Bosnien und Herzegowina: Die Vergessenen

17. Juni 2020 in Weltkirche


25 Jahre nach dem Abkommen von Dayton blutet die katholische Minderheit aus


München-Wien (KIN)

Von Ivan Cigic, Catholic Radio und Television Network (CRTN)/Produktionsfirma von „Kirche in Not“ International

 

Vor 25 Jahren setzte das Abkommen von Dayton einen vorläufigen Schlussstrich unter den über drei Jahre andaurenden Krieg in Bosnien und Herzegowina. Vorrangig drei ethnische Gruppen leben in dem Balkan-Land: Bosnier, Serben und Kroaten. Obgleich sie auf dem Papier gleichberechtigt sind, fühen interne Spannungen und ausländischer Einfluss zu Ungleichgewichten: Die muslimischen Bosnier orientieren sich zunehmend an der islamischen Welt; die mehrheitlich orthodoxen Serben suchen oft den Schulterschluss mit Russland, während die katholischen Kroaten, die kleinste der drei ethnischen Gruppen, sich den eurpäischen Nachbarn zuwenden.

 

Von 1992 bis 1995 wütete der Krieg in Bosnien und Herzegowina. Schätzungen zufolge wurden mindestens 100 000 Menschen getötet und über zwei Millionen Menschen vertrieben. Obwohl alle Kriegsparteien einen schrecklichen Preis zahlten, gab es eine Gruppe, die am meisten gelitten hat und bis heute leidet: die Minderheit der katholischen Kroaten.

 

Noch heute sind viele kroatische Dörfer, die während des Krieges zerstört wurden, unbewohnt. Der kroatische Journalist Zvonimir Čilić berichtete dem weltweiten päpstllichen Hilfswerk „Kirche in Not“, dass alleine in seiner Heimatstadt Vitez, rund 80 Kilometer nordwestlich von Sarajewo, über 650 Menschen von bosnischen Muslimen getötet wurden - und all dies innerhalb von nur 316 Tagen. Mehr als 460 Witwen und 600 Waisen und Halbwaisen seien zurückgeblieben.

 

Die Brutalität gegen die katholischen Kroaten beruhte größtenteils auf einer radikalen islamistischen Ideologie, die von ausländischen Söldnern in das Land getragen worden ist. Diese Extremisten leben nach wie vor verborgen in den Außenbezirken der städtischen Ballungsgebiete.

 

Katholische Kroaten an der Rückkehr gehindert

 

Auch als die Kroaten nach dem offiziellen Ende des Krieges begannen, in ihre Heimatsdörfer zurückzukehren, fielen sie noch Terroranschlägen marodierender islamistischer Extremisten zum Opfer. „Sieben Menschen aus unserer Gemeinde wurden noch nach 1997 an ihren Arbeitsplätzen umgebracht, alles in der Absicht, die Vertriebenen von der Rückkehr in ihre Heimat abzuhalten”, erklärt Zvonimir Čilić. Bis zum heutigen Tage wurde keiner der Täter vor Gericht gestellt.

 

Ein weiteres Problem ist die Diskriminierung katholischer Rückkehrer im zivilen und religiösen Leben. Während die islamischen Gemeinden ihren Besitz nach Kriegsende zurückerhalten haben, wurden bis heute zahlreiche kirchliche Besitztümer immer noch nicht ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben. Auch entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben daran nichts geändert.

 

Das Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat und die hohe Arbeitslosigkeit von teilsweise über 50 Prozent sind die maßgeblichen Gründe für eine massive Auswanderung der jungen katholischen Kroaten. Nach Angaben von Vinko Kardinal Puljić, Erzbischof von Vrhbosna (Sarajewo), verlassen jährlich bis zu 10 000 Katholiken Bosnien und Herzegowina. Die Hauptstadt war vor dem Krieg Heimat von 35 000 Kroaten; heute hat sich diese Zahl halbiert.

 

Ideologischer Konflikt der arabischen Welt auf bosnischem Boden?

 

Auf der anderen Seite ist die Zahl der Zuwanderer aus der Türkei und den Golfstaaten in den vergangenen zehn Jahren rapide gestiegen. Laut eines 2017 erstellten Berichts des Europarates waren in den vergangenen zwanzig Jahren in Bosnien und Herzegowina 245 arabische humanitäre Organisationen tätig. Konservative Glaubensströmungen des sunnitischen Islam, mehrheitlich von Saudi-Arabien unterstützt, wetteifern mit dem schiitischen Islam, der seinen Rückhalt aus dem Iran bekommt. Sichtbares Zeichen ist die König-Fahd-Moschee in Sarajewo, seit dem Jahr 2000 das zweitgrößte muslimische Gotteshaus auf dem Balkan. Sie wurde mit Spenden und Geldern aus Saudi-Arabien errichtet.

 

Die zunehmende Radikalisierung ruft auch innerhalb der muslimischen Gemeinden Besorgnis hervor. Stipe Odak von der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften an der belgischen Universität Löwen erklärt, dass sowohl ein organisatorischer als auch ein ideologischer Kampf gegen die „importierten“ radikalen muslimischen Gruppen begonnen hat. Sie seien vor die Wahl gestellt worden, sich entweder in die bestehende Organisation der bosnischen islamischen Gemeinschaft zu integrieren oder sich aufzulösen – bisher erfolglos. Die Idee einer arabischen Hochburg im Westen, die von ausländisch geförderten fundamentalistischen Ideologien vorangetrieben wird, ist besonders besorgniserregend vor dem Hintergrund, dass Bosnien und Herzegowina Mitglied der Europäischen Union werden möchte. 

 

Es ist eindeutig, dass der Schlüssel zu einer gemeinsamen Zukunft im Dialog liegt, ist Professor Dzemaludin Latic von der Universität für Islamwissenschaften in Sarajewo überzeugt: „Wir müssen über unsere Ängste sprechen. Die katholischen Kroaten müssen die Schmerzen und die Angst der Bosnier verstehen. Wir Bosnier müssen als Mehrheit die Gefühle der Kroaten nachempfinden, die das Land verlassen. Wir müssen erkennen, was uns erwartet, wenn wir allein bleiben, ohne die Unterstützung der Kroaten für diesen Staat. Was können wir erwarten?“ Eine Frage, auf die auch 25 Jahre nach Kriegsende offen ist.

 

Foto: Zerstörtes Pfarrzentrum in der Diözese Mostar. © Kirche in Not


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