Überzeugend gelebt ist der Zölibat der schlagendste Gottesbeweis

11. Juli 2010 in Interview


Unsere Vorfahren im Glauben wurden in den ersten zwei Jahrhunderten vor die Löwen geworfen. Wir werden heute in den Medien nur vor die Menschen geworfen. Sollten wir uns davor fürchten? - Interview mit Kardinal Meisner -Von Paul Badde / Die Welt.


Rom (www.kath.net/DieWelt)
DIE WELT: Sind Sie enttäuscht über all das, was im letzten Jahr über die Sünden der Priester und der Kirche zu Tage getreten ist?

Joachim Kardinal Meisner: Noch im Januar hätte ich mich eher einsperren lassen als anzunehmen, dass das alles wahr ist. Dass es das auch bei unseren Priestern in Deutschland gibt. Das war für mich eine bittere Wahrheit. Das war ein furchtbarer Schock. Doch eigentlich bin ich auch bestätigt worden, dass dort, wo es um die Heiligung der Priester geht, sofort auch der Diabolos, der Durcheinanderbringer, die Gegenposition einnimmt -- der dem Reich Gottes am Ende aber auch nur dienen kann. So ist es nun auch nur gut, dass diese Untaten endlich ans Licht gekommen sind.

Enttäuscht heißt, dass man eine Täuschung verloren hat. Hatten Sie sich zuvor über den Zustand der Kirche getäuscht?

Meisner: Ja, im ursprünglichen Sinn des Wortes bin ich hier täuschungslos geworden. Darüber bin ich ganz froh. Denn das hat mich ja auch noch einmal neu auf das Wesen des Priestertums hingewiesen. Das Wunder des Priestertums ist, dass es Gott gibt, dass er lebendig ist und dass er Menschen in seinen Dienst zieht, die mit ihrer Person, mit ihrem Leben, mit Haut und Haar Zeugnis geben dürfen. Priester dürfen keine Funktionäre sein, die eine Sache verwalten. Wenn ihre Zeugniskraft verloren geht, dann haben Priester keine Begründung mehr. Wo Priester zu Genossen des Antichristen werden, ist das eine schwere Sünde.

Wie stellen Sie sich die Talsohle dieses schmerzhaften Erkenntnisprozesses vor?

Meisner: Ich hoffe zu Gott, dass die Talsohle erreicht ist. Schlimmer kann es nach meiner Vorstellung nicht mehr werden.

Was sagen Sie Priestern, die darüber verzweifeln?

Meisner: Mir haben manche von ihnen gesagt: Nun lassen Sie das Thema, wir hören es permanent und sind ja selbst tief beschämt. Ich habe das natürlich immer angesprochen, wenn wir als Priester zusammen waren. Aber ich habe auch den Eindruck, dass die Gläubigen mit den Füßen abstimmen. Wir haben noch nie eine so intensive Karwoche gehabt mit solch einer großen Beteiligung wie in diesem Jahr. Der Kölner Dom war in der Osternacht voller als zu Weihnachten und so auch Pfingsten! Es war kaum noch reinzukommen in den Dom. Oder jetzt zu Fronleichnam. Da habe ich den Leuten bei der Schlussfeier gesagt: Wir lagen in den letzten Monaten und Wochen buchstäblich in der Gosse. Wenn Menschen feiern, gelingt das aber nur, wenn der Gegenstand ihrer Feier größer ist als sie selbst. Wir haben heute Christus gefeiert. Wir gehören nicht in die Gosse. Wir gehören in die Nähe des Herrn.

Hat der Papst sie in diesen Tagen trösten können?

Meisner: Schon der Gedanke an ihn tröstet und stärkt mich. Als Inhaber des Petrus-Amtes ist er ja das Fundament der katholischen Kirche. Er ist der Fels, auf dem die apostolische Kirche steht. Das ganz Schwere fällt nach dem Gesetz der Schwerkraft aber immer nach ganz unten. Das heißt, all das Schwere in der Kirche fällt auf seinen Schreibtisch, auf seine Hände und in sein Herz. Dass er dabei nicht zerdrückt wird, ist schon ein Wunder.

In Rom sind Sie vielen Vertretern der Weltkirche begegnet. Welche Probleme quälen deutsche Priester in ihr denn besonders?

Meisner: Die Wolke des Verdachts, unter die sie nun alle geraten sind. Mir haben junge Priester gesagt, wir machen keine Ferienarbeit mehr mit Kindern. Denn wenn uns dabei ein Kind zu nahe kommt - und das ist ja gar nicht abzusehen - dann heißt es schnell, da ist etwas faul. Erschwerend kommt eine besondere psychologische Situation hinzu. 50 Prozent unserer Kinder haben keine Väter. Ich erlebe das immer, wenn ich bei Visitationen in Kindergärten bin, dann kommen da Kinder, die suchen meine Nähe, fassen meine Hand oder wollen sich gleich auf den Schoß setzen. Dann sagen mir die Erzieherinnen: "Das sind die Kinder, die zu Hause keinen Vater haben." Wenn wir die Ferienarbeit mit Kindern aber aufgeben, wäre das ein Riesenverlust für die Kinder. Das ist eine schwierige Situation. Es gibt nun Priester, die sagen: Kann ich noch einem Ministranten die Hand. geben? Das ist eine wirklich teuflische Situation. Ein unbefangener Umgang ist schwer geworden.

Ist es schon zu früh für eine Bilanz des Priesterjahres?

Meisner: Die Wichtigkeit des priesterlichen Dienstes ist für die Träger und für das Volk tiefer erkannt worden. Und eben auch: wie wichtig die Gabe des Zölibates ist. Denn darin liegt ja der Stachel für unsere Gesellschaft. Darum wundert es gar nicht, wie sehr sie dagegen anrennt. Bei einem Zölibatär muss man immer sagen: Entweder ist der verrückt, oder es gibt Gott. Eine andere Alternative gibt es nicht. Und wenn die Menschen feststellen, der ist nicht verrückt, dann muss es Gott geben. Überzeugend gelebt ist der Zölibat immer noch der schlagendste Gottesbeweis.

Braucht die Kirche in Deutschland eine Reformation?

Meisner: Ja! Aber keine Revolution wie 1517. Doch eine Reformation, die braucht sie! Die Kirche versteht sich ja selbst als "/ecclesia semper reformanda",/ also als Kirche, die immer reformiert werden muss. Diese Umformung brauchen wir immer, als ständige Ausrichtung auf den Ursprung. Wenn Sie das Rheinwasser in Köln trinken, wird Ihnen schlecht. Sie müssen den Strom hinauf. An der Quelle, da schmeckt der Rhein. So auch bei der Kirche: zurück zur Quelle!

Braucht die Kirche ein neues Konzil, um der Übermacht der Probleme Herr zu werden, die sie vor sich herschiebt?

Meisner: Nein, denn erst einmal muss das letzte Konzil entdeckt werden. Was es wirklich war, ist noch weitgehend unbekannt. Das ist die große Tragik, die diesem Konzil widerfahren ist. Dafür sind die Ausdrücke "vorkonziliar" und "nachkonziliar" so verräterisch. Das Konzil hat doch keine neue Kirche geschaffen. Es hat doch keinen Bruch gebracht. Denn wenn ein Ereignis die Kontinuität der Kirche zerstört, schneidet es sie von der Quelle ab, dann bleibt wie bei einem Fluss nur Schlick zurück.

Können Sie sich denn Benedikt XVI. als Reformator der deutschen Kirche vorstellen?

Meisner: Aber natürlich, und das werden spätestens dann alle merken, wenn er einmal nicht mehr ist. Wenn sein Depositum zu leuchten beginnt. Die Wahrheit kann man nicht in einer Konservendose verschließen. Die Wahrheit ist wie das Licht. Man kann sich gegen das Licht nicht schützen. Es ist einfach da. Alle, die jetzt sagen, der Papst sei das größte Hindernis, haben Recht: Er ist das größte Hindernis für die modernen Atheisten. An der Philosophie und Theologie von Joseph Ratzinger kommen sie nicht vorbei.

Sie haben die beschwerliche Reise nach Rom auf sich genommen. Warum waren Sie nicht auf dem Ökumenischen Kirchentag in München?

Meisner: Ich wollte am 13. Mai 2010 in Fatima sein. Es war der 20. Jahrestag, an dem ich im Auftrag von Papst Johannes Paul II. die erste Großwallfahrt nach dem Untergang des Kommunismus leitete. Nun war Papst Benedikt XVI. der neue Pilgerführer. Ich wäre sehr gern dabei gewesen. Aber dann kam die Aschewolke und verhinderte den Flug nach Portugal. Gott tut nichts als fügen.

Was sollte im Vordergrund stehen, wenn Katholiken sich treffen?

Meisner: Eucharistiefeiern, Anbetung, Verkündigung des Wortes Gottes, Erfahrungsaustausch im Glauben, Besinnung auf unseren missionarischen Auftrag. Daraus ergibt sich alle Aktion.

Inzwischen ist die Menschwerdung Gottes kaum noch zu vermitteln -- an die selbst viele Christen immer weniger glauben. Wie würden Sie denn einem Marsmenschen die Dreifaltigkeit Gottes erklären?

Meisner: Wenn das ein Mensch ist, ist es gar nicht schwer zu erklären. Denn ein Mensch kann ohne Liebe nicht leben. Und zur Liebe gehören immer zwei. Und eigentlich drei.

Wieso?

Meisner: Weil Gott die Liebe ist und den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, und zwar als Mann und Frau, damit die beiden eins werden -- und aus dieser Einheit die Dreiheit kommt, das Kind. Liebe kann es eben nie allein geben, weil die Liebe vom"Du" lebt. Gott ist kein Einzeller. Gott ist nicht für sich. Gott distanziert sich nicht. Gott ist Gemeinschaft. "Lasst uns den Menschen schaffen nach unserem Bild und Gleichnis!", sagt er zu Anfang. Darum musste der Mensch als Mehrzahl erschaffen werden. Sonst könnte er nicht Ebenbild Gottes sein.

Sind das nicht alles theologische Spitzfindigkeiten?

Meisner: Mir sagte mal jemand: "Ist die Trinität nicht das Ergebnis griechischen Denkens? Wenn wir das fallen lassen würden, hätten wir doch gleich die Einheit mit den Muslimen und den Juden." Das ist eine große Täuschung. Denn damit wäre der Kern des Christentums getroffen. Das hat sich doch kein Kirchenvater ausgedacht. Das hat der Herr uns selbst gezeigt. An der Dreifaltigkeit Gottes merken Sie, dass Gott Gott ist -- und dass er nicht in mein Gehirn passt. Das ist keine Mathematik. Er ist größer als unser Herz, wie die Heilige Schrift sagt.

Zurück zur Gegenwart. Fürchten Sie sich vor der Zukunft?

Meisner: Wovor denn? Schauen Sie in das 20. Jahrhundert zurück. Das war die Zeit der Märtyrer. Wo aber sind denn die Peiniger der Gläubigen von damals geblieben, die Nazis und die Kommunisten? Ich habe beide erlebt und erlitten. Christus bleibt bei seiner Kirche bis zur Vollendung der Welt.

In der Französischen Revolution wurden Christen Fanatiker genannt ...

Meisner: ... ja, und damals wie heute wurde die Feindschaft zur Kirche als Aufklärung verkauft. In solchen Situationen müssen wir Bischöfe wieder starke Zeugen sein. Ein Zeuge eckt immer an. Unsere Vorfahren im Glauben wurden in den ersten zwei Jahrhunderten vor die Löwen geworfen. Wir werden heute in den Medien nur vor die Menschen geworfen. Sollten wir uns davor fürchten?

Auf dem Flug nach Fatima hat Benedikt XVI. aber auch darauf hingewiesen, dass in Wirklichkeit nicht äußere Feinde die Kirche bedrängen -- sondern die Sünden aus dem Innern.

Meisner: So ist es. Das haben wir in der letzten Zeit zu Genüge gesehen. Auf die Kirche trifft zwar zu, was der greise Simeon über Jesus als Säugling gesagt hat: "Er ist gesetzt zum Fall und zur Auferstehung von vielen. Ein Zeichen, dem widersprochen wird." Das trifft auch auf die Kirche zu. Auch sie ist ein Zeichen, dem widersprochen wird, und das muss so sein. Aber wir dürfen uns nicht damit trösten und sagen: na ja, das ist uns ja vorausgesagt. Denn es gibt einen Widerspruch, der berechtigt ist. Deshalb müssen wir bei allen Widersprüchen genau hinhören, damit wir keinen Einspruch überhören, der berechtigt ist. Daran habe ich oft gedacht, als nun alles losbrach.

Ist die nächste Machtprobe der Kirche mit der Öffentlichkeit nicht schon vorprogrammiert, allein wegen ihrer Haltung zum Lebensschutz, zum Gender-mainstreaming, zur Homosexualität, zur Gen-Industrie? Ist es nicht ein aussichtsloser Konflikt, in den die Kirche da hinein gerät?

Meisner: Sicher ist die Situation heute viel schwieriger als etwa damals in der DDR. Das habe ich schon oft gesagt: Aber diese Jahre waren auch eine Einübung für kommende Schwierigkeiten. Als damaliger Bischof von Berlin hat mich immer das Wort der Schrift ermutigt: "Mit meinem Gott springe ich über Mauern" (Ps 18,30). Das gilt auch heute und in Zukunft. Und es ist und bleibt meine tiefste Überzeugung: "Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden" (Röm 5,20). Daran habe ich mich in diesen letzten Monaten in den Tälern der Sünde immer festgehalten. Wo die Sünde groß ist, nimmt die Gnade überhand. Und ich möchte nicht wieder zu denen gehören, die nicht an die Wende glauben.

Haben Sie vor 1989 nicht daran geglaubt?

Meisner: Nein. Nur Papst Johannes Paul II. hatte daran geglaubt. Er hatte mir die Wende schon 1987 vorausgesagt.

Foto: (C) Paul Badde


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