29. August 2005 in Spirituelles
Über die Größe und Grenze Hans Urs von Balthasars. Ein Beitrag von Professor Manfred Hauke von der Theologischen Fakultät in Lugano (Schweiz).
Lugano (www.kath.net) Am 12. August 2005 wurde in einer breiten Öffentlichkeit des 100. Geburtstages des bekannten Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasars gedacht. Es gab in diesem Jahr bereits mehrere wissenschaftliche Tagungen zu seinem Lebenswerk sowie eine Fülle von Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften [1]. Um ihn angemessen zu würdigen, würde ein ganzes Buch kaum genügen. In der Tat existiert bereits eine breite Palette von wissenschaftlichen Studien, die sich mit einem der großen Theologen des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Mit dem vorliegenden Beitrag kann nur ein erster Einblick geboten werden, der sich auf einige der wichtigsten Gesichtspunkte erstreckt. Dabei sei nicht vorgegangen wie bei Grabreden, für die gilt de mortuis nisi qui bene (über Verstorbene nur Gutes sagen). Es gibt in den Werken Balthasars Licht- und Schattenseiten. Größe und Grenzen sind gleicherweise zu würdigen [2].
Das monumentale Hauptwerk: die theologische Trilogie
Das zentrale Lebenswerk des Schweizer Theologen ist zweifellos die aus fünfzehn Bänden bestehende Trilogie. Die Titel der einzelnen Teile sind Herrlichkeit, Theodramatik und Theologik. Das umfangreiche Werk hat keinen Gesamttitel, was nicht auf Vergeßlichkeit zurückzuführen ist. Der Autor bekundet dadurch seine Abneigung gegen den Aufbau eines Lehrsystems, auch wenn in der Trilogie durchaus ein roter Faden auszumachen ist. Balthasar geht aus von den Transzendentalien, also von den Eigenschaften, die einem jeden Seienden zukommen als geschaffene Teilhabe am ewigen Sein Gottes. Nach der scholastischen Lehre sind dies insbesondere Einheit, Wahrheit, Gutheit und Schönheit (als Verbindung von Wahrheit und Gutheit). Während die klassische Philosophie von der Einheit ausgeht, um dann über die Wahrheit und Gutheit zur Schönheit zu gelangen, geht Balthasar den umgekehrten Weg: er beginnt mit der Schönheit (Herrlichkeit), setzt seinen Weg fort mit der Gutheit (Theodramatik) und endet mit der Behandlung der Wahrheit (Theologik). Die Einheit wird nicht eigens behandelt, weil sie auch in den anderen Transzendentalien zugegen sei.
Balthasar selbst vergleicht die Trilogie mit einem Triptychon, wobei das zentrale Bild in der Mitte steht: die Theodramatik. Die Dramatik bezieht sich auf das Gute, insofern es das Ziel des freien Willens Gottes und des Geschöpfes bildet. Die Freiheit ist die Ursache für das Handeln. In der Geschichte handeln sowohl die unendliche Freiheit Gottes als auch die begrenzte Freiheit der vernunftbegabten Geschöpfe. In der Beziehung zwischen den beiden Freiheiten kommt es zu einem gewissen Gegensatz, zu einem Drama im Handeln Gottes und des Menschen. In diesem Drama teilt Gott sich selber mit. Die für Balthasar wichtigsten, aber zugleich auch problematischsten Gedanken finden sich im Mittelstück des Triptychons, der Theodramatik.
Das Fasziniertsein von Jesus Christus als Ausgangspunkt der Theologie
Berühmt wurde Balthasar freilich zunächst durch den ersten Teil der Trilogie, die Bände über die Herrlichkeit (1961-1969). Schon für Aristoteles, im Anschluß an Plato, ist das Staunen der Anfang der Philosophie. Das Staunen richtet sich auf die Harmonie des Schönen. Ähnliches gilt für die Gotteserfahrung: das Fasziniertsein vom Heiligen, der sich dem Menschen kundtut, ist der Beginn des Weges zu Gott. Die Herrlichkeit ist gleichsam die Ausstrahlung des heiligen Wesens Gottes; wen das Licht Gottes trifft, wird nicht nur zum Staunen geführt, sondern auch zur Anbetung. Wir sind gekommen, um ihn anzubeten über diesen Titel des Weltjugendtages hätte sich Hans Urs von Balthasar zweifellos sehr gefreut. Inmitten einer Zeit, welche die Kirchenkritik, den methodischen Zweifel und die permanente Revolution in den Vordergrund stellte, sorgte der Schweizer Theologe für ein Gegengewicht: das Fasziniertsein vom Lichtglanz Gottes in Jesus Christus.
Die sieben Bände der Herrlichkeit bestehen aus drei Teilen, deren erster überschrieben ist mit dem Titel Schau der Gestalt. Gestalt meint eine Ganzheit, deren Harmonie nicht auf die einzelnen Bestandteile zurückgeführt werden kann. Diese Ganzheit ist besonders wichtig für die Erschließung der Wirklichkeit des Lebens, wobei der Theologe viel vom philosophischen Ansatz Goethes gelernt hat. In diesem Detail zeigt sich die Vorbildung Balthasars: seine Doktorarbeit fertigte er nicht an in Theologie oder Philosophie, sondern in Germanistik (über die Geschichte des eschatologischen Problems in der deutschen Literatur). Das Thema der Gestalt spielt auch bei Romano Guardini eine Rolle, den Balthasar bei seinem Literaturstudium kennenlernte: Jesus Christus selbst ist die Gestalt der göttlichen Offenbarung. Von Guardini übernimmt Balthasar auch das Interesse an der gesamten Breite der geistigen Beiträge, die mit der Gestalt Jesu Christi in Verbindung gebracht und konfrontiert werden können.
Während die sieben Bände der Herrlichkeit und die fünfbändige Theodramatik (1973-1983) ein reges Interesse gefunden haben, gilt nicht das gleiche für die drei Bände der Theologik (1985-87). Darin geht es um die gedankliche Erschließung der geoffenbarten Wahrheit. Bei der Trilogie finden wir also drei grundlegende Schritte: Gott erscheint (Herrlichkeit), er gibt sich selbst (Theodramatik) und er offenbart sich selbst (Theologik). Im Zentrum steht immer die Gestalt Jesu Christi. Auf die Herrlichkeit Gottes in Christus antwortet der Mensch mit dem Staunen, auf das Gute mit der Dankbarkeit und auf die Wahrheit mit dem Glauben [3].
Balthasar versus Rahner
Der philosophische Ansatz Balthasars, vor allem in der Herrlichkeit, bekundet einen erkenntnistheoretischen Realismus, der einen heilsamen Gegensatz bildet zu dem Ausgangspunkt Rahners, der sich am deutschen Idealismus orientiert, insbesondere am Kritizismus Kants. Während nach Kant das Erkenntnissubjekt niemals zum Sein des Gegenübers vorstößt und sich im Grunde nur selbst im chaotischen Sinnesmaterial wiederfindet, beschreibt Balthasar die Erfahrung der Welt auf realistische Weise. Als Beispiel dient ihm dabei die Begegnung des Kindes mit dem Lächeln der Mutter, die ein grundlegendes Vertrauen in die Wirklichkeit vermittelt und eine Brücke bildet zur Erfahrung Gottes [4]. In der Heilsgeschichte erfährt der Mensch nicht nur das, was er anonym immer schon weiß, sondern er begegnet dem unendlichen Geheimnis Gottes, der ihm einen neuen Horizont erschließt. Grundlegend ist dabei das geschichtliche Ereignis des Sühnetodes Jesu am Kreuz und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe.
Eine streitbare Auseinandersetzung mit der idealistisch angehauchten Transzendentaltheologie, die in der Nachkonzilszeit für den Niedergang des Glaubens mit verantwortlich ist, findet sich in dem Büchlein Cordula oder der Ernstfall. Der Ernstfall des Christseins ist das Martyrium. Der Theologe schildert unter anderem die (hypothetische) Begegnung eines kommunistischen Kommissars mit einem modernen Christen, maßgeschneidert nach den progressistischen Idealen der 60er Jahre. Nach der Invasion Europas durch die rote Armee möchte der weltoffene Christ den kommunistischen Funktionär als anonymen Christen vereinnahmen. Der reagiert darauf mit der Bemerkung: Wenn Du so denkst, ersparst Du uns die Kugel. Der Fortschrittschrist wird daraufhin nach Sibirien verschleppt, um für die Evolution zu arbeiten [5].
Die Balthasar-Lektüre keine leichte Kost
Abgesehen von den zugänglicheren Essays, sind die meisten großen Beiträge Balthasars für die Normalverbraucher, selbst unter den Theologen, nicht leicht verdaulich. Ein Grund dafür ist die Entstehungsgeschichte der wichtigsten Werke: sie entstammen nicht einer akademischen Vorlesungstätigkeit, wobei der Professor auch auf die Didaktik achten muß, sondern sind in der Studierstube geschrieben und veröffentlicht im hauseigenen Verlag des Verfassers. Die Inhalte sprengen den traditionellen Fächerkanon, wobei es nicht immer einfach scheint, den gedanklichen Gehalt klar und eindeutig wiederzugeben. Vieles besteht aus Intuitionen und Metaphern. Hinzu kommt die als Gegenposition zur Systematik Hegels teilweise verständliche Aversion gegen die systematische Klarheit, die bei einer Luganer Tagung über unseren Theologen einen Referenten zu dem Stoßseufzer veranlaßte, Balthasar sei systematisch unsystematisch. Wer Balthasar näher studieren möchte, sollte zunächst einmal ein solides Fundament haben in der Theologie [6], um die Spreu vom Weizen scheiden zu können.
Das richtige Bild von der Kirche oder die Überwindung des antirömischen Komplexes
Neben der Trilogie sind besonders erwähnenswert die Werke Balthasars über die Kirche, überaus wichtig im Gefolge des Zweiten Vatikanums, das als Konzil der Kirche über die Kirche gilt. Zum Kern seines ekklesiologischen Anliegens gelangen wir mit dem Buch über den antirömischen Affekt [7], eine Krankheit, die zumal im deutschsprachigen Raum auch nach dem Weltjugendtag in Köln noch längst nicht ausgestorben ist. Balthasar möchte den antirömischen Virus überwinden durch eine ausgewogene Darstellung der die Kirche bestimmenden Prinzipien. Gemeint sind damit nicht die (zweifellos unverzichtbaren) Rechtsbestimmungen, sondern es geht um die je spezifische Teilhabe der Glieder der Kirche am Geheimnis Christi. Dabei ragen heraus das petrinische und das marianische Prinzip [8].
Petrus steht dabei, mit seiner männlichen Prägung, für die hierarchische Vergegenwärtigung Christi als des Hauptes der Kirche. Maria hingegen vertritt als Frau die typische Aufgabe des Menschen vor Gott, nämlich sich dem Wort Gottes zu öffnen, es zu empfangen und mütterlich am Heilsgeschehen mitzuwirken. Die Gedanken Balthasars haben hier sogar eine lehramtliche Rezeption erfahren, insbesondere in dem Apostolischen Schreiben Johannes Pauls II. über die Würde und Berufung der Frau, Mulieris dignitatem (1988). Der Papst betont, in engem Anschluß an den Schweizer Theologen, dass die marianische Dimension der Kirche der Petrusdimension vorausgeht, wenn sie mit dieser auch eng verbunden ist und sie ergänzt.
Maria, die Makellose, hat den Vortritt vor jedem anderen, selbstverständlich auch vor Petrus und den Aposteln: nicht nur, weil Petrus und die Apostel der unter der Sünde geborenen Schar des Menschengeschlechtes entstammen und zur Kirche gehören, die aus Sündern geheiligt ist, sondern auch, weil ihr dreifaches Amt auf nichts anderes abzielt als darauf, die Kirche nach jenem Ideal der Heiligkeit zu formen, das in Maria bereits vorgeformt und vorgestaltet ist. Ein zeitgenössischer Theologe [Balthasar; er wird dann ausdrücklich genannt] hat es gut ausgedrückt, wenn er sagt: Maria ist Königin der Apostel, ohne apostolische Vollmachten für sich in Anspruch zu nehmen. Sie hat anderes und mehr [9].
Das Maßnehmen an Origenes
Für den geistigen Weg Hans Urs von Balthasars ist wichtig die Beschäftigung mit den Theologen der alten Kirche. Dabei ragt unter allen anderen heraus die Gestalt des Origenes. Im Geiste des Origenes. Hans Urs von Balthasar als Interpret der Theologie der Kirchenväter so lautet der Titel einer Studie über diesen wichtigen Strang im Denken des Schweizer Theologen [10]. Origenes war zweifellos einer der größten Theologen in der alten griechischen Kirche des Ostens. Er hat Christus innig geliebt und war ein Mann der Kirche. Allerdings wird er normalerweise nicht unter die Kirchenväter gerechnet, denn wichtige Anschauungen des alexandrinischen Theologen wurden später von der Kirche verurteilt. Er gilt als Kirchenschriftsteller, aber nicht als Kirchenvater.
Das theologische Problem des Origenes bestand in der unzureichenden Wertung des menschlichen Lebens auf dieser Erde: seiner Meinung nach begann die menschliche Existenz bereits vor dem irdischen Leben in einem präexistenten Dasein, aus dem uns eine persönliche Schuld auf die Erde gestürzt hat; dementsprechend ist der leibliche Tod nicht das Ende der Prüfungszeit vor Gott, denn es gibt auch danach die Möglichkeit einer Bekehrung. Origenes erwartet, am Ende würden alle Menschen und selbst die gefallenen Engel gerettet werden. Die Hoffnung auf die Rettung des Teufels führte schon zu Lebzeiten des Theologen dazu, dass sich der für ihn zuständige Bischof, der Patriarch von Alexandrien, einschaltete und diese Lehre zurückwies. Im vierten Jahrhundert verurteilten sowohl der Papst als auch der Patriarch von Alexandrien die problematischen Knackpunkte des origenischen Systems, nämlich die Theorie von der Präexistenz der Seelen mit anschließendem Sündenfall sowie die Lehre von der Apokatastasis [11].
Apokatastasis panton meint wörtlich an sich nur Wiederherstellung aller Dinge, bedeutet aber hier die Erwartung, am Ende würden alle Geistwesen, einschließlich der gefallenen Engel, gerettet. Die Apokatastasis nimmt die Heilsgeschichte nicht ernst. Die biblischen Zeugnisse begrenzen die Prüfungszeit des Menschen mit dem Tode und sprechen von einer ewigen Verdammnis für die bösen Geister und für viele Menschen, die sich der Gnade Gottes verweigert haben. Hier wird deutlich der Ernst der christlichen Botschaft, die Entscheidungsträchtigkeit des irdischen Lebens und die Bedeutung der menschlichen Freiheit, die sich dem Guten auch verweigern kann. Die Apokatastasis wurde, zusammen mit anderen origenistischen Anschauungen, im 6. Jh. nachdrücklich verurteilt [12].
Hans Urs von Balthasar übernimmt nicht die (ebenfalls kirchlich zurückgewiesene) Präexistenztheorie des Origenes, wohl aber die Hoffnung auf die Rettung aller. Das Ende seines Lebens wurde von einer Kontroverse überschattet, in deren Verlauf der Schweizer Theologe gegen die Infernalisten polemisierte [13], die es wagten, seine Erwartung der Allversöhnung in Frage zu stellen: Wer mit der Möglichkeit auch nur eines auf ewig Verlorenen außer seiner selbst rechnet, der kann kaum vorbehaltlos lieben [14]. Trifft dieses Verdikt nicht auch den obersten Infernalisten, der nach den Zeugnissen der Evangelien von vielen Verdammten spricht? [15]
Der Origenismus Balthasars erstreckt sich nicht nur auf die Rettung aller Menschen, sondern spielt selbst auf eine mögliche Versöhnung (oder Vernichtung) des Teufels an. Er spricht von der Selbstverzehrung des Bösen [16] und will die Frage des Geschicks der Dämonen als eine für die theologia viatorum unlösbare ausklammern [17]. Hier wird als unlösbar ausgeklammert, was nach der Offenbarung des Wortes Gottes und den Lehrentscheidungen der Kirche keineswegs offen ist.
Die Theologie des Karsamstags
Die Hoffnung auf die Apokatastasis ist leider nicht auf die Eschatologie Balthasars beschränkt, sondern infiziert wie ein schädlicher Computervirus auch den Gehalt anderer Bereiche. Das gilt besonders für die Christologie und die Trinitätslehre. In der Christologie sind die einschlägigen Gehalte verbunden mit dem Descensus des Herrn, dem Abstieg in die Unterwelt. Im Glauben der Kirche ist damit gemeint das Verweilen der Seele Jesu Christi unter den Verstorbenen, um den vor ihm lebenden Gerechten den Zugang zu öffnen für die himmlische Herrlichkeit [18]. Jesus ist nicht in die Unterwelt hinabgestiegen, um die Verdammten daraus zu befreien [19]. Balthasar hingegen setzt die Unterwelt gleich mit der Hölle der Verdammten. Dabei stützt er sich auf die Visionen der Adrienne von Speyr, einer Konvertitin aus dem Protestantismus, die besondere Offenbarungen zum Geheimnis des Karsamstags für sich beanspruchte [20].
Um Adrienne betreuen zu können, trat Balthasar aus dem Jesuitenorden aus. Nach deren Aussagen begegnet Christus in seinem Gang durch die Hölle den Effigien. Sie bestehen aus dem, was ein Mensch von seiner Substanz der von ihm begangenen Sünde geliehen hat. Die Effigien werden in der Hölle abgeladen, aber der Sünder kommt in den Himmel. Manche Effigien bleiben in der Hölle bis zum Ende der Welt, insbesondere die des Augustinus (für Balthasar ein unverbesserlicher Infernalist), zur Abschreckung für alle übrigen Sünder [21]. Adrienne schaut die Hölle als eine riesige Kloake, wobei in deren stinkenden Strom immer neue Sünden abgeladen werden. Jesus Christus weist diese Kloake aus der Welt hinaus. Interessant scheint, dass Balthasar selbst daran erinnert, das Wort Kloake für die Hölle stamme von Origenes [22]. Hat hier Adrienne geschaut, was dem Origenesfreund Balthasar wohltat? Was ist im übrigen von mystischen Offenbarungen zu halten, nach denen sich die Seherin gedrängt fühlt, Selbstmord zu begehen? [23]
Mit der Aufnahme der Visionen von Adrienne als Quelle der Theologie hat Balthasar einen sehr problematischen Weg betreten [24]. Das gilt vor allem dann, wenn die vorgeblichen Offenbarungen die Lehre der Kirche in ihr Gegenteil verdrehen. Bezüglich des Descensus beansprucht der Schweizer Theologe, die Aussagen der theologischen Tradition irgendwie ganz auseinanderzunehmen, um sie neu zusammenzusetzen [25]. Ein solches Vorgehen ist von den Kirchenvätern aufs schärfste verurteilt worden. Der heilige Irenäus beispielsweise kennzeichnet so das Vorgehen der Gnostiker, die aufgrund ihrer Sondermeinungen die Lehre der Kirche auf den Kopf stellten. Gleichwie wenn jemand an dem von einem weisen Künstler aus bunten Steinen schön zusammengestellten Bilde eines Königs die zugrunde liegende menschliche Gestalt auflösen, die Steine versetzen und umändern, die Gestalt eines Hundes oder Fuchses machen und dazu noch schlecht ausführen wollte und behaupten, das sei jenes schöne Bild des Königs, das der weise Künstler fertigte, um so durch sein Steingebilde die Unerfahrenen in Irrtum zu führen auf genau dieselbe Weise flicken auch diese Alteweibermärchen zusammen, reißen dann Reden, Worte und Parabeln aus ihrem Zusammenhang und wollen diese Worte des Herrn ihren Fabeln anpassen [26].
Das trinitarische Unterfassen der Hölle
Nicht nur die Christologie, sondern auch die Trinitätslehre wird in den Dienst der Allversöhnung gestellt. Kenose meint im Philipperbrief (2,6-7) das Ereignis der Menschwerdung des Sohnes Gottes. Dessen Selbstentäußerung (Kenosis) bedeutet im Kontext und nach der Deutung der Väter die Annahme der menschlichen Natur durch das ewige Wort. Balthasar hingegen verlegt die Kenosis in das Leben der Dreifaltigkeit vor der Inkarnation. Sie ist ein Geschehen im überweltlichen und unveränderlichen Gott , und dieses Geschehen ist ein Fahrenlassen der Gottgleichheit ( ), was den kostbaren Besitz der Glorie angeht [27]. Der Kenose des Sohnes geht dabei noch die Urkenose von seiten des Vaters voraus, eine Idee, für die sich Balthasar an den russischen Theosophen Bulgakow anlehnt.
Als eine erste, alles unterfassende innergöttliche Kenose bezeichnet der Baseler Theologe die ewige Zeugung des göttlichen Sohnes durch den Vater. Darin enteigne sich der Vater restlos seiner Gottheit und übergebe sie dem Sohn. Dieser göttliche Akt sei die Setzung eines absoluten, unendlichen Abstands, innerhalb dessen alle möglichen anderen Abstände, wie sie innerhalb der endlichen Welt bis einschließlich zur Sünde hin auftreten können, eingeschlossen und umfangen sind [28]. Diese Trennung Gottes von sich selbst umfängt die Trennung des Geschöpfes von Gott in der Hölle [29]. Die (angebliche) Gottverlassenheit Jesu am Kreuz ist eine unendliche Entfernung, die den Modus der Gottentfremdung des Sünders in sich hineinholt. Der Heilige Geist überbrücke freilich diese innergöttliche Trennung [30]. Sünde und Hölle sind trinitarisch unterfangen, so dass eine Pflicht besteht, auf die Rettung aller zu hoffen.
Metaphern oder Analogien?
In Texten dieser Art sie ließen sich noch beliebig vermehren überträgt Balthasar negative Wirklichkeiten (wie Kreuz, Sünde und Hölle) auf Gott. Er spricht von Trennung und Entfernung zwischen den göttlichen Personen. Dabei wird die Grenze zwischen Metaphern und analogisch begründeten Aussagen verwischt. Zu den klassischen Grundregeln der Analogie, die im Anschluß an die Kirchenväter durch Anselm von Canterbury auf den Punkt gebracht worden sind, gehört die Unterscheidung von reinen und gemischten Vollkommenheiten in Gott. Die reinen Vollkommenheiten (perfectiones simplices) enthalten in ihrem Begriff keine Unvollkommenheit; dazu gehören Begriffe wie Sein, Wahrheit, Gutheit, Geist und Weisheit.
Diese Vollkommenheiten können formell auf Gott übertragen werden. Die gemischten Vollkommenheiten hingegen enthalten in sich etwas Geschaffenes und Begrenztes, beispielsweise das Hören, das Sehen und das Wort. Die gemischten Vollkommenheiten sind Metaphern. Gott besitzt sie auf eine höhere Weise, insofern er die Vorbild- und die Wirkursache der Geschöpfe ist. Beispielsweise vereint Gott in sich auf eine höhere Weise die Vollkommenheiten eines guten Kaffees. Unsinnig wäre es freilig zu behaupten: Gott ist ein guter Kaffee. Ebensowenig lassen sich auf ihn räumliche Begriffe (wie Distanz) oder gar negative Wirklichkeiten formell übertragen.
Die Hineinnahme des Negativen in Gott geht bei Balthasar auf den Einfluß der Dialektik Hegels zurück, der wiederum Anliegen Luthers verwirklichen möchte [31]. All dies führt nach unserem Theologen zu einer teilweisen Destruktion der traditionellen Trinitätslehre [32]. Ähnlich wie bei Hegel, wird der Weltprozeß in die Dreifaltigkeit hineingenommen [33]. Wer Leiden und Kreuz in die Trinität hineinnimmt, muß sich dann fragen lassen, wie denn dann eine Erlösung erfolgen soll. Wenn Gott die Hölle in sich trägt, würde die ewige Gemeinschaft mit Gott zum Verdammtsein führen ein absurder Gedanke.
Prüfet alles, das Gute behaltet
Noch Vieles ließe sich zum Werk Hans Urs von Balthasars bemerken; zu seinen Vorzügen, aber auch zu seinen Grenzen. Eine fruchtbare Rezeption seiner Schriften kann nur dann erfolgen, wenn zuvor eine Art Antivirusprogramm installiert wird [34]. Einige Andeutungen zu dessen Erstellung finden sich in diesem Aufsatz. Leider sind die vorhandenen Viren alles andere als harmlos. Balthasar ähnelt hier in mancher Hinsicht seinem großen Vorbild Origenes, der ein Mann der Kirche sein wollte, aber dessen Auffassungen die Kirche nicht in allen Punkten folgen konnte.
Der Schweizer Theologe lud auch Johannes Paul II. ein zu einem Symposium über die kirchliche Sendung Adrienne von Speyrs. Deren Schriften hielt Balthasar für wichtiger als seine eigenen (eine Auffassung, die außer ihm selbst wohl kaum jemand teilt). In seiner Ansprache an die Teilnehmer des Symposiums hielt sich der Heilige Vater freilich deutlich zurück und meinte: Ich weiß, dass Sie im Rahmen dieser freundschaftlichen Begegnung von mir kein Urteil erwarten, das meine kirchliche Autorität beansprucht [35]. Diese Zurückhaltung könnte freilich in Zukunft einer Zurückweisung weichen, jedenfalls was die Gesichtspunkte betrifft, die (um es mit Irenäus zu formulieren) das Bild des göttlichen Königs verfälschen. Freuen dürfen wir uns hingegen, wie im Werk des Origenes, über die zahlreichen Beiträge zur Erhellung des Geheimnisses Christi.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa S. Hartmann, Zum Gang der Balthasar-Rezeption im deutschen Sprachraum: Forum Katholische Theologie 21 (2005) 48-57; Internationale Katholische Zeitschrift Communio 34 (2/2005): Hans Urs von Balthasar 1905-1988.
[2] Ein guter Überblick zu Leben und Werk Balthasars, allerdings ohne hinreichende theologische Kritik, wird vermittelt durch E. Guerriero, Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie, Einsiedeln 1993.
[3] Vgl. H. U. von Balthasar, Epilog, Einsiedeln-Trier 1987, 65.
[4] Vgl. H. U. von Balthasar, Der Zugang zur Wirklichkeit Gottes: Mysterium Salutis II (1967) 15-45, hier 15f.
[5] H. U. von Balthasar, Cordula oder der Ernstfall, Einsiedeln 1966; 41987.
[6] Was das Studium der Dogmatik anbetrifft, so sei empfohlen die Verbindung eines guten neuscholastischen Handbuches (etwa das von Ludwig Ott, Neuauflage 2005, oder das dreibändige Werk von Diekamp-Jüssen) mit der achtbändigen Dogmatik von Leo Scheffczyk und Anton Ziegenaus (1996-2003), die auch die gesamte neuere Diskussion berücksichtigt. Wer in der Dogmatik von Scheffczyk und Ziegenaus anhand des Personenverzeichnisses die unter Balthasar angegebenen Seiten durchgeht, bekommt eine repräsentativen Einblick über Größe und Grenzen unseres Theologen.
[7] H. U. von Balthasar, Der antirömische Affekt, Einsiedeln-Trier 21989.
[8] Vgl. A. Baldini, Principio petrino e principio mariano ne Il complesso antiromano di Hans Urs von Balthasar (Collana di Mariologia 4), Lugano 2003.
[9] Johannes Paul II., Mulieris dignitatem 27 (Verlautbarungen des Apost. Stuhls 86, S. 74, Anm. 55).
[10] W. Löser, Im Geiste des Origenes. Hans Urs von Balthasar als Interpret der Theologie der Kirchenväter, Frankfurt a. M. 1976.
[11] Zu Origenes vgl. M. Hauke, Heilsverlust in Adam. Stationen griechischer Erbsündenlehre: Irenäus Origenes Kappadozier, Paderborn 1993, 284-304.
[12] Vgl. insbesondere Denzinger-Hünermann 411.
[13] H. U. von Balthasar, Kleiner Diskurs über die Hölle, Stuttgart 2 1987, 18.
[14] Op. cit., 42.
[15] Beispielsweise Lk 13,23f: Da sagte einer zu ihm: Herr, sind es wenige, die gerettet werden? Er sprach zu ihnen: Müht euch, hineinzukommen durch die enge Pforte; denn ich sage euch: Viele werden hineinzukommen suchen und es nicht vermögen. Ausführlicher zu diesem Thema M. Hauke, Sperare per tutti? Il ricorso allesperienza dei santi nellultima grande controversia di Hans Urs von Balthasar: Rivista teologica di Lugano 6 (2001) 195-220. Siehe auch A. Ziegenaus, Die Zukunft der Schöpfung in Gott. Eschatologie (Katholische Dogmatik VIII), Aachen 1996, 190-214; P. Düren, Der Tod als Ende des irdischen Pilgerstandes, Stuttgart 21997, 239-256; 461-476.
[16] H. U. von Balthasar, Was dürfen wir hoffen? Einsiedeln 1986, 112. 118f.
[17] H. U. von Balthasar, Theodramatik IV, Einsiedeln 1983, 464.
[18] Vgl. KKK (= Katechismus der Katholischen Kirche), Nr. 636f.
[19] KKK, Nr. 633.
[20] Zur Descensuslehre Balthasars vgl. M. Lochbrunner, Descensus ad inferos. Aspekte und Aporien eines vergessenen Glaubensartikels: Forum Katholische Theologie 9 (1993) 161-177; ders., Das Ineinander von Schau und Theologie in der Lehre vom Karsamstag bei Hans Urs von Balthasar: Rivista teologica di Lugano 6 (2001) 171-193; A. Ziegenaus, Jesus Christus. Die Fülle des Heils. Christologie und Erlösungslehre (Katholische Dogmatik IV), Aachen 2000, 321-327.
[21] H. U. von Balthasar, Theologik II, Einsiedeln 1985, 324f.
[22] Vgl. op. cit., 315f. 320; ders., Theologie des Abstiegs zur Hölle: ders. u. a. (Hrsg.), Adrienne von Speyr und ihre kirchliche Sendung, Einsiedeln 1986, 138-146, hier 144.
[23] Vgl. Lochbrunner, op. cit. (2001), 181. Weitere kritische Fragen zu Adrienne bei M. Hauke A.- M. Jerumanis, Esperienza mistica e teologia. Una sintesi: Rivista teologica di Lugano 6 (2001) 255-264, hier 261f. Die verschiedenen Auffassungen über die Bedeutung Adriennes für das Werk Balthasars werden referiert bei J. Servais, Per una valutazione dellinflusso di Adrienne von Speyr su Hans Urs von Balthasar: Rivista teologica di Lugano 6 (2001) 67-89.
[24] Vgl. Lochbrunner, op. cit. (2001), 190-192.
[25] H. U. von Balthasar, Mysterium paschale: Mysterium Salutis III/2, Einsiedeln u. a. 1969, 133-326, hier 237.
[26] Irenäus, Adversus haereses I,8,1 (Bibliothek der Kirchenväter, Irenäus I, 1912, S. 23).
[27] Balthasar, Mysterium paschale 144.
[28] H. U. von Balthasar, Theodramatik III, Einsiedeln 1980, 300f. Zum Einfluß von Bulgakow vgl. S. Mycek, Missione di salvezza. Dialogo con la Teodrammatica di Hans Urs von Balthasar, Sandomierz 2005, 110-113.
[29] Balthasar, Theodramatik III 302.
[30] Vgl. H. U. von Balthasar, Theodramatik II/1, Einsiedeln 1978, 209.
[31] Dazu T. Guz, Zum Gottesbegriff G. W. F. Hegels im Rückblick auf das Gottesverständnis Martin Luthers, Frankfurt a. M. 1998. Balthasar begrüßt die These Luthers, wonach Jesus (im Gegensatz zur Lehre der Kirchenväter und der mittelalterlichen Theologen) nicht nur die Strafe für unsere Sünden auf sich genommen hat, sondern die Sünde selbst. Damit wird Jesus am Kreuz in den Zustand der Sünde versetzt: H. U. von Balthasar, Theodramatik III, Einsiedeln 1980, 232f. 263. 312f.
[32] H. U. von Balthasar, Theologik III, Einsiedeln 1987, 51.
[33] Vgl. die kritischen Bemerkungen bei L. Scheffczyk, Der Gott der Offenbarung. Gotteslehre (Kath. Dogmatik II), Aachen 1996, 409f; ders., Die Trinitätslehre des Thomas von Aquin im Spiegel gegenwärtiger Kritik: Divinitas 39 (1995) 211-238, hier 227-229.
[34] Die umfangreichste Sammlung von dogmatischen Kritikpunkten findet sich bei J. Rothkranz, Die Kardinalfehler des Hans Urs von Balthasar, Durach 21989. Die Probleme dieser Arbeit liegen freilich im streitbaren Ton (teilweise ein Echo auf die vorausgehende Polemik von Balthasars selbst) und in der nicht hinreichenden Wertung der positiven Aspekte.
[35] Balthasar, Adrienne 181.
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