Marias letzter Wohnort

21. März 2006 in Weltkirche


Am heutigen Frühlingsanfang feiern die Benediktiner auf dem Zionsberg ihr hundertjähriges Jubiläum. Ein Beitrag von Paul Badde.


Rom (www.kath.net) Am 21. März 1906 kamen die drei ersten Benediktinermönche aus Deutschland auf den Zionsberg in Jerusalem, wo sie an der Basilika „Mariä Heimgang“ mit dem Aufbau der späteren Dormitio-Abtei begannen, die 1998 – in Anlehnung an eine alte byzantinische Vorgängerkirche an derselben Stelle – in „Hagia Maria Sion“ umbenannt wurde.

Zum Jubiläum dieses Frühlingsanfangs entnehmen wir Paul Baddes Buch über „Maria von Guadalupe“ einen Auszug, in dem er an die Ursprünge der Abtei ebenso wie an seine Begegnungen mit dem unvergessenen Pater Bargil Pixner erinnert, der seit den Ostertagen 2002 auf dem Friedhof der Abtei begraben liegt.

Marias letzter Wohnort

An welchem Flecken der Erde wird Maria wohl schmerzhafter hängen als an dem Zionsberg? Hier hat sie um ihren Sohn getrauert, hier ist sie gestorben, wo auch jetzt die Welt noch scharf in zwei Hälften auseinander fällt. Nach Osten und Westen geht es von hier oben aus nur noch bergab. Von hier aus ging ihr letzter Blick über die Erde hinweg, über die Hügel da hinten und über das Tal von Silwan da vorne, wo die Stimmen der Muezzins, die der Wind über Jerusalem durcheinander wirbelt, gerade wieder die Größe Gottes preisen. Hier standen die ersten Häuser der frühen Christenheit. Hier hat Maria gewohnt.

„Schau dir das an“, sagte Pater Pixner hier oben schon bei einer unserer ersten Begegnungen, als ich ihn in seiner Abtei kennen lernte, „das sind die beiden Steine.“ Es war der Beginn eines endlosen Gesprächs und einer ewigen Freundschaft. Er zeigte auf zwei große, helle Quader aus Jerusalemer Stein mit tief eingraviertem Kreuz, die kurz über dem Boden links und rechts in die Außenwand des Glockenturms der Abtei eingelassen sind.

„Das ist der Marienstein und das ist der Stephansstein. Als Kaiser Wilhelm im Jahr 1898 hier neben dem Abendmahlsaal einen Gemüsegarten kaufte, auf dem die Mönche eine Abtei errichten sollten, kamen Äthiopier und Syrer zu ihnen und fragten: ,Was wird denn jetzt aus den Steinen vom Marias Haus in dem Garten?’ Und sie zeigten ihnen zwei große, grobe Steine, die hier im Garten lagen und die sie seit vielen Jahrhunderten verehrt hatten. Das waren diese Steinquader. Der eine stammte aus dem Haus Marias, der andere aus dem Haus des Stephanus, wie sie sagten. Da nahmen die Baumeister die beiden Steine und fügten sie in das Fundament des neuen Glockenturms ein, wo sie jetzt noch jeder berühren kann. Die Äthiopier kommen noch regelmäßig, um ihn zu streicheln.“

In Jerusalem, dieser gewalttätigen, am meisten politisierten Stadt der Welt, schien Bargil Pixner frei von Aggressionen und unpolitisch wie ein Kind zu sein. Er erzählte für sein Leben gern – und über kaum jemanden lieber als über Jesus, dessen Schritte er alle einzeln nachgegangen ist, und über Maria, die Königin des Heiligen Landes. Er glaubte nicht recht an die wunderbare Geschichte ihrer Erscheinung in Mexiko oder Medjugorje.

Aber er glaubte sehr fest daran, dass sie hier gelebt hat. Für ihn war Maria vor allem in Jerusalem präsent. „Was soll das heißen: ich glaube daran? Ich liebe Maria. Für diese Liebe brauche ich hier in Jerusalem aber keine Erscheinung. Denn hier spricht sie ja überall als historische Person zu mir. Hier war sie doch lebendig. Sie war doch kein Gespenst oder Schemen. Trotz der vielen tausend Bilder von ihr – und meinetwegen auch trotz all ihrer Erscheinungen –, war und ist sie doch nur eine Person. Nicht zwei, nicht drei, nicht zehntausend. Sie hat ja gelebt, in Fleisch und Blut. Es gibt nur eine Maria, immer dieselbe, egal wie oft sie noch erschienen ist.“

“Wann ist Maria gestorben?“
„Um das Jahr 48/49/50.“
„Welche Anhaltspunkte gibt es für diese Datierung?“
“Diese Kirche heißt ,Kirche vom Heimgang Mariens’, weil sie hier gestorben ist. Das ist in der ältesten Tradition verwurzelt. Diese Überlieferung hält fest, dass hier der Ort ist, wo sie nach der Auferstehung Christi gelebt hat. Dazu kommen Traditionen der Ostkirchen, hauptsächlich bei den Syrern, Äthiopiern und Griechen, wo all diese Geschichten weiterleben. Hier ist sie deshalb wohl auch gestorben.

Dass das um das Jahr 48/49 oder 49/50 war, schließe ich aus mehreren Beobachtungen. Es gibt einen sehr alten Bericht über ihren Tod, der im Vatikan aufbewahrt wird. Er heißt Transitus Mariae, auf Deutsch:,Übergang Mariens’. Dieser Bericht enthält viele judenchristliche Elemente. Sein Ursprung weist also in die früheste Zeit der Kirche zurück, zu jener Gruppe von Juden, die an Jesus glaubten und Hebräisch sprachen. Da wird besonders betont, dass bei Marias Tod die Apostel zugegen waren.

Da die meisten von ihnen inzwischen aber schon in der ganzen Welt verstreut waren, kommt für das Datum ihres Todes eigentlich nur ein Ereignis infrage. Das war das so genannte Apostelkonzil, als alle Apostel noch einmal nach Jerusalem zurückkamen. Dass sich alle jemals woanders noch ein zweites Mal getroffen haben könnten, ist weder irgendwo erwähnt noch dokumentiert noch vorstellbar. Und das Apostelkonzil ist ziemlich genau datiert.“

„Maria starb während des Apostelkonzils?“
“Ja, das glaube ich, oder kurz danach oder davor. Bis dahin hat sie nach der Auferstehung ihres Sohnes von den Toten sicher hier irgendwo in der Nähe gewohnt. Johannes wird bei ihr gelebt haben, aber auch ihre eigene Familie, die aus Nazareth hierher gekommen war. Da hat sie bestimmt viel von ihren eigenen Erlebnissen erzählt. Und diese Berichte, da bin ich mir sicher, wird einer aus dieser Familie zu einer Haggada zusammengestellt haben. Als Haggada werden Erzählungen biblischer Stoffe bezeichnet, in denen manches legendenhaft sein kann, deren Grundsubstanz aber geschichtlich ist.

Diese Erzählungen wird der Evangelist Lukas hier angetroffen haben, als er etwa fünf Jahre nach der Zerstörung Jerusalems aus Antiochien zum Zion kam. Hier spricht sie wie in keinem anderen Zeugnis. Denn hier hat sie ja gelebt. Gleich nebenan war sie beim ersten Pfingstfest dabei. Es war in den Tagen, als die Apostel anfingen, in ihrem Gesicht wie in keinem Bild sonst die Gesichtszüge ihres leiblichen Sohnes zu erkennen, der nun nicht mehr unter ihnen war. Im Gesicht der Mutter spiegelten sie sich ja immer noch.

,Alle gerieten außer sich und waren ratlos’, schreibt Lukas in seinem Bericht über das Pfingstfest auf dem Zionsberg. Aber warum? Was heißt das? Das heißt nämlich, dass damals gerade hier im Beisein Marias die Barrieren zwischen Israel und allen Heidenvölkern zerbrachen, zwischen den Juden und Parthern, Medern, Elamitern und Römern, zwischen Asiaten, Afrikanern und Europäern. Es war eine unglaubliche Revolution der Weltgeschichte. Schon bald danach nahmen sie – was vorher undenkbar war – gemeinsam das Mahl in ihren Häusern ein, schon bald auch zusammen mit kultisch unreinen Heiden, in Rom, Korinth und Syrien, wo sie außerdem mit Herren und Sklaven, Männern und Frauen gemeinsam am Tisch saßen.

An diesem Tag hat sich das Judentum für alle Völker geöffnet. Ohne dieses Pfingstfest hätten uns die Zehn Gebote nie erreicht. Ich glaube, es war die größte Revolution der Weltgeschichte. Rund zwanzig Jahre später wurde sie vollendet im ersten Apostelkonzil, wieder hier an diesem Ort, an dem Maria wieder zugegen war – und an dem sie dann auch starb. Vielleicht starb sie vor Freude, das noch miterlebt zu haben, bevor sie endlich wieder ihrem Sohn begegnen konnte. Als die Abtei vor hundert Jahren gebaut wurde, hat man bei den Ausgrabungen die Grundmauern einer früheren Kirche gefunden, in deren Westecke eine eigene Kapelle an den Tod Marias erinnerte. Da ist sie wohl gestorben. Nirgendwo gibt es für ihren Tod eine ältere Tradition. Sie starb gerade da, wo unsere Krypta gebaut wurde, und darüber die Kirche und unser Kloster, wo wir jetzt sitzen.“

Text und Foto © by Paul Badde


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