Die tägliche Dosis Gefühl

23. Juli 2006 in Chronik


Der Erfolg des Fernsehfortsetzungsromans: Ewige Liebe tritt die Nachfolge der Religion an - Von Elisabeth Hurth


Sie heißen Tessa, Lotta, Laura, Julia oder Lisa. Die Heldinnen der Telenovelas, die auf der Suche nach Glück sind. Fünf der Traummädchen sind zur Zeit zu sehen, weitere sollen folgen. Sie haben damit ein neues TV-Genre geschaffen: den deutschen Fernsehfortsetzungsroman, entworfen nach südamerikanischem Vorbild. Kritiker, die sich nicht damit abfinden wollen, dies könnte das Fernsehen der Zukunft sein, weist Christian Popp, Chefproduzent der Sat.1 Telenovela "Verliebt in Berlin", energisch in die Schranken. Die Telenovela sei "gute Unterhaltung und erfüllt den Wunsch des Publikums nach Drama und Romantik". Der Zuschauer taucht ein in eine Welt großer Gefühle, Sehnsüchte und Träume, voller Liebe, Leidenschaft und Melodramatik, aber auch voller Intrigen und Lügen. Dazu kommen jede Menge Schicksalsschläge, die nur eingeweihte Fans der Telenovelas im Dickicht großer Ereignishaftigkeit zuordnen können: Daniels Mutter begeht einen Mord, Lauras Geliebter erleidet ein lebensgefährliches Schädel-Hirn-Trauma, Julias Mutter erliegt der Spielsucht ... Derlei massives Ungemach für die Fernsehhelden läßt der Zuschauer ruhig über sich ergehen, weil er weiß, daß es - anders als bei den Daily Soaps - ein fest eingeplantes glückliches Ende gibt. Wer im ZDF Julias und Tessas "Wege zum Glück" verfolgt, darf sicher sein, daß ein Happy End eintreten wird, mögen die Heldinnen auch noch so niederträchtig von Bösewichten heimgesucht werden.

Vor allem Teenies und Frauen

Rührige Herz-Schmerz-Geschichten sorgen für gute Quoten. Die erste Telenovela "Bianca" (ZDF) startete im November 2004 mit durchschnittlich 2,12 Millionen Zuschauern. Im September 2005 waren es sogar durchschnittlich 2,79 Millionen Zuschauer, die sich das Liebesdrama um Bianca und Oliver nicht entgehen lassen wollten. Die ZDF-Nachfolgerinnen "Julia" und "Tessa" erreichen nicht mehr die Quoten von "Bianca", auch die Pro 7 Telenovela "Lotta in Love" weist schwächelnde Quoten auf. Doch der Privatsender Sat.1 zeigt quotenmäßig, wie es gehen soll. Auf der Erfolgswelle von "Bianca" startete Sat.1 2005 eine neue Version des häßlichen Entleins: "Verliebt in Berlin". Die Serie erzählt die Geschichte des plumpen Landmädchens Lisa Plenske, die mit auffälliger Zahnspange, dicker Hornbrille und Übergewicht in die Modewelt eintaucht. Damit legte Sat.1 das Image des ewigen Vorabendverlierers ab. Die Zahlen sprechen für sich: 3,75 Millionen Zuschauer schalten um 19.15 Uhr ein. Von den 14- bis 49jährigen wird jeder fünfte erreicht, vor allem Teenies und Frauen geben sich der täglichen Dosis Gefühl hin. Der Zuschauer weiß, daß er nie all das durchmachen muß, was die Fernsehhelden durchzustehen haben, aber er nimmt an den Gefühlen von Trauer, Angst und Betroffenheit teil, die er von sich selbst kennt. Dies erklärt die Alltagsnähe und Relevanz der Telenovelas für ein Publikum, das sich voyeuristisch dem Schicksal fremder Menschen hingibt und dabei die tröstliche Erfahrung macht, daß es im eigenen Leben nicht ganz so belastet zugeht wie in der Fernsehwelt.

Telenovelas sind verfilmte Kitschheftchen. In ihnen geht es nicht um das wahre Leben, sondern um ewige Liebe. Liebe wird dabei zum Mittelpunkt des persönlichen Strebens. Man redet von Liebe wie frühere Jahrhunderte von Gott. Im postreligiösen Umfeld der Telenovelas tritt Liebe die Nachfolge der Religion an und soll nicht nur das Lebensglück eines Menschen, sondern auch Sinn und Heil bereitstellen. In den Telenovelas gelingt dies am Ende verläßlich, weil der Erzfeind der Liebe, der böse Gegenspieler, vernichtet wird. Eine "heile" Welt, die jede Transzendenzdimension verloren hat, ist so garantiert. Die melodramatische Grundstruktur der Telenovelas folgt an dieser Stelle einem festen Handlungsschema: In eine anfängliche Situation der Harmonie tritt das Böse und versetzt die Guten in einen Zustand der Hilflosigkeit. Der Schurke oder die Schurkin scheint in jeder Beziehung überlegen. Das Gute wird zum Opfer des Bösen. Die Identifikationsangebote sind hier eindeutig. Das Böse tritt in vielen Serienfolgen als Sieger auf, aber am Ende steigt das Gute wie ein Phönix aus der Asche. So kann sich der Zuschauer ganz der Verurteilung und der Abscheu vor den Missetaten des Bösewichts hingeben und mit dem Opfer leiden, ist er doch gewiß, daß Gerechtigkeit und die Beseitigung des Bösen in jedem Fall eintreten werden. Die Erzählungen der Telenovelas bieten hier Botschaften an, die - so meinen heute nicht wenige - anscheinend besser "funktionieren" als die Angebote der christlichen Religion. Erfolgreich sind die medialen Angebote wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie auf eine leicht durchschaubare Spaltung in Gut und Böse setzen. Dieser Dualismus macht keine Differenzierung mehr möglich und nimmt weder das Böse im (vermeintlich) Guten noch das Gute im Bösen wahr. Wer in der Telenovela böse ist, bleibt böse und wird bestraft. Diese "frohe Botschaft" des Fernsehens ist jedoch keine religiöse im substantiellen Sinn. Das Leben läßt sich nicht klar in Gut und Böse scheiden, es bedarf der Überwindung des Bösen und Gescheiterten durch Gott. In den Plots der Telenovelas wird das Böse beseitigt und ausgemerzt, im christlichen Glauben wird der Böse gerettet.

Verläßliche Traumwelten

Wenn Naturkatastrophen, Kriege und Terror den Frieden auf dem Bildschirm stören, sind Telenovelas gefragter denn je. Die Reisen in die Welt großer Gefühle und Träume bieten besonders dem jungen Publikum Verläßlichkeit und Sicherheit. In den Geschichten von Liebe und Leidenschaft, gewürzt mit Intrigen und Spannungen, ist der finale Schluß-Kuß nie gefährdet. Casting-Shows wie "Deutschland sucht den Superstar" fordern den Zuschauer auf, aktiv zu werden und sich selbst vor der Kamera auszustellen. Die Telenovelas zielen dagegen auf mitfühlendes Pathos. In "verhartzten" Zeiten lernt der Zuschauer von den weiblichen Heldinnen der Telenovelas, daß sich unsterbliche Liebe immer durchsetzt, allen Irrungen, Wirrungen und Intrigen zum Trotz. Im Schicksalsstrudel mit märchenhaftem Ausgang ist weder mit Auflehnung noch Aktion des Zuschauers zu rechnen. Immer mehr Zuschauer ziehen sich gezähmt in eine romantische Traumwelt zurück. (idea)

Foto: (c) ZDF


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