Theologe Schwienhorst-Schönberger zu Moria-Debatte: Hilfe vor Ort nicht unchristlich

16. Oktober 2020 in Aktuelles


Wiener Theologe: Es hat sich als "fatal" erwiesen, "dass... der Eindruck erweckt wurde, dass Grundprinzipien moderner Staatlichkeit - wie Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt - angesichts der Migrationskrise nicht mehr aufrechtzuerhalten seien"


Wien (kath.net/KAP) Mehr Differenziertheit in der Debatte um die Flüchtlinge auf Lesbos und wie ihnen geholfen werden soll, hat der Wiener Theologe Prof. Ludger Schwienhorst-Schönberger eingemahnt. Wer einer Regierung, die nach Abwägung unterschiedlicher Gesichtspunkte die Entscheidung trifft, allein vor Ort zu helfen, eine unchristliche Haltung unterstellt, werde der Komplexität der Sache nicht gerecht, so der Theologe in einem Beitrag in der Wochenzeitung "Die Furche" (aktuelle Ausgabe).

In der Migrationspolitik gebe es unterschiedliche Optionen. Die Überführung sämtlicher oder einiger Flüchtlinge des ehemaligen Lagers Moria nach Österreich oder Deutschland sei - wenn sie rechtlich möglich wäre - aus christlicher Sicht sicherlich eine von mehreren Optionen. "Die einzige Mögliche ist sie nicht", stellte Schwienhorst-Schönberger fest: "Dass Hilfe vor Ort weniger christlich sei, leuchtet mir nicht ein."

Schon das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) lehre eine "Autonomie der zeitlichen Dinge". Auch die Migrationspolitik gehöre zu den zeitlichen Dingen. "Und da kann es sein, dass Gläubige aus christlicher Sicht zu unterschiedlichen Lösungen gelangen", so der Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Auch in der Migrationspolitik sei zwischen der Grundhaltung und ihrer konkreten Verwirklichung zu unterscheiden, betonte der Theologe unter Verweis auf den deutschen Philosophen Robert Spaemann. "Uneingeschränkt kann die Hilfsbereitschaft sein, aber nicht die tatsächliche Hilfe. Es kann nicht unsere Pflicht sein, uneingeschränkt zu helfen, weil es nicht möglich ist. Wir können es nicht. Und wir sollten auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir unserer Hilfe Obergrenzen setzen. Zudem ist es so, dass, wenn es solche Grenzen gibt, man auswählen muss, wen man nimmt und wen nicht", zitierte Schwienhorst-Schönberger Spaemann.

Bei der Situation auf den griechischen Inseln handle es sich um eine der vielen Katastrophen und schrecklichen Missstände weltweit, so der Theologe weiter: "Überall muss geholfen werden. Hilfsorganisationen und NGOs ringen um Aufmerksamkeit. Die Politik hat die Aufgabe, in der Not zu helfen, abzuwägen, Prioritäten zu setzen, Entwicklungen im Auge zu behalten, angemessen Vorsorge zu treffen und die Folgen politischer Entscheidungen abzuschätzen und abzuwägen." Wer das Unglück in Moria und eine spezifische Form der Hilfe zum "status confessionis" hochstilisiere, müsse sich jedenfalls die Frage gefallen lassen, "warum gerade dieses und nicht ein anderes schreckliches Ereignis diesen Status erlangen soll".

Was sagt die Katholische Soziallehre?

Groß angelegte Hilfsaktionen bei Umweltkatastrophen wie Erdbeben, Tsunami und Ähnlichem seien in der Regel politisch unumstritten. Dass hingegen die Flüchtlings- und Migrationspolitik in allen europäischen Ländern zu heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt habe, dürfte auch mit den Entscheidungen im Herbst 2015 zusammenhängen, vermutete der Theologe. Die medial verstärkte Euphorie im Zeichen von "Refugees welcome" sei zu spät von einem vernunftgeleiteten Diskurs abgelöst worden, konstatierte der Bibelwissenschaftler.


Als "fatal" habe sich zudem erwiesen, "dass von einigen Politikerinnen der Eindruck erweckt wurde, dass Grundprinzipien moderner Staatlichkeit - wie Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt - angesichts der Migrationskrise nicht mehr aufrechtzuerhalten seien". Von einigen Theologen sei diese Position noch verschärft worden, indem sie die Idee nationaler Souveränität als mit dem Universalitätsanspruch des christlichen Glaubens unvereinbar erklärt hatten.

Derartige Ansichten würden jedoch eindeutig der Katholischen Soziallehre widersprechen, betonte Schwienhorst-Schönberger. Zwar sei, wie Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika "Pacem in terris" geschrieben habe, "das Gemeinwohl einer Nation untrennbar mit dem Gemeinwohl der gesamten Menschheitsfamilie verbunden". Trotzdem erkenne "das Lehramt die Wichtigkeit der nationalen Souveränität an", die für die politische, wirtschaftliche, soziale und auch kulturelle Subjektivität stehe.

Die Kultur stelle damit eine Garantie dafür dar, "dass die Identität eines Volkes bewahrt bleibt, indem sie seine geistige Unabhängigkeit zum Ausdruck bringt und stärkt", zitierte der Theologe aus der Enzyklika. Sein Fazit: "Wer den Begriff der kulturellen Identität eines Volkes aus dem Vokabular der katholischen Soziallehre verbannen möchte, muss sich nicht wundern, wenn er von Kräften aufgegriffen wird, die ihn missbrauchen."


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