Kardinal Müller: Ziel der Geschichte ist nicht Klassenkampf, sondern die Gemeinschaft der Heiligen

14. Juli 2020 in Interview


Emeritierter Kurienkardinal: Indigene Theologie sagt, dass wir, unabhängig von der einmaligen Offenbarung Gottes in Christus, vom Denken oder von Mythen der Indigenen eine gesamte neue Welterschließung begründen könnten. Von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net/LifeSiteNews) Hinführung von Maike Hickson: In einem neuen Interview mit dem deutschen Buchautor Lothar Rilinger präsentiert Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, das Beziehungsgeflecht zwischen Kirche und Staat, Glaube und Politik. Wie er sagt, ist das regierende Prinzip das christliche Menschenbild, die katholische Soziallehre, der Glaube an Jesus Christus. Das Ziel der Geschichte ist die Gemeinschaft der Heiligen, nicht der Klassenkampf. Auf diesem Hintergrund diskutiert er hier Themen wie die Befreiungstheologie und die indigene Theologie.

 

In einleitenden Worten zum Interview sagt er: „Ich bin zum Beispiel nicht aus der Sicht des Manchesterkapitalismus oder des Faschismus gegen den Kommunismus im Sinne der Gegenideologie, sondern wegen des christlichen Menschenbildes und der katholischen Soziallehre.“

 

So diskutiert der deutsche Kardinal mit Herrn Rilinger auf eine kritische Weise auch bestimmte Bewegungen innerhalb der Kirche – wie die Befreiungstheologie und die indigene Theologie*. Dies tut er aber explizit nicht, um damit der anderen Seite – hier dem extremen Kapitalismus, der kein Interesse am Leid des Menschen hat – das Wort zu reden.

 

Einleitend erklärt Kardinal Müller das ursprüngliche Anliegen der Befreiungstheologie, bevor sie instrumentalisiert wurde: „Das ursprüngliche Anliegen der Befreiungstheologie war die Rede von der Liebe Gottes angesichts der Unterdrückung und des Leidens von Millionen. Meine weiterführenden, unterscheidenden oder warnenden Hinweise (auch da, wo die Befreiungstheologie in eine innerweltliche Heilslehre umgekippt ist oder missbraucht wird) will nicht den Ausbeutern und Supermilliardären der Forbesliste in die Hände spielen.“

 

Die folgende Interview-Diskussion startet mit Fragen, die sich zwar vor allem auf deutsche Verhältnisse beziehen, die aber gleichzeitig auf die universale Kirche angewandt werden können. Hier geht es um die ethische Rolle, die die Kirche in Staaten führen sollte, ohne jedoch in Parteipolitik einzugreifen.

 

Darüber hinaus diskutiert Kardinal Müller eine Befreiungstheologie ohne Marxismus, sowie eine indigene Theologie, „die besagt, dass wir, unabhängig von der einmaligen und letztgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus, von dem Denken oder von den Mythen der Indigenen eine gesamte neue Welterschließung begründen könnten. Das ist meines Erachtens völlig überzogen und im Kern theologisch falsch.“

 

Auch verwirft Kardinal Müller ganz klar den Marxismus und verweist auf die komplexe Situation in China.

 

Es folgt hier das volle Interview - Kirche und Politik. Kardinal Gerhard Ludwig Müller im Interview mit Lothar C. Rilinger

 

Wir können zumindest in der westlichen Welt feststellen, dass sich Kirche und Politik immer fremder werden. Auch wenn durch die Aufklärung die Trennung von Staat und Kirche vollzogen worden ist, ist es fraglich, ob es gerechtfertigt ist, gleichzeitig einer strikten Trennung von Politik und Kirche das Wort zu reden. Die Politik kann nicht aus sich selbst heraus die Grundlage bilden, von der aus politische Entscheidungen getroffen werden, sie bedarf der Voraussetzungen, die im gesellschaftlichen Diskurs gedacht werden.

 

Die deutsche Verfassung hat zwar eine Trennung von Staat und Kirche festgelegt. Doch diese Trennung ist nicht vollständig. Das deutsche Staatskirchenrecht geht vielmehr von einer ‚hinkenden‘ Trennung aus, so dass nach wie vor eine Verwobenheit besteht, die allein wegen des sozialen Engagements der Kirchen auch nicht aufgehoben werden kann. An Kardinal Müller richtet sich die Frage: Inwieweit soll im Angesicht der lockeren Verquickung von Staat und Kirche die Römisch-Katholische Kirche Einfluss auf den politischen Prozess nehmen?

 

Kardinal Müller antwortet mit den Worten: „Ich glaube, die Kirche – verstanden als Gemeinschaft der Gläubigen und nicht nur die der Bischöfe – soll großen Einfluss nehmen, aber hauptsächlich durch die Laien, die sich in der Politik, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft engagieren. Die Bischöfe und die Priester können sich nicht parteipolitisch betätigen.“

 

Auch wenn ein parteipolitisches Engagement des Klerus ausgeschlossen ist – was im zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich geschlossenen im Konkordat von 1933 festgeschrieben worden ist – stellt sich gleichwohl die Frage, ob sich die Kirche zumindest in ethischen Fragen in den politischen Diskurs einschalten soll?

 

Hierzu antwortet der deutsche Kardinal auf klärende Weise: „Die Kirche ist dazu berufen, die ethische Grundlage der Politik deutlich zu machen, nicht aber die Politik als solche zu formulieren. Man muss alles tun, damit im Mittelmeer keine Menschen ertrinken, aber das kirchliche Lehramt, die Bischöfe, kann nicht einfach sagen, wir müssen jetzt eine bestimmte Bevölkerungsaustauschpolitik gutheißen. Man kann auch kritisieren, dass Afrika von jungen Leuten entvölkert wird. Wie soll es dort jemals einen Aufbau geben, wenn diese Personen zu uns kommen, nicht integriert werden, von ihrer Heimat entwurzelt sind und hier desintegriert bleiben. Da kann man hier auch schon kritische Fragen zu einer bestimmten Politik stellen.“

 

So könnte man wohl sagen, dass durch die Teilnahme an der ethischen Diskussion die Kirche die strikte Trennung von Religion und Politik aufhebt und dass sie auf diese Weise versucht, religiöse Inhalte in die Politik einfließen zu lassen.

 

Hier können wir an den Marxismus denken. Die Ethik des Christentums wird zuweilen als kompatibel mit dem Marxismus gedacht. Manche behaupten, dass die im Urchristentum propagierte Vorstellung von Armut und Auflösung des Privateigentums sich in den ökonomischen Vorstellungen von Karl Marx wiederfinde und daher Christentum und Marxismus sich ergänzen. Die Frage stellt sich an Kardinal Müller: Kann deshalb der Rekurs auf den Marxismus Grundlage einer politischen Empfehlung seitens der Kirche sein?

 

Für Kardinal Müller steht fest, dass „der Marxismus in seinen geschichtlichen Ausprägungen nur Unglück gebracht“ hat – und dies „ausschließlich deshalb, weil er auf einer falschen Anthropologie aufbaut, ein falsches Geschichtsbild vertritt und mit den Kapitalisten, gegen die er kämpft, zutiefst im Materialismus verbunden ist.“

 

Der Kardinal führt weiter aus: „Wir haben deshalb in China die abstruseste Kombination von extremem Kapitalismus und extremem Kommunismus. Das vom Kommunismus diktatorisch beherrschte China ist die vollkommene Selbstwiderlegung des Marxismus. Man nimmt die Praxis als Kriterium für die Theorie, aber die Praxis zeigt, dass die Theorie falsch ist. Von einigen marxistischen Analysen der Gesellschaft kann man sicherlich einiges lernen. Es gibt zwar die Klassengegensätze, trotzdem ist die Geschichte nicht das dialektische Ergebnis von Klassenkämpfen, da Geschichte insgesamt von uns nicht als Kampf des einen gegen den anderen akzeptiert wird. Das wäre eine falsche Einstellung. Die Kampfrhetorik müsste eigentlich überwunden werden. Wir haben nicht den Klassenkampf als treibende Kraft und als Ziel der Geschichte, sondern die Communio sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen. Das Ziel der Geschichte ist von der Vorsehung Gottes her, unsere Sündhaftigkeit zu überwinden und in der Liebe unsere Vollendung zu finden.“

 

Auch wenn sich der Marxismus selbst ad absurdum geführt hat, scheint es, dass die Theologie der Befreiung nicht immer frei ist von Anklängen an die Klassenkampfideologie. So fragten wir Kardinal Müller, inwieweit er marxistische Tendenzen in der Theologie der Befreiung sehe. Er setzt die katholische Soziallehre als Orientierungspunkt.

 

„Man kann de facto feststellen, dass es auch in manchen Gesellschaften Klassenkampf gibt“, antwortet der deutsche Prälat. „Aber es ist etwas Anderes, ob man den Klassenkampf als Prinzip der geschichtlichen Entwicklung anerkennt oder ob man die Auffassung vertritt, dass die Klassenunterschiede überwunden werden müssten. Eine Gesellschaft muss im Sinne der katholischen Soziallehre solidarisch sein. Es ist infolgedessen unsere Aufgabe, das Klassenkampfdenken und das Klassendenken zu überwinden. Paulus sagt, im Leib Christi gibt es nicht den Widerstreit zwischen Armen und Reichen oder zwischen Juden und Heiden/Griechen, Männern und Frauen. Im theologischen und als Folge im soziologischen Sinn sind wir alle ‚einer‘ in Christus (Gal 3, 28). Die frühe Gemeinde, heißt es in der Apostelgeschichte, hatte alles gemeinsam, allerdings nicht im Sinne einer Gütergemeinschaft. Die Reichen hatten ihre Güter nicht ausschließlich nur für sich gedacht, sondern auch für die anderen. Alle nahmen an allem teil. In der katholischen Soziallehre haben wir das Ziel, dass ein starker Mittelstand entsteht und dass der Gegensatz zwischen Reichen und Armen oder zwischen einer gesellschaftlich abgeschotteten Klasse der Oligarchie oder der Aristokratie und dem Volk, wie wir es z.B. im französischen Ständestaat oder im Feudalismus feststellen mussten, überwunden wird. Dieser Schritt ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg ganz gut gelungen. Es gibt nicht mehr so abgeschottete Gruppen, die gar nichts miteinander zu tun haben wollen und deren Mitglieder auch nicht untereinander heiraten würden.“

 

Man kann und soll an einer gerechteren Gesellschaft arbeiten, ohne in einen Klassenkampf zu verfallen. So fährt Kardinal Müller fort: „Es wird niemals in dieser Welt ein totales Gleichgewicht innerhalb einer Gesellschaft geben, aber die gröbsten Ungleichheiten kann man schon überwinden. Die Befreiungstheologie will Theologie sein. Sie fragt theologisch, wie man von der Liebe Gottes predigen kann angesichts des großen Leidens in dieser Welt und der materiellen Ausbeutung? Insofern muss sich die Kirche als Gesamtgemeinschaft, einschließlich auch der Hierarchie, also der Bischöfe und der Priester, in Zusammenarbeit mit christlichen Politikern dafür einsetzen, dass ein gerechtes Gesellschaftssystem praktiziert wird, damit falsche und trennende Grenzen überwunden werden können. Infolgedessen kann von der Theologie auch eine Politik mitgetragen werden, ohne dass der theologische Gesichtspunkt zur Grundlage einer absolutistischen Gesellschaftslehre wird.“

 

Diese Ausführungen leiten über zur nächsten Frage an Kardinal Müller: Aus Ihren Worten können wir entnehmen, dass Sie die Option für die Armen nicht als einen Kampf ansehen, der die Reichen ausschließt. Versteht sich folglich die Theologie der Befreiung als eine Theologie für alle Gläubigen? Schließt sie somit Arme und Reiche ein?

 

Darauf antwortet der Kardinal: „Die Verkündigung des Glaubens, die Vermittlung der Gnade bezieht sich auf jeden Menschen, ob reich oder arm. Doch was heißt reich? Bei uns sind die Staatsbürger reich im Verhältnis zu den Menschen in der sogenannten Dritten Welt – sie sind zwar reich, aber nicht in dem Sinn, dass sie im Besitz aller wirtschaftlichen Mittel des Landes sind wie, um Beispiele zu nennen, die Goldminen oder die Bodenschätze und dass sie die Gewinne aus ihren Geschäften ausschließlich für den eigenen Luxus nutzen, während sie ihren Mitarbeitern den gerechten Lohn vorenthalten oder für sie im Krankheitsfall und Alter nicht vorsorgen. In diesem Sinn müssen wir, muss die Kirche, auch gesellschaftsverändernd wirken, aber nicht im Sinn des Marxismus. Wir müssen nicht vom Nullpunkt aus eine neue Gesellschaft aufbauen, die schließlich nicht anderes sein kann als das Spiegelbild eines endlichen Verstandes, den übrigens auch Karl Marx nur hatte. Er konnte nicht das gesamte Sein überblicken, er ist nicht der Urheber, nicht der Schöpfer von Welt und Mensch, und er kannte auch nicht den tieferen Plan der Geschichte, der uns nur im Lichte des Wortes Gottes bekannt wird als Gottes Wille zum Heil aller Menschen.“

 

Neben der Theologie der Befreiung wird in Südamerika auch die „Indigene Theologie“ gedacht, um auf dieser Grundlage die dortigen wirtschaftlichen Ungleichheiten zu überwinden. So stellt sich die Frage an Kardinal Müller, ob er meine, dass diese Theologie hierzu einen gangbaren Weg aufzeigen könnte?

 

Diese Theologie hält Kardinal Müller jedoch für theologisch nicht korrekt: „Es gibt eine sogenannte Indigene Theologie, die von der Glaubenskongregation schon kritisch beurteilt worden ist. Das ist nicht eine Theologie, die die besonderen Situationen der Indigenen des Amazonas mit einbezieht, sondern die besagt, dass wir, unabhängig von der einmaligen und letztgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus, von dem Denken oder von den Mythen der Indigenen eine gesamte neue Welterschließung begründen könnten. Das ist meines Erachtens völlig überzogen und im Kern theologisch falsch.“

 

Weiter diese problematische Theologie diskutierend, fügt der Kardinal hinzu: „Es wird sogar gesagt, sie hätten dort gar keinen Jesus Christus gebraucht. Bevor die Missionare vor 500 Jahren angekommen sind, sei Gott schon da gewesen. Gott war in der Tat schon da, allerdings in dem Sinn, dass sich der Schöpfer im Sein der Welt und im Gewissen der Menschen in seiner Gottheit kundgetan hat (Röm 1,20; 2, 16), aber das ersetzt keineswegs die geschichtliche Vermittlung des Evangeliums in Jesus Christus, die zu dem Fleisch gewordenen Wort Gottes hinführt. Im Lichte Christi kommen wir erst zu dem universalen Verständnis von Gott. Man kann doch nicht sagen, die alten Griechen hätten eigentlich durch Homer und die Ilias mythologisch schon eine Gottesbegegnung gehabt, die dann die Offenbarung Gottes durch Jesus Christus ersetzt oder die ganze Heilsgeschichte im Alten Testament überflüssig gemacht habe – einmal abgesehen davon, dass die mythische Erschließung der Realität durch die griechische Philosophie, von der Vernunft und dem Logos, schon lange vorher überwunden wurde. Wir streiten es nicht ab, dass auch Mythen und Märchen allgemeine existentielle Erfahrungen widerspiegeln. Das kann aber kein Ersatz sein für eine vernunftgemäße Erschließung der sichtbaren, empirischen Realität oder auch der Offenbarung des Wortes oder des Sinns des Seins selbst. Man kann aus den Mythen kein Rechtssystem ableiten und sich dem Wohlwollen oder der Rache der Götter anempfehlen.“

 

So stellt am Ende Kardinal Müller noch einmal ganz klar fest, was für uns die Grundlage des Glaubens ist: „Die einzige Grundlage, die wir haben, ist das Wort Gottes, das in Jesus Christus, dem Wort des Vaters, Fleisch geworden und im Kontext der gesamten Geschichte eingetreten ist. Hier ist die Fülle der Zeit. Das ist die einzige Grundlage. ‚Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus‘ (1 Kor 3, 11).“

 

Anm. der kath.net-Redaktion: Die Indigene Theologie (spanisch: Teología india) ist gemäß des spanischsprachigen Wikipedia der Versuch, dass indigene Christen trotz ihres christlichen Glaubens auch die religiösen Überzeugungen ihrer indigenen Vorfahren weiterpflegen, damit sie ihre eigenen Identität wahren können. Das (öffentlich-rechtliche) Deutschlandradio beschrieb 2011 in einem Beitrag, dass hier „Volksreligion und Christentum vermischt“ würden und zitiert den Bolivianer Abraham Colque vom Volk der Aymara: „Ein Thema ist zum Beispiel, dass die Bibel in einem patriarchalischen System geschaffen wurde und die Frau oft abwesend ist! In den Geschichten unserer indigenen Völker finden wir aber ein sehr mütterliches Bild. Das Heilige, Gott, erscheint weiblich, als Göttin. Und das ist etwas sehr Starkes.“ Link zum Beitrag im „Deutschlandfunk“.

Archivfoto Kardinal Müller im Presseraum des Vatikans (c) Michael Hesemann

 

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