'Auch wenn es Nacht ist ...'

28. Mai 2005 in Spirituelles


Ein Beitrag von Mariano Delgado (Universität Freiburg) über den "Mystiker der dunklen Nacht" über den Hl. Johannes vom Kreuz


Ich weiss nicht, wie Gott solches zulassen kann» - schreibt Teresa von Ávila am 21. August 1578, nachdem sie Einzelheiten über die Leidensgeschichte des Johannes vom Kreuz im Karmeliterkloster von Toledo erfuhr, in dem dieser von den Gegnern der Reform im eigenen Orden zwischen Dezember 1577 und Mitte August 1578 unter erbärmlichen, menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten wurde. Als Johannes vom Kreuz, ein Geschenk Gottes an Kirche und Menschheit, im Kerker war, misshandelt, erniedrigt, ohne frische Wäsche, die meiste Zeit in einem Mauerloch eingesperrt, wo er, der infolge der Armenkrankheit Rachitis bloss 148 Zentimeter gross war, kaum aufrecht stehen konnte, an den Fasttagen (Montag, Mittwoch und Freitag!) vor der versammelten Klostergemeinschaft auf dem Boden kniend sein karges Brot fristend, während jeder Ordensbruder ihm einen Geiselhieb auf dem Rücken verpasste, wovon er sein ganzes Leben lang schmerzende, schlecht verheilte Narben tragen wird . in dieser Erfahrung der Nacht, wo er zeitweise auch daran zweifelte, ob seine Ordensreform dem Willen Gottes entsprach, wenn sich die eigenen Ordensbrüder so sehr dagegen sperrten, fand er seine letzte Gewissheit nicht wie der am warmen Kamin sitzende Descartes im rationalen «Ich denke, also bin ich», sondern allein in Gott als Lebensquelle, die nicht aufhört, die gesamte Schöpfung mit den Fluten seiner Gnade zu bewässern - trotz der leidvollen Erfahrung der Faktizität des Bösen am eigenen Leib. Ganz allein, ohne Priestergewand und Messbuch, ohne Kelch und Wein feierte er dort täglich, ja ständig, seine «trockene» Messe und betete dabei innerlich mit diesen Worten, die er selbst als knieende Theologie gedichtet hatte:

Wie gut weiss ich die Quelle, die entspringt und fortfliesst, auch wenn es Nacht ist.
Die Ewigkeitenquelle hier, verborgen - Sie quillt hervor, das weiss ich sicher, auch wenn es Nacht ist.
In solcher dunklen Nacht in diesem Leben, weiss ich im Glauben wohl die kühle Quelle, auch wenn es Nacht ist.
Den Ursprung weiss ich nicht, denn sie hat keinen. Doch weiss ich: allem Ursprung gibt sie Herkunft, auch wenn es Nacht ist.
Ich weiss, kein Ding kann solche Schönheit haben, ich weiss, dass Erd' und Himmel aus ihr trinken, auch wenn es Nacht ist.
Ich weiss, kein Grund ist, der in ihr sich findet, und keine Furt, dass keiner sie durchschreitet, auch wenn es Nacht ist.
Ich weiss, ihr Glanz wird nie verfinstert werden, und alles Licht, von ihr ist es gekommen, auch wenn es Nacht ist.
Ich weiss, gewaltig strömen ihre Fluten dass sie bewässern Hölle, Himmel, Völker, auch wenn es Nacht ist.
Geboren wird ein Strom aus dieser Quelle: Ich weiss, er ist voll Kraft, ja, ist allmächtig, auch wenn es Nacht ist.
Der Strom, den diese zwei hervorgehn lassen: Ich weiss, dass beider keiner ihm vorangeht, auch wenn es Nacht ist.
Die drei, ich weiss, in einem Lebenswasser Wohnen, es stammt der eine aus dem andern, auch wenn es Nacht ist.
Die Ewigkeitenquelle hier, verborgen In diesem Lebensbrot gibt sie uns Leben, auch wenn es Nacht ist.
Hierher ruft man herbei die Kreaturen, sie trinken von dem Wasser, auch im Dunkeln. Da es ja Nacht ist.
Die selbe Lebensquelle, meine Sehnsucht, erblicke ich in diesem Brot des Lebens, auch wenn es Nacht ist.
Ich kann hier die tiefsinnige trinitarische Metaphorik dieses mystischen Gedichtes, das wie eine kleine theologische Summe anmutet, im Einzelnen nicht erklären.

Doch möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige zentrale Begriffe lenken.

(1) Da fällt uns zunächst das Wort «Nacht» auf, das als einziges in allen Strophen vorkommt. Man hat Johannes vom Kreuz den «Mystiker der dunklen Nacht» genannt, denn die Nacht ist in der Tat seine originellste Metapher. Nacht ist für ihn die menschliche Existenz überhaupt unter den Bedingungen der Endlichkeit. Diese primäre Nacht kann sich in einzelnen persönlichen Erfahrungen unseres Lebens noch verschärfen. Auch der Glaubende, ja selbst der Mystiker nimmt an der Erfahrung der Nacht teil, denn in diesem Leben bleibt das Licht des Glaubens immer «dunkel» - und dennoch ist es der einzige Führer, an den man sich auf dem Weg zu Gott wirklich halten kann. In seinem berühmtesten Gedicht mit dem Titel «Die dunkle Nacht» hält er aus seiner Lebenserfahrung fest, dass der dunkle Glaube uns «gewisser als das Licht der Mittagsstunde» durch die Nacht des Lebens zu Gott führt.

(2) Dem dunklen Licht des Glaubens verdankt Johannes vom Kreuz seine letzte Gewissheit, die er in diesem Gedicht/Gebet mit dem emphatischen «Ich weiss» in den ersten 10 Strophen betont. Diese Gewissheit kann ihm nichts und niemand nehmen: weder die Leidensgeschichte der Welt noch die eigene Leidensgeschichte noch die Einsicht in die Niedertracht des Menschen inner- und ausserhalb der Kirche.

(3) «Ich glaube, also weiss ich» . . . mich und die Schöpfung in Gott geborgen, auch durch die Erfahrung der Verborgenheit Gottes hindurch. «Ich glaube, also weiss ich» ... , dass der eine und dreifaltige Gott die «Lebensquelle» ist, die «Hölle, Himmel, Völker» bewässert und aus der alle Kreaturen letztlich trinken, wenn auch «im Dunkeln, da es ja Nacht ist».

Echte Mystiker, echte Christen hoffen nicht nur für sich selbst, sondern «für alle», sie frönen nicht dem Heilsindividualismus oder der spirituellen Selbstverwirklichung, sondern sind Heilsuniversalisten, weil sie verstanden haben, dass die Liebe zu den Feinden in letzter Konsequenz nicht nur die grenzenlose Nächstenliebe in dieser Welt, sondern auch die Hoffnung - und das Gebet - für die Rettung aller einschliesst. «Ich glaube, also weiss ich» . . ., dass diese Lebensquelle im eucharistischen «Brot des Lebens» verborgen ist, «auch wenn es Nacht ist». Johannes «vom Kreuz» sah sie auch im Gekreuzigten verborgen, den er im Bild dargestellt hat, das diesen Text begleitet und Salvador Dalí inspirierte.

Nach Hans Urs von Balthasar wird diese Darstellung der «gekreuzigten Liebe» erst verständlich, «wenn man den Leib nicht (wie sonst bei jeder Kreuzesdarstellung) vertikal hängend sich vorstellt, sondern mit Kreuzesbalken horizontal liegen sieht und den Leib an Händen und Füssen davon weghängend, in die Finsternis der Gottesnacht, der Welt und der Hölle hinein».

«Ich weiss nicht, wie Gott solches zulassen kann» - sagen viele heute, wenn wir mit Naturkatastrophen konfrontiert werden oder der Mensch sich wieder einmal als des Menschen Wolf erweist. Wir Christen haben nicht Antwort auf alle Fragen, vor allem nicht auf die Frage, die sich ein Romano Guardini in seiner Todesstunde für Gott selbst aufhob: «Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?» Aber der Kirchenlehrer Johannes vom Kreuz erinnert uns daran, dass wir als Christen, die das Geschenk des «dunklen» Glaubens angenommen haben, zumindest eine unverrückbare Gewissheit haben dürfen, die letztlich viel wichtiger ist als die cartesianische des «Ich denke, also bin ich». Das Konzil hat sie an entscheidenden Stellen in Erinnerung gerufen (vgl. u. a. Gaudium et spes 18,19, 21 und 22): Wir wissen, dass Gott uns nicht für den Tod, sondern für das Leben in Fülle in seiner Herrlichkeit erschaffen hat, dass er auch in der Nacht, im Dunkeln unserer Existenz nicht aufhört, sich um seine Schöpfung zu sorgen und wie ein Liebender um jeden Einzelnen zu werben, dass in Christus, der sich in seiner Menschwerdung mit jedem Menschen vereinigt hat, alles zusammengefasst werden soll, dass wir am Abend «in der Liebe geprüft» werden - und dass Gott dabei einem jeden in Liebe gerecht sein wird.

Doch wenn wir als Christen eine so tröstliche Gewissheit haben dürfen, «auch wenn es Nacht ist» . . .: warum laufen wir denn so hoffnungslos herum wie der alte Adam, warum gleichen wir «lahmen Seelen» und verzagen so sehr, warum erwecken wir den Eindruck, dass die Religion der Menschenfreundlichkeit Gottes ihre Zukunft hinter sich hat, warum sind wir mit uns selbst so beschäftigt - während die Welt wie zur Zeit Teresas «in Flammen» steht?Von den Mystikern und Reformern können wir lernen, worauf es als Christ in jeder Phase der Geschichte wirklich ankommt: Es ist Zeit zur Aussaat, es ist Zeit zur Mitarbeit an der Bewässerung der Welt mit der Lebensquelle des Evangeliums.

Mit freundlicher Genehmigung von Mariano Delgado (Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg/Schweiz) - Erstabdruck in der "Schweizerischen Kirchenzeitung"


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