Selbstrechtfertigung seiner sündhaften Leidenschaften

20. Mai 2020 in Interview


Wie Luther die deutsche Philosophie beeinflusste und die Krise der Kirche bewirkte - Interview mit der am 4. Mai 2020 verstorbenen großen katholischen Philosophin Frau Prof. Dr. Alma von Stockhausen - Von Michael Hesemann


Düsseldorf (kath.net)

Frau von Stockhausen, Papst Benedikt hat gerade wieder erklärt, dass die Krise der Kirche eine Krise des Glaubens sei. Welche Rolle hat dabei Luther gespielt?

Eine entscheidende! Die Krise der heutigen Theologie ist bedingt durch die Philosophie, das sagte auch Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt. Eine falsche Philosophie liegt der Theologie zugrunde. Und was ist diese falsche Philosophie? Das ist die deutsche Philosophie. Und die deutsche Philosophie ist von Luther nicht nur beeinflusst, sondern hat bei ihm ihren Ursprung. Das sagt Heidegger von sich selbst: Ich mache nichts anderes, als Luther auf den Begriff zu bringen. Hegel versteht sich auch so.

Die Grundthese Ihres neuen Buches („Der Glaube allein - Luthers Theologie – eine Autobiografie“, Gustav-Siewerth-Akademie, Weilheim-Bierbronnen 2016)  lautet, dass Luthers Theologie ein Derivat seiner Biographie ist. Ich möchte aber mit Ihrer Biografie beginnen. Wie Sind Sie dazu gekommen, sich mit Luther zu beschäftigen?

Wir hörten als Kinder von unserer Mutter, dass unsere Großmutter katholisch geworden sei, obwohl ihre Familie, die Grafen Bernsdorff betont evangelisch waren. Mein Großvater machte die Politik für den König von Hannover, einen überzeugten Protestanten. Eine Tages sagte meine Großmutter: „Jetzt will ich doch einmal unseren Vater im Glauben kennenlernen, Martin Luther. Ich werde mir seine Schriften kommen lassen und sie lesen.“ Das tat sie. Und dann sagte sie zu ihrem Mann: „Was für einen Wahnsinn glauben wir? Ich muss sofort katholisch werden“. Großvater hat darauf geantwortet: „Dann lasse ich mich scheiden. Wenn die Religion nicht das Verbindende zwischen uns ist, wie soll dann ein gemeinsames Leben möglich sein?“ Großmutter antwortete: „Die Wahrheit ist die Wahrheit, ich werde katholisch.“ Großvater ließ sich nicht scheiden und Großmutter wurde katholisch.

Was hat Ihre Großmutter denn damals überzeugt, dass sie zum katholischen Glauben konvertierte?

Das Entscheidende war sicher, dass Gott böse sein soll. Luther überträgt ja das Böse auf Gott. Und das ist natürlich der Wahnsinn, von dem meine Großmutter gesprochen hat.

Was hat Ihnen in Sachen Luther die Augen geöffnet?

Ich habe mich mit Luther nicht nur aufgrund meiner Familienherkunft beschäftigt, sondern vor allem,  weil sich die deutsche Philosophie immer wieder auf Luther bezieht. Mein wichtigster Lehrer war zunächst Martin Heidegger, der sich stets auf Luther berief und sagte: Ich habe in meiner Philosophie keinen Schritt gemacht ohne Martin Luther. Heidegger war Sohn eines katholischen Küsters und ist später evangelisch geworden.

War Luther der Grund, weshalb Sie Philosophie studiert haben?

Meine Eltern waren beide Philosophen. Meine Mutter sagte mir immer, mein Philosophie-Unterricht habe mit zwei Jahren begonnen bei meinem Vater. So war das Studium praktisch vorprogrammiert.

Sie haben in Münster, München, Göttingen und Freiburg studiert. In Freiburg lehrten Sie dann auch – und machten gleich Ihre Erfahrungen mit der linken Studentenrevolte in den 1970er Jahren.

Als ich Dozentin in Freiburg war, war es für mich das Wichtigste, Karl Marx zu widerlegen. Das habe ich getan und dann passierte folgendes. Im Hörsaal waren 300 Studenten. Philosophie mussten alle hören, die auch Lehramtskandidaten waren; jeder Gymnasiallehrer musste ein Philosophicum nachweisen. Ich habe Marx dann an seinen Texten widerlegt, aber die Studenten ließen sich das nicht gefallen. Als erstes wurde mein Mikrofon heruntergetrampelt und dann wurde ich mit dem Lasso abgeführt. Sie riefen: „Die muss gebubackt werden!“ Buback war der Generalbundesanwalt, der damals von der „Roten Armee Fraktion“, einer linken Terrorzelle, ermordet worden war. Mein Assistent sprang mir zur Seite mit dem Regenschirm und hat das Lasso immer von meinem Hals abgehalten. Ich wurde dann zum Rektor geschleppt und der Rektor war nicht bereit, mich zu verteidigen. Zum Glück kam es nicht zu meiner Erschießung, sie ließen mich wieder gehen, aber eine Vorlesung konnte ich danach nicht mehr halten, das war ausgeschlossen. Da blieb mir nur noch übrig, eine private Universität zu gründen, und so habe ich dann die Gustav-Siewerth-Akademie in meinen Häusern im Schwarzwald gegründet. Dort kam ich mit den großen Luther-Kennern Dietrich Emme und Theobald Beer in Kontakt, deren Studien mir die Augen öffneten. Ich begriff, dass Luthers Theologie nur eine Antwort auf seine Biografie war: sein Versuch, die Verantwortung für sein Vorleben und seine fatalen Leidenschaften auf Gott zu schieben.

Als Schlüssel zum Verständnis der lutherschen Lehre erwies sich dabei seine Korrespondenz mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam. Worum geht es darin?

Es geht um den unfreien Willen. Luther schrieb ihm: „Du, Erasmus, hast mich allein richtig verstanden. Es geht mir nicht um Ablasshandel, Fegefeuer und Papsttum, sondern allein und in der Hauptsache um den geknechteten Willen. Nicht der arme Mensch ist schuldig, sondern der ungerechte Gott.“ Luther weiter: „Gott hat Adam lassen fallen, Gott hat Judas zum Verräter bestimmt, Gott ist böse und hat uns zur Perseität des Bösen geschaffen. Gott muss erst Teufel werden, bevor er Gott werden kann“, d.h. er muss seine Bosheit erst aus sich heraussetzen, zum Teufel machen, dann kann er Gott werden.

Also ist nicht der Mensch böse, sondern Gott?

Luther sagte: Nicht der arme Mensch ist schuldig, sondern der ungerechte Gott. Gott ist grausam und böse. Er hat seine Bosheit erst auf Christus abgewälzt und dann auf uns, so dass unser einziger Name, wie er sagt, die Sünde ist. Wir sind gewissermaßen zu Gottes Lasttier geworden, wir müssen böse sein. Ich verstehe Luther so, dass er immerzu beweisen will, dass er unschuldig böse ist. Er persönlich kann nichts dafür, er muss die Last der Bosheit Gottes tragen und deshalb immerzu „huren und morden“, wie er selber sagt. Wörtlich: „Selbst wenn ich am Tag tausend Mal hure und tausend Mal morde, das kann mich nicht von Christus trennen. Der Glaube allein rettet mich.“ Durch Christi Tod und Auferstehung sind wir erlöst. Er hat auch bei Luther die Funktion, die Welt vom Bösen zu erlösen.

Welche Rolle spielt bei Luther der Satan, der Widersacher?

Eine ganz zentrale. Er sagt ja, wir sind die Sklaven des Teufels und müssen jederzeit tun, was er uns sagt. In seinen Schriften hat man gezählt, dass der Teufel Tausende Male vorkommt, dass er sich immer wieder auf den Teufel beruft.

Welche Konsequenz hat es, wenn der Mensch keinen freien Willen hat?

Das ist der entscheidende Punkt der lutherschen Theologie. Mit dem freien Willen kann ich mich für oder gegen Gott entscheiden. Wenn ich jedoch, wie Luther glaubt, keine Freiheit habe, dann muss das Böse in der Welt von Gott kommen, dann bin ich prädestiniert zum Bösen. Für Luther wäre Gott ein Götze, wenn er uns die Freiheit schenken würde, denn dann könnte er nicht in weiser Voraussicht alles allein bestimmen, sondern müsste Rücksicht nehmen auf unsere Entscheidungen.

Welche Rolle spielt dann das Böse, wenn der Mensch sich nicht dafür oder dagegen entscheiden kann?

Das Böse ist die Eigenschaft Gottes, erklärt Luther. Und das ist konsequent, wenn er sich freisprechen will von seiner eigenen Schuld. Da kommt das biographische Element zum Tragen. Luther hat als Student, sicher ohne Absicht, einen Kommilitonen erstochen und ist daraufhin ins Kloster geflohen. Wenn er sagen will, dass er unschuldig ist, dann muss er eben sagen, dass das Böse durch die Prädestination, durch Gott, geschehen sei. Gott prädestiniert zum Bösen. Das wiederholt er oft.

Wie sind dann Reue, Vergebung und Gnade möglich?

Nach Luther sind sie unnötig, völlig unnötig. Reue und Vergebung sind Einsprechungen des Teufels, die gar keinen Sinn haben. Denn der Glaube allein, nicht unsere Werke machen uns laut Luther Christus ähnlich und schenken uns das ewige Leben. Gleich, was man tut, ob man mordet oder hurt oder immerzu flucht – nichts kann uns von Christus trennen, behauptet Luther.

Wenn der Mensch keinen freien Willen hat und darum auch keine Verantwortung für seine Sünden trägt, wofür ist dann Christus nach Luther am Kreuz gestorben?

Für die Sünde des Vaters. Luther sagt es so: Der Vater ist böse, er ist nicht unser Vater, er ist nicht nur unser Gegner, sondern auch der Gegner Christi, denn er hat Christus zum ersten Mal im Himmel getötet und dann noch einmal vor aller Augen auf Golgatha.

Wenn der Glaube an Christus allein genügt und der Mensch keinen freien Willen hat - heißt das nicht in letzter Konsequenz, dass ein gläubiger Mörder eher in den Himmel kommt als ein zweifelnder Samariter, dass dem Gläubigen praktisch alles erlaubt ist?

Er glaubt, dass die Hure eher in den Himmel kommt als ein Heiliger, denn die Hure ist nicht scheinheilig. Die Heiligen sind für ihn nur scheinheilig. Der Mensch kann ja gar nicht anders als zu huren, das ist ja seine Natur, glaubte Luther. Er muss es ja auch, Gott zwingt ihn dazu.

Offenbar hat er mit Huren mehr Erfahrung gehabt als mit Heiligen!

Er sagt ja, er würde in Gedanken tausend Mal am Tag huren. Und er sagt auch: Neben meiner Käthe habe ich drei andere im Arm. Und will das „Fraule“ heute nicht, nehme ich die Magd.

Luther lehrte die Rechtfertigung „allein aus dem Glauben" (sola fide) und lässt damit auch die Sakramente in den Hintergrund treten; sie sind bei ihm nicht mehr unbedingt notwendig zur Erlösung. Wird damit nicht auch die Kirche als Spenderin der Sakramente überflüssig?

Natürlich! Der Papst ist ja der größte Antichrist für Luther.

Aber auch die evangelische Kirche ist dann überflüssig!

Natürlich, es gibt ja nur das allgemeine Priestertum. ‚Wir sind ja aus der Taufe alle schon als Mann und Frau, als Priester, als Bischof, als Kardinal, als Papst gekrochen‘, lehrte Luther. Dann braucht man die Kirche nur noch, damit der Glaube vermittelt wird, aber nicht mehr für die Sakramente.

Im Endeffekt wollte er also eine rein theologische, keine sakramentale Kirche.

Eine sakramentale Kirche gibt es für Luther nicht mehr und die hierarchisch gegliederte Kirche auch nicht. Es gibt im Grund nur die Laien, das allgemeine Priestertum, wie er das nennt. Die können sich dann versammeln und sich gegenseitig die Sünden vergeben. Das Messopfer war für Luther „das größte Gräuel“. Mit der Aufhebung der Messe hat Luther wiederum das Papsttum aufgehoben. Wegen des „Gräuels der Messe“ würde es das Papsttum geben, das es überwacht, die Priesterweihe veranlasst usw., aber das brauche er alles nicht. Luther propagierte die vollkommene Auflösung der kirchlichen Hierarchie und des kirchlichen Priestertums.

Ist der Schlüssel zur heutigen Krise der Theologie, dem Verlust von Kultur und Moral, der Auflösung der Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft nicht die Preisgabe der sakramentalen Kirche?

Ja, ganz sicher, denn auch die Ehe ist für Luther ein „weltlich Ding“, das nicht vor Gott geschlossen wird. Seine eigene Ehe hat Luther in der Weise geschlossen, dass er beim Abendessen den Ringwechsel vollzog und seinen Freunden sagte: Hiermit heirate ich Katharina von Bora. Von jetzt an, bin ich gebunden, gefangen an meine Käthe. Aber wenn „Fraule“ nicht will, kommt die Magd, tröstete er sich.

Welche Konsequenzen hat es für eine Gesellschaft, wenn die Sünde zur Unvermeidbarkeit erklärt wird?

Die Auflösung der Familie und damit den Untergang der Gesellschaft.

Wie hat Hegel die Gedanken Luthers weiterentwickelt und wie hat Luther die Hegelsche Philosophie geprägt?

Hegel sagt: „Wenn die Theologen zu der Verzweiflung kommen, in Gott selbst das Böse zu sehen, dann bleibt nur noch die Flucht in die Philosophie“. Luther sieht in Gott selbst das Böse. Hegel will nun philosophisch zeigen, dass das Böse in Gott nur das „sogenannte Böse“ ist; an sich ist Gott gut. Wenn Gott böse sein soll als das umfassende höchste Sein, dann ist dieses Sein auch durch das Nicht-Sein charakterisiert, denn das Nicht-Sein ist die Weise, wie das Böse zu bestimmen ist. Das Böse ist immer das Zerstörerische, das nicht Gute. Also ist Gott nicht mehr nur die Einfachheit des unteilbaren Seins, sondern muss als eine Ganzheit von Teilen vorgestellt werden. Wenn Gott aber die Ganzheit von Teilen ist, dann muss Gott selbst sehen, wie er diese seine Teile erkennt. Und wie macht er das? Indem er seine Teile vor sich hinsetzt, evolviert. Gott setzt seine Teile vor sich hin und hebt sie im nächstfolgenden Schritt wieder auf. Es kommt also durch Negation der Negation zur Position, d.h. Entwicklung.

Wieweit ist Darwin mit seiner Evolutionstheorie von Hegel beeinflusst worden?

Nietzsche reflektiert darauf und sagt: „Ohne Hegel kein Darwin“, völlig zu Recht! Nietzsche weiter: „Aber der alte Mose hatte doch gesagt, du darfst nicht töten. Darwin aber sagt, du musst töten.“ Das ist, was Hegel mit seinem „durch Negation der Negation zur Position“ meint. Nietzsche bemerkt dazu: „Krieg ist das Geheimnis der Geschichte.“ Hitler hat sich auf Nietzsche berufen, als er den Zweiten Weltkrieg begann. Karl Marx zieht die letzte Konsequenz aus der Geschichte der Höherentwicklung durch Selektion. Wenn die Evolution die Weise ist, wie das Göttliche sich entwickelt, dann heißt das eben, dass die Natur Geist wird. Und wenn die Natur nun Geist geworden ist mit dem Menschen als Endglied der Entwicklung, dann kann der Mensch die Reproduktion der Evolution vollziehen.

Aber wird damit der Einfluss Luthers nicht überbewertet? Macht diese Interpretation nicht aus Luther ein fatales Genie, den Vater der Moderne?

Der Vater der Moderne ist er sicher. Er ist nicht ein Genie, aber er ist eben doch der, der das Böse auf Gott übertragen hat und damit in meinen Augen die potenzierte Wiederholung der Urschuld vollzieht: sie wollten sein wie Gott – oder, wie Guardini das übersetzt: „sie wollten sich an die Stelle Gottes setzen“. Wir haben uns mit der Evolutionstheorie an die Stelle Gottes gesetzt. Wird der Menschensohn noch Glauben finden, wenn er wiederkommt? Das ist wirklich unsere Situation.

Wie können wir diese unheilvolle Entwicklung aufhalten? Wie kann Luther in der Theologie und Philosophie überwunden werden?

Es muss gezeigt werden, dass Luthers Theologie nur seine Autobiografie ist, die Selbstrechtfertigung seiner sündhaften Leidenschaften durch Übertragung des Bösen auf Gott.

Danke, Frau Professor von Stockhausen.

 

Foto: (c) Michael Hesemann


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