9. September 2010 in Chronik
Ein Christ wird Sarrazins Thesen prüfen, doch das verhindert eine immer mehr überbordende "politische Korrektheit".Was der "Fall Sarrazin" lehrt Ein Kommentar von Helmut Matthies
München (kath.net/idea)
In diesem Frühjahr geschah etwas eigentlich Skandalöses, doch kaum jemand hat es gemerkt, geschweige denn kommentiert. Der langjährige Dresdner Oberkirchenrat und sächsische Justizminister Steffen Heitmann wollte nicht mehr Mitherausgeber des Rheinischen Merkurs sein. In dieser Eigenschaft hat er in 15 Jahren 133 Kolumnen geschrieben. Das alles wäre nicht ungewöhnlich, wenn er nicht als einen wichtigen Grund genannt hätte, dass er eine innere Selbstzensur gespürt habe das Empfinden, er könne das, was er ausdrücken wolle, selbst dem Merkur nicht zumuten (der als relativ konservativ gilt).
Zum Hintergrund: Heitmann war 1993 von CDU und CSU als 49-Jähriger einstimmig zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten in der Nachfolge von Richard von Weizsäcker nominiert worden. Nach einer beispiellosen Kampagne (so Helmut Kohl) linksorientierter Medien gegen ihn zog er seine Kandidatur zurück. Was er mit innerer Selbstzensur beschreibt, wurde bisher nur aus Diktaturen berichtet. Der Fall Sarrazin lehrt, dass es in Deutschland zwar weithin Meinungsfreiheit gibt, doch wehe, man spricht Tabus aus.
Dann beginnt meist eine Hexenjagd (so selbstkritisch Berlins Innensenator Körting (SPD) zum Fall Sarrazin) selbst wenn man ein hoch geachteter Finanzsenator war und überzeugter SPD-Mann ist. Doch die Ächtung wird nicht helfen. Denn die von Sarrazin in Sachen Integration heraufbeschworene Katastrophe hat längst begonnen, so die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Ein Christ wird Sarrazins biologistische Argumentation mit seinem Verweis auf Darwin ablehnen und vielfach auch anders formulieren, aber er wird in Befolgung des Prophetenwortes Suchet der Stadt Bestes prüfen, was an seiner Analyse richtig sein könnte. Doch das verhindert eine immer mehr überbordende politische Korrektheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn beschreibt im Deutschlandradio das Phänomen so: Jemand spricht ein Tabu aus und sofort wird die Nazi-Keule geschwungen.
Nun haben wir eine Staatsaffäre (Welt am Sonntag) vor allem aufgrund der parteilichen Aussagen von Bundespräsident Wulff, der ebenso wie die Kanzlerin der Bundesbank ziemlich unverhüllt den Rauswurf Sarrazins nahelegte. Die politische Elite verurteilte fast einhellig und vor allem unflätig sein Buch, bevor es überhaupt im Handel war. CSU-Generalsekretär Dobrindt erklärte öffentlich über den Bundesbankvorstand Sarrazin Der Typ hat einen Knall, Bundesfinanzminister Schäuble (CDU), er schreibe verantwortungslosen Unsinn und Grünen-Chefin Roth sprach gar von einem Quartalsirren.
Doch die elektronischen Medien sorgten wohl erstmals bei einem politischen Streit für eine Kurskorrektur. Per SMS, Twitter und E-Mail wurden Medien und Parteien derart mit Protesten gegen deren Häme eingedeckt, dass schon bald eine Wende erfolgte, ergaben doch erste Umfragen, dass so Emnid 48 % der Deutschen der grundsätzlichen Kritik Sarrazins an der Zuwanderung recht geben (36 % nein). Nun schrieb die lange Sarrazin-kritische Frankfurter Allgemeine Zeitung, die SPD reagiere auf ihn blind und taub, und sein Bestseller Deutschland schafft sich ab hätte auch lauten können: Die Volksparteien schaffen sich ab. Jetzt will plötzlich auch die Kanzlerin über Integration ohne Tabus reden.
Kirchliche Repräsentanten sollten jedenfalls zumindest bei der Debatte über Meinungsfreiheit besser schweigen, denn wer in vielen Landes- und Freikirchen an Tabus rührt, erlebt teilweise noch härtere Maßnahmen als Sarrazin. idea könnte ein dickes Buch darüber vorlegen. Aber das wäre ein anderes Thema. Endlich!
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