4. März 2009 in Deutschland
Jeden Tag begehen drei Menschen in Deutschland Selbstmord, indem sie sich vor einen Zug werfen. Statistisch trifft es jeden Lokführer zweimal. Gerd Kraetke hat der Glaube geholfen, seine sechs Vorfälle zu verarbeiten.
Frankfurt/Oder (kath.net/idea) Vor zwei Monaten stand es auf den Titelseiten: Einer der reichsten deutschen Unternehmer Adolf Merckle hat sich aus Verzweiflung über die Lage seiner Firmen vor den Zug geworfen. Bei Zugdurchsagen heißt es dann bei den langen Verspätungen, es habe einen Unfall mit Personenschaden gegeben.
Jeden Tag begehen drei Menschen in Deutschland Selbstmord, indem sie sich vor einen Zug werfen. Diese Zahl hat vor kurzem der Chef der Deutschen Bahn, Hartmut Mehdorn, bekannt gegeben. Über 1.000 Lokführer müssen damit leben, dass sie ohne eigene Schuld am Tod eines Menschen beteiligt sind.
Nach der Statistik trifft es jeden Lokführer im Laufe seines Berufslebens zweimal. Einer, der schon sechsmal mit Selbstmorden oder schweren Unfällen auf der Schiene zu tun hatte, ist Gerd Kraetke aus Frankfurt/Oder. idea-Mitarbeiter Klaus Rösler hat mit ihm gesprochen.
Gerd Kraetke geht nach wie vor gern zur Arbeit. Lokführer das ist sein Traumberuf. Für die DB-Regio steuert er im Personenverkehr moderne elektrische Wendezüge mit Loks der Baureihe 112, 114 oder 143 zwischen Frankfurt/Oder und Magdeburg oder Dresden. Der 49-Jährige ist seit 1976 bei der Bahn. Bei der damaligen Deutschen Reichsbahn hat er den Beruf des Lokschlossers gelernt und sich dann 1981 zum Lokführer fortbilden lassen.
Religiös interessiert war Kraetke schon immer. Doch intensiv mit Glaubensfragen hat er sich erst beschäftigt, als 1990 seine erste Tochter Luise geboren wurde. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems wollte er seine Tochter gerne taufen lassen.
Das Gespräch mit dem Pfarrer hatte Folgen. Denn ihm wurde klar, dass dieses Kind kein Produkt des Zufalls sein konnte. Unsere älteste Tochter ist wie auch die anderen zwei später geborenen Kinder ein Geschenk von oben, bekennt Kraetke heute. Seitdem hält er sich zur Kirche und engagiert sich ehrenamtlich als Berater in der christlichen Familienberatungsorganisation Team.F.
Zu DDR-Zeiten keine Hilfe
Erste Erfahrungen mit Personenschäden wie es bei der Bahn im Amtsdeutsch heißt hatte Kraetke noch zu DDR-Zeiten 1983. Da war er zunächst in einen Unfall mit einem Auto verwickelt, das auf den Schienen stand. Er habe es mit seiner Lok von den Schienen geschubst, erinnert er sich. Die Insassen seien dabei zwar verletzt, nicht aber getötet worden.
Wenig später habe sich dann ein junges Mädchen aus Liebeskummer aus dem fahrenden Zug geworfen. Sie habe schwer verletzt überlebt. Damals habe es durch die Reichsbahn anders als heute keine Hilfe gegeben. Er sei nicht einmal krank geschrieben worden. Als Mann habe man sich keine Schwäche anmerken lassen dürfen nach dem Motto: Zähne zusammenbeißen und durch.
Drei Fälle in einem Jahr
Richtig schlimm sei es für ihn dann viele Jahre später 2001 geworden. Da gab es gleich drei Fälle. Zunächst sei ein 16-Jähriger vor seinen Zug gerannt und dabei schwer verletzt worden. Er wollte den Zug noch erreichen und lief deshalb durch den bereits geschlossenen Bahnübergang.
Kurze Zeit danach habe er dann auf seiner Strecke einen Toten gefunden. Über Funk sei die Nachricht gekommen, dass sich vermutlich ein Mensch auf der Strecke das Leben genommen habe. Er habe deshalb mit seinem Zug auf Schrittgeschwindigkeit gedrosselt und Ausschau gehalten.
Tatsächlich habe er dann die Leiche des Mannes gefunden und Bescheid gegeben. Der Anblick des verstümmelten Toten sei schlimm gewesen und habe sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Wenig später sei sein Zug wieder mit einem Auto zusammengestoßen. Die beiden Insassen seien dabei zum Glück nur leicht verletzt worden.
Diese Erlebnisse habe er nicht mit seinem Glauben an Gott in Einklang bringen können, der nach seiner Überzeugung die Welt in seinen Händen hält. Sein Glaube an einen guten, liebenden Gott im Himmel war erschüttert worden. Ein halbes Jahr lang zweifelte er stark an Gottes Existenz.
Er habe versucht, die Erfahrungen mit Hilfe der von der Bahn angebotenen Unterstützung in den Griff zu bekommen. Nach dem ersten Vorfall sei er zwei Wochen krankgeschrieben gewesen. Er habe später auch die Hilfe eines Bahnpsychologen in Berlin in Anspruch genommen. Und nach dem dritten Fall habe er eine Kur beantragt in einer großen Bahnklinik in Malente in der Holsteinischen Schweiz.
Minderwertigkeitsgefühle
Was macht eine solche Erfahrung mit einem Lokführer? Man fühlt sich schuldig, bekennt Kraetke. Obwohl er weiß, dass es dazu keinen Anlass gibt, sei dieses Gefühl einfach da. In der Bahn-Zentrale kennt man solche Erfahrungen. Dazu heißt es in einem von der DBAG zur Verfügung gestellten Gesundheitsbericht, dass durch das Überfahren eines Selbstmörders Triebfahrzeugführer besonders traumatisiert würden, da hier die Rolle des Täters und des Opfers durcheinandergeraten:
Der Lokführer fühlt sich aktiv verantwortlich, hat aber in aller Regel keine Chance, den bevorstehenden Unfall mit einer Person, die sich im Gleis befindet, oder einem Fahrzeug auf einem Bahnübergang zu vermeiden, da der Bremsweg auch bei sofortiger Einleitung einer Schnellbremsung zu lang ist, um die Lok noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen und so den Unfall zu verhindern. Derjenige aber, der den Unfall in erster Linie verursacht, stirbt oder wird schwer verletzt, ist also Täter und Opfer zugleich. Bei Kraetke äußerte sich das Trauma auch durch Minderwertigkeitsgefühle und Antriebsschwäche.
Wir haben einen freien Willen
Dass er sich nicht schuldig zu fühlen brauchte, das bekamen die Psychologie-Profis der Bahn bei ihm wieder hin. Doch für seine Glaubensprobleme hatten sie keine Lösung. Geistlich wieder in die richtige Spur hat ihn die Familienberatungsorganisation Team.F geführt. Er nahm am Seminar Heile Persönlichkeit teil.
Dabei habe er gelernt, dass Gott jedem Menschen einen freien Willen gegeben hat, erinnert er sich. Es gehöre zum Menschsein dazu, dass diese gute Sache nicht immer gut angewandt wird. Ihm wurde klar, dass Gott zwar den Selbstmord eines Menschen zulässt und keine Engel zum Schutz aussendet, aber dass er sich als Lokführer geistlich dafür nicht verantwortlich zu fühlen braucht.
Diese Erkenntnis hat ihm geholfen, als er später erneut mit Toten konfrontiert wurde. Zunächst sah er eine Leiche bei einer Durchfahrt im Bahnhof Berlin-Charlottenburg. Sein von ihm gesteuerter Zug hatte mit diesem Fall eines Selbstmörders nichts zu tun. Aber natürlich schaue man als Lokführer schon hin, wenn man erfährt, dass es da einen Personenschaden auf seiner Strecke gibt. Er sah die mit einem Tuch abgedeckte Leiche im Bahnhof liegen.
Man ist so hilflos
Vor zwei Jahren hatte er dann unmittelbar mit einem Selbstmord zu tun. Genau am Geburtstag seiner Frau nahm sich im Bahnhof Brandenburg eine Frau das Leben. Kraetke fuhr mit seinem Zug in den Bahnhof ein, als die Frau auf die Gleise sprang und ihren Kopf auf die Schienen legte. Er konnte ihr noch in die Augen blicken, aber er konnte den Zug nicht mehr anhalten.
Man ist so hilflos, beschreibt er seine Gefühle. Er habe zudem jedes Empfinden für die Zeit verloren. In so einem Fall greifen die Vorschriften der Bahn. Der Lokführer setzt einen Notruf ab. Die Strecke wird dadurch komplett gesperrt. Die Bahn schickt einen Notfallmanager, der alles Notwendige veranlasst. Staatsanwaltschaft und Polizei nehmen die Ermittlungen auf. Für den Lokführer ist der Fall damit abgeschlossen. Ein Kollege kommt vorbei und fährt den Zug später an den Zielort.
Kraetke hat beobachtet, dass die Bahnreisenden in Unfällen mit Personenschäden ausgesprochen verständnisvoll reagieren denn natürlich komme es zu deutlichen Verspätungen, weil der Zug nicht weiterfahren kann ebenso wie alle anderen Züge auf der Strecke.
Nach dem jüngsten Unfall hat Kraetke neben der Soforthilfe der Bahn auch die Hilfe zweier befreundeter Christen gesucht. Noch am selben Abend kamen sie vorbei. Sie hörten zu und dann beteten sie miteinander eine gute Stunde.
Ich habe damals offenbar alles richtig gemacht, schildert Kraetke seine Empfindungen. Denn während er früher nach ähnlichen Vorfällen auf der Lok immer wieder zu posttraumatischen Belastungsstörungen gekommen sei so habe er etwa das Peng-Geräusch gehört, das beim Zusammenprall der Lok mit einem Körper entsteht, oder die Erinnerung an die Gerüche beim Unfall , seien nach dem Gebet diese Symptome nicht aufgetaucht.
Angst vor Nachahmern
Berichte über Selbstmorde auf Schienen liest man in der Chefetage der Deutschen Bahn AG nicht gerne nicht nur wegen der damit verbundenen negativen Schlagzeilen, wie das zuletzt beim Selbstmord des Pharma-Unternehmers Adolf Merckle der Fall war. Er hatte sich Anfang Januar in Blaubeuren 300 Meter von seiner Villa entfernt von einem Zug überrollen lassen.
Vielmehr ist man in Sorge vor einem Nachahmereffekt. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen als Werther-Effekt bezeichnet, benannt nach Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther. Der darin beschriebene Selbstmord löste in Europa eine Reihe von Suiziden aus.
Dazu hat der amerikanische Soziologe David Phillips festgestellt, dass in der modernen Mediengesellschaft der Selbstmord von Prominenten ebenfalls zu einem deutlichen Anstieg von Selbstmorden führt, heißt es in einer Untersuchung, die die Bahn zur Verfügung stellt, wenn man als Journalist nach Informationen rund um das Thema Selbstmord auf Schienen fragt.
Als etwa das ZDF 1981 die dokumentarisch gehaltene sechsteilige Serie Tod eines Schülers ausstrahlte der Jugendliche hatte sich vor einen Zug geworfen , stieg die Zahl der Selbstmorde unter den 15-bis19-jährigen Schülern um 175 % an, berichtet das Fachmagazin Der Nervenarzt.
Gute Betreuung
Kraetke bescheinigt der Bahn, dass sie im Fall eines Unfalls mit Personenschäden eine gute Arbeit macht. Bereits seit 1994 gibt es ein systematisches Betreuungskonzept. Speziell ausgebildete Angehörige des Unternehmens bieten eine Psychische Erste Hilfe noch direkt am Unfallort an. Aus den Unterlagen einer Studie über diese Hilfe geht hervor, dass gerade diese Hilfe das positive Gefühl vermittelt, dass das eigene Unternehmen sich auch in schwierigen Situationen um die Mitarbeiter kümmert. Dadurch werde eine zusätzliche Traumatisierung verhindert.
Zum Betreuungskonzept gehört es auch, dass Lokführer im Rahmen der Fort- und Weiterbildung bereits auf solch einen Fall vorbereitet werden. Unter anderem gibt es für sie eine Selbsthilfebroschüre Psychisch belastende Ereignisse bewältigen. Zum Betreuungskonzept gehören auch Folgemaßnahmen, bei denen die Betriebsärzte, Psychologen und Sozialberater einbezogen sind.
Tatsächlich lässt sich das so Erreichte statistisch messen. Bei optimaler und frühzeitig einsetzender Betreuung konnten die Ausfalltage von Lokführern nach Unfällen von 22,9% auf 13,8% reduziert werden. Und der Anteil der Mitarbeiter, die länger als vier Wochen nach einem solchen Erlebnis erkrankten, konnte von 31,8% auf 9,7% gesenkt werden.
Kraetke ist wichtig, dass hinter jeder Zahl ein Kollege von ihm betroffen ist. Und er wünscht sich, dass möglichst viele von ihnen den christlichen Glauben kennen lernen. Denn der hilft, noch besser mit solchen Erfahrungen fertig zu werden. Das hat er selber an Leib und Seele erfahren.
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