schien mir, dass die Munitionswagen in Deckung hintern den Häusern standen. Nach Überlegung mit dem Hauptmann hielt ich auf das niedrigere Dach. Der Granate folgte eine heftige Explosion. Ein Volltreffer, wie es schien.

Unterdessen war feindliche Infanterie vorgegangen. Plötzlich pfiffen uns die Flintenkugeln um die Ohren. Ob’s das Handwerk mit sich bringt? Wie war dies Pfeifen unheimlicher als das Rauschen der Granaten. Unsere braven Carabinieri esteri hatten auch den Feind bemerkt. Bald schickten sie ihm so treffliche Grüße, daß er vorzog, rückwärts zu verschwinden.
Die Granaten, die über unsere Köpfe sausten und hinter uns einfielen, machten bald wenig Eindruck. Wenn sie platzten – eine Anzahl Blindgänger waren auch dabei – , folgte die Streuung stets mehr der Schussrichtung. Dies war sogar bei solchen Geschossen der Fall, die vor dem Platzen in den Ruhezustand gekommen waren. Beobachtete ich doch Granaten, die auf dem Pflaster vor dem Lateran wie Flaschen aufrecht zu stehen kamen und dann platzten.

Aber nicht alle Granaten gingen zu hoch. Einige fielen in bedenklicher Nähe, und ein Andenken sollte auch ich bekommen. Unmittelbar vor dem Geschütz schlägt eine Granate ein. Sprengstücke, Steine und Erde sausen uns um die Köpfe. Von den beiden Leuten vorn am Geschütz sehe ich Qualm und Staub nichts mehr. ‚Seid ihr noch am Leben’ rufe ich. ‚Wir sind frisch und munter’, schallt’s zurück. Auch ich spüre für den Augenblick nichts. Die Lafette war beschädigt und mußte gegen die Reserve-Lafette ausgewechselt werden.

‚Bei Porta Pia sind sie herein, aber wir schießen weiter’, hatte kurz vorher der Hauptmann mir zugeraunt. ‚Dann geben Sie, bitte, acht, ob man uns nicht in den Rücken kommt, damit wir hernach schnell wenden und sie begrüßen können’, lautete meine Antwort. Und wir schossen weiter.
Da sprengt Major Polani heran. ‚Feuer einstellen!’ Der ihn begleitende Trompeter bläst das Signal ‚Cessate il fuoco!’ Es wird von den Hornisten der Carabinieri esteri und der Zuaven aufgenommen und mehrmals wiederholt. Es war 10 ¼ Uhr.

Beim Leutnant Camerz von der Legion bedankte ich mich für den Wein, den er mir in die Feuerstellung geschickt hatte. Auch erkundigte ich mich nach dem Soldaten, der ihm mir brachte. Es war ein Berliner, Peter Hintze mit Namen. Erst jetzt bemerkte ich, dass mir ein Sprengstück eine Verwundung am linken Oberschenkel beigebracht hatte – mein Andenken an den heutigen Tag.

Mit Hauptmann Daudier und Leutnant Rospigliosi ging ich zum Tor San Giovanni. Die Torflügel waren in Brand geschossen und vom Feuer vollständig vernichtet. Der Kommandant unserer Verteidigungszone, Oberstleutnant Baron Charette von den Zuaven, befand sich mit seinem Stabe gleichfalls am Tor. Bald darauf kam ein Oberstleutnant vom 46. Infanterieregiment mit einer Eskorte schwerer Reiter durch das niedergebrannte Tor hereingeritten und verhandelte mit Baron Charette.

Bevor er zurückritt, hörte ich ihn Charette fragen: „Wo haben Sie ihre Artillerie?’ – ‚Voilà, mon Colonel’ (‚Hier, Herr Oberst’), und Charette zeigte auf die beiden leichten Feldgeschütze und unsere kleinen Bergkanonen. „Wie, das ist alles?“ entgegnete verwundert der Italiener. Und die Hand ausstreckend, rief er: ‚Bravo l’Artiglieria!’“

Die päpstlichen Einheiten an der Porta San Giovanni erhielten – ebenso wie alle anderen militärischen Formationen des Kirchenstaates – von ihrem Generalstab die Order, sich in Richtung Vatikan zurückzuziehen und auf dem Petersplatz ihr Quartier aufzuschlagen.
Am Abend des 19. Septembers hatte der Papst an General Hermann Kanzler, den Kriegsminister des Kirchenstaates und Befehlshaber der päpstlichen Armee, einen Brief gerichtet. In diesem Schreiben teilte Pius IX. mit, dass er aufgrund eines zu befürchtenden Blutbades davon absehen wolle, von seinen Soldaten zu verlangen, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Jedoch solle der Kirchenstaat nicht ohne Gegenwehr aufgegeben werden; das unrechtmäßige Handeln des Königs müsse vor der Welt sichtbar dokumentiert werden.

Als der Papst am Morgen des 20. Septembers erfuhr, dass bei der Porta Pia eine Bresche in die Stadtmauer geschlagen worden war, gab er den Befehl, das Feuer einzustellen und die weiße Fahne zu hissen. Am Nachmittag begab sich General Kanzler in die vor der Stadt gelegene Villa Torlonia, um im provisorischen Hauptquartier des italienischen Expeditionsheeres die Kapitulationsurkunde zu unterzeichnen.
Am 21. September, gegen 11.00 Uhr in der Früh, zog die ehemalige päpstliche Armee vom Petersplatz zur Porta San Pancrazio, um dort vor den piemontesischen Truppen die Waffen niederzulegen. Die nichtitalienischen Soldaten des Papstes wurden mit der Eisenbahn oder zu Fuß nach Civitavecchia überführt, von wo aus man sie mit Schiffen in ihre jeweiligen Heimatländer oder nach Genua brachte.

Klemens August Eickholt gehörte zu jenen, die auf italienischen Kriegs- und Frachtschiffen nach Genua transportiert wurden, um dann auf dem Landweg via Mailand zur italienisch-schweizerischen Grenze geleitet zu werden. Ein langer beschwerlicher Marsch durch die Schweiz und eine kaum weniger anstrengende Bahnfahrt durch das im Krieg mit Frankreich befindliche Deutsche Reich sollten für ihn und seine Kameraden dann noch folgen.
Die Richtvorrichtung des Geschützes, mit dem der letzte Schuss bei der Porta San Giovanni abgegeben worden war, nahm Klemens Eickholt als Andenken mit nach Hause. Sie wurde später in den Altar seiner Geburtskirche in Westkirchen (Westfalen) eingemauert. Vor wenigen Jahren wurde das Gotteshaus renoviert, der alte Altar abgerissen und durch einen neuen ersetzt. Eickholts Richtapparatur bekam einen neuen Ehrenplatz; sie wird heute im Heimatmuseum des kleinen westfälischen Ortes aufbewahrt.


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