Gott oder die Spaßgesellschaft

31. Dezember 2008 in Deutschland


Kardinal Joachim Meisner zu Sylvester: Erwecken wir die Sehnsucht nach Gott, damit wir von den Süchten des Menschen nicht deformiert werden


Köln (kath.net)
Kath.Net dokumentiert die Sylvesterpredigt von Kardinal Meisner im Hohen Dom zu Köln:

Liebe Schwestern, liebe Brüder!

1. An keinem Abend im ganzen Jahr wird uns die Eingebundenheit unseres Daseins in die Zeit so deutlich wie am Sylvesterabend. Wir können die Zeit nicht anhalten. In fünf Stunden ist das Jahr 2008 vorbei, und das Neue Jahr 2009 hat begonnen. Wir sind hineingebunden in Raum und Zeit, vom Anfang unseres Lebens bis ans Ende unseres Lebens. Es gibt nur einen, von dem es heißt: „Er ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8), der also nicht hineingebunden ist in unsere geschöpflichen Gegebenheiten von Raum und Zeit.

Gott ist zeitlos, das heißt ewig. Aber dennoch hat er sich für 33 Jahre in Jesus Christus in die menschlichen Bedingungen der Zeit einbinden lassen, obwohl er zeitlos war. Darum ist die Begegnung mit ihm der einzige Punkt, in dem wir mit unserer Zeit mit der Ewigkeit Gottes in Berührung kommen. Deshalb stellen wir das Ende des Jahres 2008 und unseren Anfang 2009 in die Gegenwart Christi, der derselbe gestern, heute und in Ewigkeit ist, sodass wir aus dem Dasein, das dem einer Eintagsfliege gleicht, in Gottes Ewigkeit hineingenommen werden.

Unsere Vorfahren sagten bei einem Jahreswechsel: „Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der beste Lebenslauf“.

Darum beendigen wir das Jahr 2008 mit Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, und wollen das
Jahr 2009 mit ihm beginnen.

2. Wir schauen zurück auf 2008, um die Großtaten Gottes zu preisen, der uns in seinem Erbarmen hält und trägt, obwohl wir Menschen immer wieder versagt haben und schuldig geworden sind. So haben auch 2008 die Kriege auf unserem Erdball nicht abgenommen, sondern zugenommen. Ich nenne hier nur ein paar Stichworte: Afghanistan, Georgien, Irak, den Nahen Osten, die Terroristenüberfälle in Bombay und anderswo.

Ein kritischer Blick in das vergangene Jahr lässt uns zur traurigen Erkenntnis kommen, dass auch die Christenverfolgungen nicht abgenommen, sondern zugenommen haben. Von allen Religionen der Erde werden die Christen zurzeit am meisten verfolgt. Hier sei an Indien, Indonesien, ebenfalls den Irak und andere Regionen erinnert.

Das alles sind keine Naturereignisse, die über die Menschheit hereingebrochen sind, sondern sie haben alle ihre Wurzeln im Menschen, in seinem Denken und Handeln.

Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch wie Gott werden kann. Wo dieser Bezug zu Gott hin
fehlt, verliert sich der Mensch als Abbild von seinem Urbild, von Gott, und er wird deformiert. Aus dem Mikrokosmos Mensch wird das Chaos, und er reißt seinen Mitkosmos, das ist den Makrokosmos um sich herum, in diesen chaotischen Zustand mit hinein.

Seine gottesebenbildlichen Kräfte sind nicht mehr in das Urbild Gott hineingebunden, sodass sie ausufern und den Menschen gleichsam überschwemmen. Seine Sehnsucht nach Gott pervertiert dann in die Habsucht, Ehrsucht und Genusssucht, die den Menschen entstalten und seine Umwelt und Mitmenschen gefährden.

In der Geltungssucht erhebt sich der Mensch über den anderen. Sein Motto lautet: „Willst du nicht mein Bruder oder meine Schwester sein, dann hau ich dir den Schädel ein“.

Wo sich der Mensch nicht mehr als Kind Gottes sehen und werten kann, macht er sich selbst zu Gott
und meist zu einem Tyrannen, der andere klein macht. Religion ist nicht Privatsache. Wie schon das Wort sagt: „religio“ heißt Bindung, und zwar Bindung an Gott. Und wenn die verlorengeht, dann hat das negative Folgen für den Menschen und die Gesellschaft.

Wo der Mensch dem Gottmenschen keinen Raum in seinem Leben gewährt, dort pervertiert er zum Menschengott, der seiner Umwelt nur Leid und Not bringt. Gerade das 20. Jahrhundert gibt dafür schaurige Anschauung.

Wo die Sehnsucht nach Gott stirbt, pervertiert sie zur Habsucht, um sich durch Besitz Seligkeiten zu verschaffen, die letztlich nur Gott gewähren kann.

Das berühmte Wort des hl. Augustinus gehört hierher: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“. Wenn unsere Sehnsucht nach Gott durch die Habsucht ersetzt wird, dann ist das – um es noch einmal zu sagen – nicht Privatvergnügen des Einzelnen, sondern das kann die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen, wie wir ja das gerade an der weltweiten Wirtschaftskrise erleben.

Das ist auch kein Naturereignis, das über die Menschheit hereingebrochen ist. Das ist die Folge von falschem menschlichem Tun. Davon werden alle Völker, besonders die armen, betroffen, obwohl sie keine Schuld trifft und dieses Desaster nicht mit verursacht haben.

„Der Mensch ist der Weg Gottes durch die Geschichte“, sagt der große Papst Johannes Paul II.. Im Johannesevangelium steht: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11), d.h. der Mensch weigert sich, Weg Gottes in die Welt zu werden.

Dann kommen alle Götzen und Götter, die den Menschen unglücklich machen. Erwecken wir die Sehnsucht nach Gott, damit wir von den Süchten des Menschen nicht deformiert werden. Wo der Hunger und der Durst des Menschen nach ewiger Glückseligkeit, die nur Gott zu stillen vermag, keine Sättigung findet, dort sucht er Sättigung in seiner Umwelt. Der Dämon, der dann sein Herz erfasst, ist die Genusssucht.

Seine Mitwelt degeneriert dann zu einer Spaßgesellschaft. „Es muss Spaß machen“, ist die Norm für sein Dasein. Dafür wird der Mitmensch oft als Mittel zu diesem Zweck missbraucht.

Was wir als Prostitution, Alkoholismus und Drogensucht beklagen, ist die Folge davon, dass die Sehnsucht nach Gott von seinem Zielpunkt, von Gott, abgeschnitten ist und sich darum nun auf andere Götter konzentriert, wie ja eben den Genuss – koste es, was es wolle!

3. Liebe Schwestern, liebe Brüder, wir haben gesehen, wie der Tod Gottes – wie Friedrich Nietzsche sagt – zum Untergang des Menschen führt. Darum haben wir der Welt zu bezeugen, dass der Mensch eine andere Zukunft und Hoffnung hat. Christus zeigt uns, dass Gott das Ziel unserer Sehnsucht sein kann, denn dieser kümmert sich um uns (vgl. 1 Petr 5,7). Er sagt uns ausdrücklich: Ängstigt euch nicht! Euer Vater weiß ja, was ihr braucht. Unsere Zukunft ist in Gottes Händen. Im Gegensatz zum Heiden, der keinen Vater hat, weiß sich der Jünger Jesu deshalb selbst in den Sorgen und Nöten des Alltags von Gottes Liebe umfangen und in ihr geborgen.

Aus dieser Angstlosigkeit und Sorglosigkeit wird er fähig, den Mitmenschen zu dienen, für sie zu
sorgen und seine Mitwelt zu einem positiven Lebensraum mitzugestalten. Dieser Gott ist suchender Vater. Gott sucht. Das Evangelium zeigt uns das verlorene Schaf, die verlorene Drachme, den verlorenen Sohn als Ziel des Handelns Gottes. Hat er das Verlorene gefunden, so freut er sich.

Gott ist immer der suchende Gott, der einladende Gott, der wartende Gott, der entgegengehende Gott. Immer besingt und bezeugt uns das Evangelium das vorauslaufende und unerschöpfliche Erbarmen Gottes und seine unüberbietbare Bereitschaft, alle Mühseligen und Beladenen zu sich selbst einzuladen. Gott gibt wirklich Hoffnung und Zukunft. Er verschafft dann den Armen und Bedrängten Frieden und Freude.

Christus zeigt uns, dass Gott rettender Vater ist. Christus ist ja selbst das Bild des unsichtbaren Vaters. Wer ihn sieht, sieht den Vater. Jesus rettet den Kranken, er rettet den Sünder, den Toten, wenn wir an die Auferweckung des Lazarus denken oder an den toten Sohn der Witwe von Naim. Jesus Christus ist gleichsam die Epiphanie des Vaters: In Christi Wirken wird das Wirken des Vaters offenbar. Wie Christus, so hat auch der Vater immer das Herz bei den Armen und rettet sie. Das Herz bei den Armen haben, heißt lateinisch „misericordia“, sein Herz schlägt immer auf der Seite derjenigen, die sich in einer Misere befinden.

Darum ist ihm das Schicksal der Welt nicht gleichgültig. Deshalb ist er im Stall von Bethlehem Mensch geworden, er ist einer der kleinen Leute geworden.

Die Kirche betet in diesen Tagen: „O Gott, du hast den Menschen wunderbar erschaffen, aber noch wunderbarer erneuert“. Als Ebenbild Gottes ist er am Schöpfungsmorgen ins Dasein getreten. In der Sünde hat er sein ursprünglich gottähnliches Dasein verloren.

Die Sehnsucht nach dem Urbild ist pervertiert, indem sie sich auf den Menschen selbst gerichtet hat und dann zur Habsucht, Genusssucht und Ehrsucht verkommen ist.

Christus als Heiland der Welt hat die ursprüngliche Würde des Menschen noch wunderbarer erneuert. Der Christ ist jetzt nicht nur Ebenbild Gottes, sondern Kind Gottes, Schwester und Bruder Jesu Christi. Wir heißen nicht nur Kinder Gottes, wir sind es! Dafür ist das Kind in der Krippe die Garantie und der Erweis. Vor der Krippe bekennen wir: Gott ist in seinem Sohn Mensch geworden. Und am Sylvesterabend 2008 im Kölner Dom bitten wir ihn, er möge uns helfen, ganz Mensch zu werden. Amen.

+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln


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