17. April 2010 in Aktuelles
Fünf Jahre Benedikt XVI., 83 Jahre Joseph Ratzinger: Gestern feierte der Papst Geburtstag. Über den Zustand seiner Kirche macht er sich keine Illusionen. Umso rätselhafter ist seine Gelassenheit. Von Paul Badde/Die Welt.
Rom (kath.net/Welt) Es regnete in Strömen, als Papst Benedikt XVI. am Ostermorgen den Altar auf dem Petersplatz aus einem silbernen Eimer mit Weihwasser besprengte. War es nicht absurd? War nicht alles schon nass genug? Sah er nicht Regenschirme, so weit das Auge reichte?
Ja, und es war eine selten schöne Metapher, wie die Welt der katholischen Liturgie der Welt der medialen Wahrnehmung immer fremder wird. Es ist ein wirklicher "clash of civilizations", in dem der Zusammenprall verschiedener Kulturen die katholische Kirche allerdings auch von innen zu zerreißen droht.
Täglich werden neue Austrittszahlen gemeldet, vor allem in Deutschland, wo sich längst immer mehr Menschen auf die täglichen Nachrichten als auf die "frohe Botschaft" des Evangeliums verlassen. Da konnte vielen nur noch unverständlich bleiben, dass der Papst zu Ostern mit keinem Wort auf die pädophilen Missbrauchsfälle einging, die die Medien der westlichen Welt derzeit in immer neuen Wellen erregen - und zu denen er sich Tage zuvor mit einem langen Brief an die Iren gewandt hatte.
Zu Ostern steht der Papst nicht einer Pressekonferenz vor, sondern der Feier der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. In dieser Stunde wandte er sich von Rom aus - "urbi et orbi" - an 1,2 Milliarden Katholiken. Denn als Benedikt XVI. ist Joseph Ratzinger kein Deutscher mehr, auch wenn er seine alten Landsleute - und manchen Schweizer - inzwischen so herausfordert wie kein Mensch mehr seit Martin Luther.
Danach hat er sich nie gedrängt. Lieber wäre er leise in seine alte Heimat zurückgekehrt. Noch lieber hätte er in aller Ruhe sein Buch über Jesus von Nazareth vollenden dürfen, als am 19. April 2005 - drei Tage nach seinem 78. Geburtstag vor fünf Jahren! - plötzlich 266. Nachfolger des Apostels Petrus und als Oberhaupt der katholischen Weltkirche in das blendende Schneeweiß der Scheinwerfer aller Welt katapultiert zu werden.
Dahinter stand keine Karrierestrategie. Heilloser Schrecken erfasste ihn bei der Wahl. Noch Tage später sprach er von der Klinge der Guillotine, die er bei dem Votum der Kardinäle auf sich zustürzen sah. Denn über den Zustand der katholischen Kirche machte er sich keine Illusionen.
"Herr, oft erscheint uns deine Kirche wie ein sinkendes Boot, das schon voll Wasser gelaufen und ganz und gar leck ist", hatte er acht Tage vor dem Tod Johannes Pauls II. vor dem Kolosseum in einem flehentlichen Gebet über einem Meer flackernder Kerzen gerufen. "Das verschmutzte Gewand und Gesicht deiner Kirche erschüttert uns. Aber wir selber sind es doch, die sie verschmutzen.
Wir selber verraten dich immer wieder nach allen großen Worten und Gebärden. Wir ziehen dich mit unserem Fall zu Boden, und Satan lacht, weil er hofft, dass du von diesem Fall nicht wieder aufstehen kannst. Dass du, in den Fall deiner Kirche hineingezogen, selber als Besiegter am Boden bleibst."
Schonungsloser hätte seine Analyse auch gestern nicht ausfallen können, nach den fünf Jahren, die er nun schon selbst auf der Brücke des Bootes steht, das "voll Wasser gelaufen ist und ganz und gar leck" scheint. Höher sind die Wellen zu seinen Lebzeiten noch nie geschlagen. Ein Tsunami nach dem anderen schüttelt den 2000-jährigen Kahn von vorne und von hinten.
Und was macht der Kapitän des Schiffes Petri? Ist er vielleicht eingeschlafen? Träumt er? In gewisser Weise ja. Tatsächlich verfolgt er immer noch seinen alten Traum: mit letzter Kraft und um Himmels Willen mit seinem Buch über Jesus von Nazareth an ein glückliches Ende zu kommen. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus (in Maria) und seine Auferstehung von den Toten noch einmal glaubhaft neu für den Beginn des neuen Jahrtausends zu bezeugen.
Warum macht er das? Ist es seine Lust zu denken, seine Lust zu formulieren, seine Lust zu schreiben, die ihm so viele übel nehmen, die meinen, er müsse doch nun endlich regieren, den Zölibat abschaffen, das Frauenpriestertum und das "Gender-Mainstreaming" einführen, Kondome und Abtreibung freigeben und überhaupt auf einem neuen Konzil das Papstamt abschaffen?
Stattdessen nimmt er höchst aufreizend in all diesen Stürmen in jeder freien Minute, die er dafür freinehmen kann, seinen Bleistift wieder auf und schreibt an seinem Buch so weiter, wie seine Mutter einmal das Strickzeug aufgenommen hat, um weiter warme Pullover für ihn und seinen Bruder zu stricken.
Vielleicht ist es deshalb ja ein Ausweis himmlischen Humors, dass die Kardinäle ausgerechnet ihn gewählt haben, um das Schiff der Kirche durch die ersten Stürme der digitalen Revolution zu steuern, durch Gefährdungen, von denen sich vor ihm kein Papst einen Begriff machen konnte. Ihm ist jedenfalls zugefallen, mit dem Bleistift in der Hand der erste Papst im Zeitalter einer sich überschlagenden Beschleunigung zu werden - wo man jetzt schon jede Abtei vergessen kann, in deren Klosterzellen ein Internetanschluss gestattet ist. Da geht vor unseren Augen eine 1500-jährige Kultur zu Ende. Mit solchen Brüchen, aber auch allem Versagen, aller Sünde und allen Verbrechen innerhalb der Kirche ist er vertraut wie kaum ein Zweiter.
Umso rätselhafter ist deshalb vielen seine unbeirrte Gelassenheit, mit der er sich nicht von der öffentlichen Meinung vor sich hertreiben lässt. Denn ihm mangelt es nicht an wirklichen Feinden, in New York und Peking ebenso wie auf den Fluren des Vatikans, aus vielen verschiedenen Motiven. Er widersetzt sich allen Verfechtern einer Kollektivschuld. Einer Multikulti-Seligkeit hat er nie angehangen. Im Gefahrenherd des Nahen Ostens hört er nicht auf, konsequent eine Zweistaatenlösung anzumahnen. In Amerika steht er mit seiner Rigorosität in ethischen Fragen den Bio-Ingenieuren im Weg - und dem Milliardengeschäft, das hinter ihnen winkt. Es gibt also Gründe genug, das Papstamt zu delegitimieren zu suchen und die Autorität der katholischen Kirche in moralischen, politischen und ethischen Fragen grundsätzlich zu dekonstruieren.
Auch deshalb schreibt der Papst in jeder freien Minute weiter an seinem Buch. Das mag absurd klingen und gehorcht doch einer strengen Logik. Denn hinter allen Krisen sieht sich Benedikt XVI. in seinem Pontifikat mit einer viel dramatischeren Katastrophe konfrontiert als jener, von der nun alle Welt spricht. Das ist der Zusammenbruch des Glaubens und der christlichen Doktrin innerhalb einer Generation. Da geht es nicht mehr um einen Skandal hier und ein skandalöses Interview da. Da geht es um den Kern des Glaubens: um Jesus Christus.
Keine 30 Prozent der Menschen in Deutschland glauben mehr an das ewige Leben - und darunter befinden sich auch eine Reihe prominenter Theologen. An die Auferstehung Christi werden noch viel weniger glauben. In den Kommentarspalten der Online-Medien quellen die Stimmen über von einer Aggression gegen die Kirche, wie Europa sie seit den Tagen der Französischen Revolution nicht mehr erlebt hat.
Benedikt XVI. feiert Namenstage, Joseph am 19. März, Benedikt am 11. Juli. Dennoch wird sein heutiger Geburtstag seinen Blick gewiss wieder zurück auf seine Eltern lenken, deren Glauben und Ehre er in seinem Buch retten will: den "Glauben der Väter", wie es früher hieß. Dieser Blick zurück auf die Eltern ist der Schlüssel und Inbegriff aller Tradition. Es ist der 2000-jährige Glaube der Kirche, den er nun als Papst und führender Theologe unserer Zeit noch einmal radikal verteidigen will vor all jenen Kollegen seiner Zunft, die dachten, den Glauben neu erfinden zu müssen.
Darum hat er im letzten Jahr ein "Priesterjahr" ausgerufen für eine unbedingt notwendige Reinigung der katholischen Elite. Darum hat er das waghalsige Abenteuer einer Versöhnung mit den Piusbrüdern auf sich genommen. Es ist eine radikale Neumissionierung der Kirche mit neuesten Argumenten zur ganzen Überlieferung, die ihm keine Ruhe lässt. Deshalb setzt er sein Leben daran, neu von Jesus von Nazareth zu erzählen. Das menschliche Gesicht Gottes ist das Siegel seines Pontifikats.
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