,Der Mensch entscheidet immer, was er ist’

7. November 2007 in Buchtipp


Der berühmte Wiener Psychiater Viktor E. Frankl (1905-1997) spricht in einem Büchlein über sein "experimentum crucis" im Konzentrationslager. Von Petra Knapp-Biermeier.


Wien (www.kath.net) Da war der Gestapo-Beamte mit Platzangst, das Marmorstück mit dem vierten Gebot, da war das Blatt mit einem jüdischen Gebet, das er in der Tasche eines Mantels findet, den er im KZ tragen muss – gehört hat er einem Vergasten… Viele kleine „Zufälle“ sind es, die Viktor E. Frankl (1905-1997) durch sein Leben begleitet haben.

Zufälle? Für den berühmten Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie gibt es keine „blinden Zufälle“. Es gibt vielmehr so etwas wie Sinnspuren, Anfragen des Lebens an den Menschen, kleine Hinweise, wie ein Weg gut zu gehen ist. In seinem Büchlein „Was nicht in meinen Büchern steht“ schildert er anhand seiner Biographie zahlreiche davon.

Warten auf das Ausreisevisum

Etwa jenen, als er im Zweiten Weltkrieg vor der wohl schwierigsten Entscheidung seines Lebens stand. Jahrelang hatte er auf ein Ausreisevisum in die USA warten müssen; kurz vor dem Eintritt der USA in den Krieg bekam er es. „Da stutzte ich: Sollte ich meine Eltern allein zurücklassen?“, hält Frankl in seinen Aufzeichnungen fest.

„Ich wusste doch, welches Schicksal ihnen bevorstand: die Deportation in ein Konzentrationslager. Sollte ich also ihnen adieu sagen und sie einfach diesem Schicksal überlassen?“ Unschlüssig geht Frankl spazieren. Er denkt: „Ist das nicht die typische Situation, in der ein Wink vom Himmel not täte?“

Ein kleines Marmorstück

Wieder zuhause zeigt ihm sein Vater ein kleines Marmorstück. Er hat es gerade auf einem Trümmerhaufen aufgelesen, dort, wo früher die Synagoge stand, die niedergebrannt worden war. „Das Marmorstück ist ein Stück von den Gesetzestafeln“, klärt ihn der Vater auf.

„Wenn es dich interessiert, kann ich dir auch sagen, auf welches der zehn Gebote sich der eingemeißelte hebräische Buchstabe da bezieht. Denn es gibt nur ein Gebot, dessen Initiale er ist.“ – Frankl fragt nach: „Und zwar?“ – Sein Vater darauf: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange lebest im Lande…“

Gestapo-Beamter mit Platzangst

Viktor Frankl hatte die Antwort auf seine Frage gefunden. Er blieb. Später wurde er deportiert, allerdings auch mit Verzögerung. Denn eines Tages erhielt er einen Anruf von der Gestapo mit der Bitte, er solle kommen und eine zweite Wäschegarnitur mitnehmen – das bedeutete, er werde nicht mehr zurückkehren.

Beim anschließenden Gespräch mit dem Beamten bat dieser um Hilfe für einen seiner Freunde: „Sie sind doch Psychotherapeut? Wie behandelt man eine Platzangst?“ – Frankl vermutete, dass der Beamte für sich selbst fragte.

„Sagen Sie ihm, wann immer sich die Angst meldet, soll er sich sagen: Ich habe Angst, ich könnte auf der Straße zusammenfallen? Schön, es ist genau das, was ich mir wünsche: Ich werde zusammenfallen, die Leute werden zusammenlaufen, mehr als das, mich wird der Schlag treffen, der Hirnschlag und der Herzschlag dazu, und so weiter und so weiter…“

Paradoxe Intention

Die von Frankl entwickelte Methode der Paradoxen Intention dürfte gewirkt haben: Er und seine Eltern lebten noch ein ganzes Jahr in Wien, ehe sie deportiert wurden.

Viktor E. Frankl überlebt vier Konzentrationslager, verliert dort Eltern, Geschwister und seine Frau Tilly, entwickelt in dieser Zeit die Logotherapie weiter und macht eine Erfahrung, die er das „experimentum crucis“ nennt. „Die eigentlich menschlichen Urvermögen der Selbst-Transzendenz und der Selbst-Distanzierung wurden im Konzentrationslager existenziell verifiziert und validiert“, hält er in dem Buch fest.

Der „survival value“

Seine Erfahrung als Häftling Nr. 119104 bestätige den „survival value“, der dem „Willen zum Sinn“ zukomme. Frankl: Es überleben „jene noch am ehesten, die auf die Zukunft hin orientiert waren, auf einen Sinn hin, dessen Erfüllung in der Zukunft auf sie wartete“.

Seine Erfahrungen hält er im Bestseller „… trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ fest, den er noch im Jahr 1945 schreibt und in dem er sich deutlich gegen eine Kollektivschuld ausspricht.

Im Lager fiel alles Unwesentliche ab

Der Mensch habe es in der Hand, „auch unter den ungünstigsten, den unwürdigsten Bedingungen noch Mensch zu bleiben“, sagte er in einem Vortrag am 25. März 1949 (aus: Viktor E. Frankl, Der leidende Mensch). „Wir haben ihn kennen gelernt, wie vielleicht noch keine Generation vor uns; wir haben ihn kennen gelernt im Lager – im Lager, wo alles Unwesentliche vom Menschen weg geschmolzen war; wo alles fortfiel, was einer besessen hatte: Geld – Macht – Ruhm – Glück – wo nur mehr das übrig blieb, was ein Mensch nicht ,haben’ kann, sondern was er ,sein’ muss …“

Alles kommt auf den Menschen an

1961 später schreibt er im Artikel „Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers“ (aus: Viktor E. Frankl, Logotherapie und Existenzanalyse) seine Definition des Menschen nieder:

„Wohl haben uns die vergangenen Jahre ernüchtert; aber sie haben uns auch gezeigt, dass das Menschliche gilt, sie haben uns gelehrt, dass alles auf den Menschen ankommt ... Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist mit stolz erhobenem Haupt und mit dem Vaterunser auf den Lippen oder dem Sch’ma Israel.“

Viktor E. Frankl, Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen, 11,20 Euro

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