Warum der Papst tun musste, was er tat

16. Februar 2009 in Aktuelles


Eine Exkommunikation ist kein Parteiausschluss und ein Bischof ist kein höherer Verwaltungsbeamter der Kirche. Nachhilfe für Gläubige und Ungläubige. Von Martin Mosebach / Der Spiegel.


Wien (www.kath.net) Die katholische Kirche erlebt einen beispiellosen Moment in ihrer neueren Geschichte. Eine priesterliche Handlung des Papstes, die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen, die gegen das Verbot seines Vorgängers im Petrusamt geweiht worden waren, trifft auf empörte Verständnislosigkeit in der nichtkatholischen Öffentlichkeit, aber auch bei vielen Katholiken und sogar Bischöfen, die dem Papst offen die Loyalität aufgekündigt haben.

Vierzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das eine „Öffnung der Kirche zur Welt“ anstrebte, ist die katholische Kirche sprachlos geworden, als kenne sie ihre eigenen Institutionen nicht mehr. Was ist ein katholischer Bischof? Ein höherer Verwaltungsbeamter der Kirche? Ein führender Politiker, der in seinen Äußerungen auf die Parteidisziplin verpflichtet werden kann?

So sehen den Bischof die Nichtkatholiken, jedenfalls die zeitgenössischen, weil man es ihnen nicht anders gesagt hat. Für Katholiken verkörpert ein Bischof die höchste Form des Priestertums, die verbunden ist mit der Fähigkeit, bei der Spendung der Sakramente Jesus Christus selbst zu vergegenwärtigen – eine Fähigkeit, die ihm bei der Weihe unzerstörbar eingeprägt wird und die ihm kein Papst und kein Konzil wieder nehmen kann.

Das ist das Beunruhigende am Bischofsamt: Auch der unwürdige, ärgerniserregende Bischof bleibt immer Bischof, bis zum letzten Atemzug imstande, neue Bischöfe in die authentische Nachfolge der Apostel einzureihen.

Was ist eine Exkommunikation? Ein Parteiausschluss? So verstehen sie die Nichtkatholiken, die auch den Ausschluss aus der Kommunistischen Partei gern „Exkommunikation“ nannten. Katholiken müssten wissen, dass ein vollständiger Ausschluss aus ihrer Kirche gar nicht möglich ist.

Durch keine Tat, so schrecklich sie sei, kann der Getaufte für die Kirche zum Unberührbaren werden. Wenn sie als äußerste Strafe einem Getauften verbietet, seine Sünden zu beichten, in der Messe den eucharistischen Christus zu empfangen und die Sterbesakramente zu erhalten, tut sie das immer in der Hoffnung, diese Exkommunikation bald wieder aufheben zu können, denn die Verantwortung, einen Menschen ungetröstet sterben zu lassen, kann im Grunde keine geistliche Autorität übernehmen wollen.

Strenggenommen exkommuniziert sich derjenige selbst, der gegen die Einheit der Kirche verstößt – die Aufhebung dieser Exkommunikation kann ihm nicht verwehrt werden, wenn er aufrichtig begehrt, zu dieser Einheit zurückzukehren. Zu Recht hat man die Exkommunikation als politisches Druckmittel, wie sie im Mittelalter oft angewandt wurde, verurteilt; die jüdische Philosophin Simone Weil nannte solche Exkommunikationen eine Todsünde der Kirche.

Wie wenig die Aufhebung einer Exkommunikation mit moralischer Anerkennung zu tun hat, zeigt, dass Mörder und Kinderschänder nicht automatisch exkommuniziert werden. Die Gemeinschaft, die den Exkommunizierten wieder aufnimmt, ist eine Gemeinschaft der Sünder.

Dies dürften die grundsätzlichen Überlegungen Papst Benedikts gewesen sein, als er die Exkommunikation der vier gegen das Kirchenrecht, aber sakramental gültig geweihten Bischöfe aufhob. Es muss eine quälende Vorstellung für den Papst gewesen sein, diese Bischöfe könnten in ihrer Isoliertheit der Versuchung erliegen, das Schisma zu perpetuieren und weitere Bischöfe zu weihen. Die Sakramente bilden das Herz der Kirche; die Gefahr, dass über sie dauerhaft unter Bruch der Einheit verfügt würde, muss den Papst außerordentlich beunruhigt haben.

Nun hatte inzwischen die ganze Welt Gelegenheit, im Fernsehen einen der vier Bischöfe, den Briten Williamson, die abstoßendsten Thesen über die Judenverfolgungen der Hitlerzeit äußern zu hören; es offenbarte sich hinter dem scheinbar leidenschaftslosen Pokerface des Prälaten eine an Irrsinn
grenzende Paranoia, mit der, wie man in seiner Bruderschaft längst wusste, ein ganzes Wahnsystem aus ähnlichem „Geheimwissen“ verbunden war.

Dass ein allgemeines Entsetzen darüber herrschte, einen solchen Mann nun bald als offiziellen,
mit dem Papst versöhnten Bischof seines Amtes walten zu sehen, ist verständlich. Warum aber bemerkte die breite Öffentlichkeit nicht, dass Bischof Williamson sein Amt eben gerade nicht ausüben darf, weil die Aufhebung der Exkommunikation seine Suspendierung vom Bischofsamt gar
nicht berührte?

Stattdessen erging man sich in Vermutungen, ob es beim Papst nicht doch eine geheime Neigung zum Antisemitismus gebe, bei einem Papst – lassen wir seine Reden in Auschwitz und in der
Kölner Synagoge ganz beiseite –, der in seiner Theologie, man könnte sagen, als erster Papst nach Petrus, versucht hat, das ganze Evangelium als Werk des Judentums zu lesen und zu verstehen.

So kam es dann zu der lächerlichen Nachricht, der Papst habe die Bedingungen für die Aufhebung der Suspendierung der Bischöfe unter dem Druck der Öffentlichkeit angeordnet. Man täusche sich nicht: Dieser Papst tut gar nichts unter Druck der Öffentlichkeit.

Die Frage wurde gestellt, ob Benedikt XVI. von Williamsons schlimmen Reden gewusst habe. Die geistige Atmosphäre in der Piusbruderschaft kann ihm freilich nicht ganz entgangen sein, Weltfremdheit und Eiferertum klang ja gerade auch aus den vielen Angriffen, die die Bischöfe der Bruderschaft unablässig gegen den Papst richteten.

Und es ist sehr gut möglich, dass es gerade dieses Wissen von einer wachsenden krankhaften Verengung der Geister war, das den Papst zum Handeln angetrieben hat. Als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation hatte er sich vor zwanzig Jahren schon einmal mit ganzer Kraft um eine Aussöhnung mit der Piusbruderschaft bemüht.

Damals lebte deren Gründer, der legendäre Erzbischof Lefebvre, noch; er hatte am Konzil teilgenommen und war erst zum Oppositionellen geworden, als die 68er-Bewegung in die Nachkonzilzeit einbrach und aus der Reform eine Revolution machte. Seine Weigerung, den überlieferten uralten Messritus aufzugeben, hatte Papst Paul VI. mit der Suspendierung beantwortet.

Kardinal Ratzinger versuchte, den alten Mann zu gewinnen, und versprach, dass der Papst einen traditionstreuen Bischof für die Gemeinschaft ernennen werde. Dann erwachte Lefebvres Misstrauen, er fühlte sich hingehalten, brach die Verhandlungen ab und weihte die vier Bischöfe, mit denen zusammen er daraufhin exkommuniziert wurde. Hatte Lefebvres es mit seiner Ahnung
richtig getroffen?

Kardinal Ratzinger jedenfalls muss der Tod dieses Mannes in der Exkommunikation bedrückt haben. Denn es war ihm unmöglich, dem Kampf Lefebvres die Berechtigung so vollständig abzusprechen, wie es die meisten Bischöfe dieser Zeit taten. „Wen solche Lehren nicht erfreun, / Verdienet nicht, ein Mensch zu sein“ – diese Hymne des Liberalismus aus Mozarts „Zauberflöte“ wurde auch zur Maxime der liberal gewordenen Kirche.

Die Piusbruderschaft wurde perfekt abgeschottet; an den Diskussionen der diskussionsfreudigen nachkonziliaren Kirche durfte sie nicht mehr teilnehmen; die jungen Priester zelebrierten die überlieferte lateinische Messe in Kellern und Garagen. Man könnte sagen: Die Bruderschaft baute Wagenburgen, aber um diese Wagenburgen gähnte die Leere – niemand kümmerte sich um sie.

Jeder Soziologe weiß, wie es sehr bald um die geistige Verfassung kleiner von der Reibung an der Realität abgeschnittener Oppositionsgruppen bestellt ist. Dass die Gruppe gefährdet war, hätte für einen verantwortungsvollen Priester genügt, sich um sie zu kümmern. Aber hier ging es um mehr:
Das Unglück wollte es, dass es genau diese Gruppe war, die sich als einzige die Bewahrung des größten Schatzes der Kirche zur Aufgabe gemacht hatte.

Über die Bedeutung der Liturgie für die Kirche zu sprechen ist auch heute noch ein schwieriges Unterfangen, vor zwanzig Jahren war es beinahe aussichtslos, dafür ein geneigtes Ohr zu finden. Für viele Kirchenleute stand damals fest, dass die überlieferte, über 1500-jährige Liturgie der Kirche ein dekoratives Brimborium für Nostalgiker und Ästheten sei, das für das geistliche Leben des mündigen Christen eine ähnliche Bedeutung habe wie das Streichquartett beim Staatsakt für die Politik.

Vergessen war, was durch die gesamte Geschichte der lateinischen Kirche gegolten hatte: dass die Liturgie der sichtbare Leib der Kirche ist – dass Kirche und Liturgie identisch sind. Sie ist die
mystische Darstellung der gesamten Fülle der offenbarten Wahrheiten. Sie ist der Ort des Glaubens, an dem aus subjektiver Überzeugung und Empfindung objektive Anschauung und Begegnung werden.

Es ist diese Liturgie, die den Christenglauben durch die Jahrtausende getragen hat; ihrer Sakralität
mit Kultsprache und Choral waren die Missionserfolge in der ganzen Welt zu verdanken. Über die tiefen Kulturbrüche der europäischen Geschichte war diese Liturgie hinübergegangen, weil sie gleichsam von jeder Zeitepoche, in die sie eintrat, gleich weit entfernt war – immer unzeitgemäß und damit immer ein Bild für die andere Wirklichkeit, die den Menschen erwartet.

Diese große Form der Liturgie wurde durch die radikale Messreform Papst Pauls VI., ein in der Kirchengeschichte bis dahin nicht erlebter Eingriff, aufgeweicht; sie zerfiel in tausend Improvisationen. Aber wieso war Erzbischof Lefebvre der einzige Bischof auf der Welt, der diesen Angriff auf die Liturgie und damit auf das innere Leben der Kirche kompromisslos abwehrte?

Mit diesem Nein zu einem für die Kirche hochgefährlichen Zerfallsprozess ist Lefebvre in die Kirchengeschichte eingegangen. Kraft gab ihm ein nur in Frankreich zu findendes Milieu katholischer Laien, die ihre Weltsicht im Kampf gegen den aggressiven republikanischen
Laizismus erworben hatten.

Das war die Tragik Lefebvres und seiner Bewegung: Sie retteten die alte Liturgie, aber sie verknüpften sie mit allem Parteienstreit der neueren französischen Geschichte. Die einzige Zuflucht, die die überlieferte Liturgie gefunden hatte, drohte ihr Gefängnis zu werden. Aus diesem Gefängnis hat Papst Benedikt sie schon mit seinem Motu proprio befreit und sie mit ihrem universellen Anspruch der ganzen Kirche zurückgegeben.

Aber musste er nicht auch gegenüber der Piusbruderschaft ein Gefühl der Verpflichtung empfinden, ein Gefühl, dass sie mit all ihren Makeln zu einem Instrument geworden war, um das Sanctissimum der Kirche über eine Krisenzeit zu bewahren? Ob es der Piusbruderschaft gelingt, in der Vielfalt der kirchlichen Gegenwart ihren Platz zu finden, kann nun in Ruhe abgewartet werden; ihre historische Aufgabe jedenfalls ist abgeschlossen.

In den letzten Tagen war immer wieder zu hören, der Vatikan sei unfähig, seine Anliegen der Öffentlichkeit zu vermitteln. Und es stimmt sicher: Hätte man etwa bei Bekanntgabe der Aufhebung der Exkommunikation zugleich betont, Bischof Williamson bleibe bis auf weiteres suspendiert, hätte es bei den Gutwilligen weniger Erregung gegeben.

Aber man darf nicht unterschätzen, dass mehr als dreißig Jahre vernachlässigter Religionsunterricht
auch bei gläubigen Katholiken schwarze Löcher der Ahnungslosigkeit hat entstehen lassen, die keine noch so geschickte Pressearbeit zu schließen vermag. Weite Kreise wissen vom Papst nur, dass er für die Menschenrechte und gegen die Kondome ist.

Gern wird verkündet, die Kirche dürfe „nicht hinter das Zweite Vatikanische Konzil“ zurückgehen, aber wenige denken an die Widersprüchlichkeit und die Auslegungsbedürftigkeit der wichtigsten
Texte dieses Konzils. Bemerkt niemand, dass der Papst mit seiner großzügigen Aufhebung der Exkommunikation gerade der Konzilstheologie entsprochen hat?

Die Wiederherstellung des sakralen Gesichts der Kirche muss den meisten „weltlichen“ Beobachtern ein fremdartiges und unverständliches Ziel bleiben. Dass die Wiedergewinnung der liturgischen Identität ein großes Opfer wert sein könnte, werden wahrscheinlich erst spätere Generationen begreifen. Aufbauen geht eben langsamer als einreißen.

Natürlich könnte es durchaus so weit kommen, dass Staat und Gesellschaft die Lust verlieren, in ihren Grenzen eine Korporation zu dulden, die ersichtlich unter einem anderen Gesetz steht und
andere Werte verteidigt als die säkulare Mehrheit. Die Grobheit einer wahlkämpfenden Kanzlerin gibt dafür einen Vorgeschmack.

Es könnte den Katholiken wieder wie unter Bismarck zum Vorwurf gemacht werden, sie seien schlechte Staatsbürger, denn ihr Herz hänge „jenseits der Berge“, ultramontan, am Papst und seiner
Autorität. Ultramontan – dies Wort beschreibt vorzüglich die katholische Mentalität: mit einem kleinen Teil des Bewusstseins nicht Deutscher, nicht Zeitgenosse, nicht Erdenbürger zu sein.

Bei allem Misstrauen muss das Gemeinwesen mit solchen Mitgliedern nicht schlecht fahren – Ergebnis der Dauerspannung zwischen Papst und Kaiser im Mittelalter war nichts Geringeres als die europäische Vorstellung von der Freiheit.

Der Beitrag erschien in „Der Spiegel“ 7 / 2009. Der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Mosebach, 57, lebt in Frankfurt am Main. Als bekennender Katholik ist er Anhänger der lateinischen Messe nach dem tridentinischen Ritus. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Stadt der wilden Hunde“.

Foto: Christoph Hurnaus


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