,Der Schlüssel ist Humanae Vitae’

6. August 2007 in Interview


P. Vincent Twomey SVD sprach im "Tagespost"-Interview über die Theologie Joseph Ratzingers.


Würzburg (www.kath.net / tagespost)Der irische Moraltheologe Vincent Twomey SVD zählt zu den besten Kennern der Theologie des Papstes.1970 zum Priester geweiht, promovierte der Steyler Missionar 1978 bei Joseph Ratzinger in Regensburg.

Seit 1971 gehört er dem Schülerkreis des jetzigen Papstes an. Twomey lehrt an der Päpstlichen Hochschule Saint Patricks College in Maynooth. Über die Lage der Theologie sprachen mit ihm Stephan Baier und Stefan Rehder.

Viele Jahrzehnte wurde Joseph Ratzinger als Theologe weitgehend ignoriert, ausgegrenzt oder bekämpft, insbesondere in der deutschsprachigen Theologie. Heute sind alle seine Bücher Bestseller. Woher diese Wende?

Das sind zwei Fragen. Erstens: Warum wurde Ratzinger nicht ernst genommen? Zweitens: Warum jetzt? Die zweite Frage ist einfach, denn sie betrifft das Marketing. Als Papst ist Ratzinger noch populärer geworden. Nun wollen ihn alle Menschen kennen lernen.

Die Antwort auf die erste Frage ist nicht so einfach: Man könnte sagen, dass Ratzinger früh aus der Mode kam. Ratzinger ist nicht nur ein Akademiker, sondern auch ein freischaffender Denker. Alles was er tut, hat mit Kreativität zu tun. Er ist kein Epigone irgendwelcher Lehrer. Er hat selbst immer alles neu, erfrischend neu gedacht.

Als Peritus von Kardinal Frings beim Zweiten Vatikanischen Konzil ist er jung berühmt geworden. Seine Vorlesungen in Tübingen, die unter dem Titel „Einführung in das Christentum“ als Buch erschienen, haben ihn als Denker, der etwas Neues schafft, bekanntgemacht.

Ratzinger war ein Vordenker des Konzils wie Rahner, von Balthasar, Küng, Congar, de Lubac. Er wusste, dass die Kirche und die Theologie erneuert werden müssen. Als das Konzil kam, an dessen Vorbereitung er mitgearbeitet hatte, versuchte er als Theologe etwas zu dieser Erneuerung beizutragen. Dann kam Schema 13, das später als „Gaudium et Spes“ verabschiedet wurde.

Das war nicht vorgesehen, sondern etwas Neues, das aus dem Konzil selbst entstand. Da wurde Ratzinger klar, dass auf dem Konzil eine Wende eingetreten war. Hier wurden plötzlich Gedanken vorgetragen und zwar beinahe mit höchster Autorität, die noch nicht reif waren. Von da an hat er die verschiedenen Bewegungen kritisch verfolgt.

Wie hat sich das gezeigt?

Die großen Theologen waren gespalten: Auf der einen Seite stand Balthasar mit Ratzinger und de Lubac, auf der anderen Seite Küng, Rahner und später Metz, die von der Mehrheit der neuen Theologen unterstützt wurden. Diese waren überzeugt, dass das, was sie trieben, der „Geist des Konzils“ sei. Im Konzil – glaubten sie – habe vieles nur auf Kompromissen basiert.

Daraus schlossen sie, dass der nun entdeckte „Geist des Konzils“ radikal weitergeführt werden müsse, auch wenn die „Radikalität“ ziemlich oberflächlich war und sich oft bloß als Konformität zur geltenden Mode entpuppte.

Da hat Ratzinger nicht mitgemacht. Er ist dem Konzil und sich selbst treu geblieben. Und er hat gewagt, die Wahrheit zu suchen und auszudrücken, obwohl sie dem Zeitgeist entgegengesetzt war. Deshalb war er bald nicht mehr in Mode.

Liegt der Unterschied im Kirchenbild? Darin, dass die einen das Zweite Vatikanische Konzil als ein Konzil in einer Serie von Konzilien sehen, das genauso zu respektieren ist wie jedes vorangegangene, getragen von der Autorität der Kirche, während die anderen darin den Startschuss in eine ungewisse Zukunft erblickten?

Alle vorangegangenen Konzilien waren einberufen worden, um bestimmte Häresien zu bekämpfen, auch wenn sie, wie Trient, als Reformkonzilien zu bezeichnen sind. Das Zweite Vatikanische Konzil war dagegen als Erneuerungskonzil gedacht. Manche haben dann das Zweite Vatikanum gegen Trient in Stellung bringen wollen: Was von Trient beeinflusst war, sollte ausgemistet werden.

In diesem Bewusstsein spielte auch das Erste Vatikanische Konzil eine wichtige Rolle. Viele sagten: Ja, wir haben die päpstliche Unfehlbarkeit definiert – aber durch die Wiederentdeckung des Lehramtes des Episkopats sowie durch die Betonung des „sensus fidelium“ beziehungsweise „sensus fidei“ wurde sie dann abgeschwächt. Diese Form der Korrektur wollten einige weiterführen, indem sie einerseits sagten: Jede Ortskirche, jede Bischofskonferenz hat ihre eigene Kompetenz; anderseits wird der sensus fidelium soziologisch verstanden als Mehrheitsprinzip.

Aktuell ist das geworden, als „Humanae vitae“ erschien und die verschiedenen Bischofskonferenzen dazu Stellung nahmen. Die Mehrheit hat die Enzyklika begrüßt, aber manche waren entsetzt. Die westdeutsche Bischofskonferenz – nicht die ostdeutsche, die „Humanae vitae“ vollkommen gebilligt hat – hat die Enzyklika mit einem neuzeitlichen Begriff von Gewissen verbunden. Man hat zwar gesagt: Das lehrt die Kirche.

Aber man war der Meinung, jeder müsse vor seinem Gewissen beurteilen, ob er diese Lehre annehmen kann oder nicht. Als die so irregeführten Eheleute mehr und mehr die Lehre von „Humanae vitae“ beiseite legten, wurde dies als neuer „sensus fidelium“ interpretiert. Man darf aber die Geschichte der letzten 40 Jahre nicht nur als innerkirchliche Entwicklung betrachten, sondern als Teil einer Kulturentwicklung, welche die ganze Welt, hauptsächlich Westeuropa und Amerika, geprägt hat.

Wollen Sie sagen, die Bischöfe hätten einen subjektivistischen Gewissensbegriff übernommen?

Genau! Sie haben diesen Begriff aber nicht direkt vom Zeitgeist übernommen. Innerhalb der Moraltheologie gab es schon damals eine verfehlte Interpretation des irrenden Gewissens, dem man nach dem hl. Thomas selbst dann folgen muss, wenn man objektiv etwas Falsches tut. Hier wurde übersehen, dass das Gewissen auch gebildet werden muss.

Noch radikaler war die These, dass das Gewissen unfehlbar sei, weil letzten Endes moralische Wahrheiten subjektiv seien. Wie schwierig die Lage war, konnte man daran sehen, dass zur Vorbereitung des Konzils eine Kommission gebildet wurde, welche die Moraltheologie untersuchen sollte. Hier hoffte man auf ein Dokument, das dann vom Konzil gebilligt würde.

Bald wurde klar, dass die Lage der Moraltheologie schwierig war. Also sagte das Konzil, die Theologie müsse erneuert werden, vor allem die Moraltheologie. Die Moraltheologie war sehr legalistisch; sie entstand nach Trient für die Ausbildung der Beichtväter und beschäftigte sich hauptsächlich mit der Sünde.

Auch dieser Trend gehört zu einer viel größeren Entwicklung, die mit dem Einfluss von William von Ockham verknüpft ist. Man hat durch Ockham einen Begriff von Freiheit gewonnen, die nicht an die Vernunft gebunden ist.

Nach Ockham wäre auch Gott nicht an die Ratio gebunden. Der daraus entstandene Voluntarismus hat sich bei Kant niedergeschlagen, der lehrte: Man muss die Pflicht erfüllen; so dass blinder Gehorsam verlangt wird. In der Moralphilosophie hat diese Entwicklung durch Nietzsche neue Nahrung gefunden, indem er den Willen zur Macht absolut setzt. Andererseits hat man seit dem 19. Jahrhundert „ratio“ auf naturwissenschaftliche Rationalität reduziert und nur das als objektiv anerkannt, was wissenschaftlich abgesichert werden konnte.

Die Moralphilosophie des 20. Jahrhunderts war überzeugt, dass es in der Moral nichts Objektives gebe. Alles sei subjektiv. Daher müsse man nur das tun, was man wisse oder denke, was der subjektiven, wenn auch irrationalen Überzeugung entspricht. So kam man zum unfehlbaren Gewissen. Von dieser Entwicklung wurden nach dem Konzil auch die Theologen und durch sie die Bischöfe beeinflusst.

Was kann gegen diese Krise unternommen werden?

Ich meine, dass durch die Debatte um „Humanae vitae“ die ganze Krise innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte zu ihrem Höhepunkt gekommen ist. Und ich bin überzeugt, dass die Kirche in Europa und nicht zuletzt in Deutschland sich solange nicht erholen wird, bis sie „Humanae vitae“ annimmt. Und zwar alles, was darin steht.

Seit einiger Zeit unternehmen Moraltheologen Anstrengungen, die Tugendethik für die Theologie fruchtbar zu machen, etwa Rhonheimer oder jüngst auch Schockenhoff, der in seiner „Grundlegung der Ethik“ versucht, die Tugendethik mit Kant zu versöhnen. Was halten Sie von solchen Ansätzen?

Rhonheimer ist, soweit ich es beurteilen kann, spät zur Tugendethik gekommen. Angefangen hatte er als Vertreter einer objektiven Moral, die ihre Grundlage in der Natur sieht. Die neuere Tugendethik nahm ihren Anfang 1958 mit einem Aufsatz der katholischen Philosophin Elisabeth Anscombe und wurde dann aufgegriffen von säkularen Philosophen wie Philippa Foot und Bernard Williams.

In Amerika gab es eine Wiederentdeckung des Aristoteles. Der Durchbruch kam durch Alasdair McIntyre und sein Buch „After Virtue“, in dem er die Entwicklung seit der Aufklärung nachzeichnet. McIntyre sah, dass vor 300 Jahren eine Krise entstand, deren Auswirkungen wir jetzt spüren und die bis zum Emotivismus geführt hat, der behauptet, dass es in der Moral nur persönliche Präferenzen gebe.

McIntyre plädierte stattdessen dafür, zurück an den Anfang zu gehen: zu Hesiod, Homer, Platon und besonders zu Aristoteles. Dabei hat er die Tugenden wiederentdeckt. Tugendethik ist nicht eine Ethik neben anderen. Sie ist die einzige Weise, Ethik zu denken.

In der katholischen Moraltheologie hat der belgische Professor in Freiburg, Servais Pinckaers, treu seiner thomistischen Tradition die Tugendethik des Hl. Thomas von Aquin wiederentdeckt. Wenn Schockenhoff Tugendethik und Kant versöhnen will, dann hat er wohl die Tugendethik nicht verstanden.

Andererseits, wenn man zum Beispiel den Weltkatechismus betrachtet, so ist die darin enthaltene Prinzipienlehre der Moral geprägt von einer vollkommen neuen Sicht der Moral, wenn auch nur wenige Moraltheologen dies erkannten. Ich sehe in der Tugendethik die große Zukunft, aber wie bei jeder neuen Bewegung werden auch hier anfänglich Missverständnisse auftreten.

Braucht, wer von Tugend spricht, nicht zunächst einen Begriff des Guten und des Bösen?

Sicher! Seit „Humanae vitae“ ging die Diskussion zunächst über den Begriff des intrinsice malum, und die Mehrheit der deutschen Moraltheologen hat das abgelehnt. „Humanae vitae“ hat übrigens nicht den Begriff „malum“ benutzt, sondern den etwas abgeschwächten, sehr guten Begriff „inhonestum“. Die Frage lautet: Gibt es Taten, die in sich schlecht oder nicht vertretbar sind? Das wurde von den meisten deutschen und englischsprachigen Theologen abgelehnt.

Dazu kam durch die Theologie von Karl Rahner ein Heilsoptimismus, demzufolge jeder durch das Bewusstsein selbst geheilt würde. Das ist wider alle Wirklichkeit, denn seit 200 Jahren sind wir Zeugen von massiver Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Hass und ethnischer Säuberung – und dennoch spricht man nicht mehr vom Bösen. Das ist auch Folge einer verfehlten Theologie.

Hat der Subjektivismus auch die anderen Zweige der Theologie erfasst?

Natürlich! Die Dogmatik hat hier ihren eigenen Beitrag geleistet, etwa durch den schon erwähnten Heilsoptimismus. Das ist ein Missverständnis dessen, was das Konzil lehrt, nämlich dass Gott auch außerhalb der Kirche auf seine eigene Weise Menschen durch Christus zum Heil bringt. Dadurch wurde die Wirklichkeit des Bösen beiseitegerückt. Man spricht nicht mehr über den Teufel. Das ist sein großer Sieg. Als der Papst unlängst über die Hölle sprach, gab es eine große Aufregung.

Wie lässt sich vermeiden, dass die verschiedenen theologischen Disziplinen auseinanderfallen?

Man muss die Frage nach der Wahrheit stellen. Statt danach zu fragen, wie wissenschaftlich etwas ist, müssen wir fragen, wie wahr etwas ist. Eine ganz einfache Frage. Sie lautet: Stimmt das mit der Wirklichkeit überein? In diesem Sinn wird jede Disziplin ihren eigenen Beitrag zur Entdeckung der einen Wahrheit leisten, auch wenn jeder Beitrag durch die Auseinandersetzung mit Gegenbehauptungen der anderen Disziplinen gereinigt werden muss.

Um die Frage nach der Wahrheit für sinnvoll zu halten, muss man der Ansicht sein, dass sich die Wirklichkeit erkennen lässt. Es geht also um Erkenntnistheorie. Halten Sie es für realistisch, dass wir noch einmal hinter Kant zurück oder über ihn hinaus kommen?

Irgendwie sind wir alle von Kant beeinflusst. Die Philosophie und auch die Theologie stehen vor der Aufgabe, durch Kant hindurchzugelangen. Seit Descartes wird die Wahrheitssuche individuell statt dialogisch verstanden: cogito ergo sum. Erkenntnis ist aber kein individuelles Geschehen sondern dialogisch, durch Auseinandersetzung mit den anderen und mit der eigenen Tradition, die sich nicht zuletzt in Sprache niederschlägt. Erkenntnis ist auch ein sprachliches Geschehen, auch wenn sie es übersteigt und transzendiert durch das persönliche Sensorium der Transzendenz, das wir Urgewissen nennen.

Aber Sie haben die Frage interessant gestellt: Können wir noch einmal hinter Kant zurückgehen? Dahinter steht ein linearer Begriff von Geschichte. Wenn ich die Wahrheitsfrage stelle, wird die geschichtliche Distanz unwesentlich: dann stehen alle Denker gleichzeitig vor mir. Es ist eine neuzeitliche Vorstellung, dass das, was in der Geschichte geschehen ist, nicht überwunden werden kann.

In Wirklichkeit sprechen die Texte der Antike und des Mittelalters jedoch unmittelbar zu uns, jedenfalls dann, wenn wir die Geduld und die Fähigkeit haben, sie zu „hören“. Auch bei Ratzinger ist es so, dass er seine Gedanken von überall herholt, da er andere Denker nicht in Schubladen einreiht und nur das nimmt, was gerade von historischem Interesse ist. Ich selbst habe auch in Papua-Neuguinea gelehrt. Die Menschen dort konnten ohne Schwierigkeiten Platon oder Shakespeare lesen, weil die Wahrheit, die dort zum Ausdruck kommt, die Menschen berührt.

Europa ist der einzige säkularisierte Kontinent. Wie lässt sich Europa geistlich reanimieren, ohne die Vernunft zu verlieren?

Zunächst ist die Aufklärung selbst ein Produkt und eine Häresie des Christentums – weshalb sie viel Wahres in sich hat. Das wird oft vergessen. Ratzinger hat gezeigt, wie der Glaube die Vernunft, also auch die Philosophie, unbedingt braucht, um der Wahrheit treu zu bleiben, wie auch umgekehrt, die Vernunft den Glauben – und so die Autorität der Offenbarung braucht, um vernünftig zu bleiben. Doch die Theologen in Europa haben seit „Humanae vitae“ ein gebrochenes Verhältnis zur Kirche, speziell zum kirchlichen Lehramt.

Sie wollen im Sinn der Aufklärung autonom sein und anerkennen nur, was „wissenschaftlich“ beweisbar ist, was letzten Endes nur ein revidierbarer Konsens der Experten sein kann und so nicht lebensträchtig ist: Man kann nicht aus revidierbaren Meinungen sein Leben gestalten. Das muss überwunden werden. „Humanae vitae“ muss voll rezipiert werden – zunächst von den Bischöfen und dann von den Theologen – damit man wieder Vertrauen in die Kirche gewinnt. Sonst gibt es keine Erneuerung weder der Theologie noch der Kirche.

Kommt nach dem Zeitalter des Rationalismus, der sich als brüchig erwiesen hat, ein Zeitalter neuer Irrationalismen, des Mythischen, Numinosen?

Da sind zwei große Gefahren: Dass der Subjektivismus auf die Spitze getrieben und alles auf sich selbst zentriert wird. Deshalb ist auch der Buddhismus in Mode, wie auch die Gestalten des „New Age“, dieses Austreten aus dem grauen Alltag in mythologische Scheinwelten.

Andererseits wird der extreme Islam etwas anbieten, was wir nicht anbieten können: die voluntaristische Einfachheit eines radikalen Ja zu Gott, die die Vernunft ausschließt, aber dem Leben ein Ziel geben und es sinnvoll machen kann. Ich meine, dass das Pontifikat von Papst Benedikt da etwas bewegen könnte, gerade weil seine Bücher gelesen werden, die diese verschiedenen Fragen behandeln. Es gibt bereits eine Generation, die unzufrieden damit ist, was ihr von anderen beigebracht wurde. Lassen wir uns überraschen!


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